Die Ampel und die Migration: Sehnsucht nach Angela Merkel

Ukrainische Flüchtlinge an der Grenze. Bild: manhhai, CC BY 2.0

Deutschland soll solidarisch sein, sagte die Regierung. Doch im Volk nehmen wirtschaftliche Sorgen zu. Drei Gründe für das Scheitern der Migrationspolitik. Ein Telepolis-Leitartikel.

Die Welt ist in Aufruhr wie seit über 100 Jahren nicht mehr. Was passiert, wenn geopolitische Blöcke ins Wanken geraten, kannten wir bisher nur aus den Geschichtsbüchern über die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Jetzt erleben wir eine solche Entwicklung in Echtzeit mit

  • dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine;
  • dem neuen Krieg in Israel, der schon vor Beginn der eigentlichen Kampfhandlungen und
  • einer israelischen Bodenoffensive mehr Opfer gefordert hat als der letzte wochenlange Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern im Jahr 2014 und sich deshalb zu einem Flächenbrand auszuweiten droht;
  • den Eroberungskriegen Aserbaidschans im Südkaukasus;
  • einem eskalierenden Konflikt zwischen den Großmächten USA und China.

All das hat konkrete Auswirkungen auch im Innern. Damit meine ich noch nicht einmal die Frage von Meinungsfreiheit und zunehmenden Eingriffen des Staates in die Redefreiheit und in die Freiheit der Medien, Stichworte: Desinformation und staatlich finanzierte "Faktenchecks". Ich spreche von einem anderen Phänomen, mit dem sich die Ampelregierung in jüngster Zeit verstärkt beschäftigen muss: der Migration.

23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben laut amtlicher Statistik derzeit in Deutschland. Hinzu kommen 13,4 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig gab es 168.500 Einbürgerungen. Wie man es dreht und wendet: Deutschland wird zum Einwanderungsland, dafür sprechen auch die Zahlen der Arbeitsmigration.

Ende 2022 waren in Deutschland rund 351 000 Personen aus Staaten außerhalb der Europäischen Union mit einem befristeten Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit im Ausländerzentralregister erfasst. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, ist die Zahl der Erwerbsmigrantinnen und Erwerbsmigranten, die aus Nicht-EU-Staaten zum Arbeiten nach Deutschland gekommen sind, seit 2010 (damals 85 000 Personen) stetig gestiegen.

Statistisches Bundesamt

All dies könnte als Bereicherung und Grundlage für einen neuen und dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung gesehen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Und das liegt an einer völlig verfehlten Migrationspolitik, die ja schon einem Grundsatz scheitert: der Unterscheidung zwischen Einwanderung und Asyl.

Fehler 1: Migration versus Sozialpolitik

Während die Zuwanderungszahlen nach Deutschland steigen und der Flüchtlingsdruck auf die EU-Außengrenzen zunimmt, geht es den Menschen in Deutschland objektiv schlechter. Neben externen Faktoren wie dem Krieg in der Ukraine und den Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland ist dafür auch die Sozialpolitik der Ampelregierung verantwortlich.

So warnte der Sozialverband VdK kürzlich vor einem drohenden weiteren Anstieg der Armut in Deutschland. "Im Moment stellen wir beim VdK fest, dass das Armutsrisiko weiter steigt", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele in einem Interview. "Wir finden es verheerend, wenn Politiker Vorurteile gegen arme Menschen schüren", fügte sie hinzu.

Die VdK-Präsidentin wies damit auf ein wesentliches Problem der derzeitigen Regierungskoalition hin. Während auf der einen Seite Verzicht und Solidarität für außenpolitische Ziele gefordert würden, setzten andere führende Kabinettsmitglieder die Benachteiligten im Inland unter Druck. Das sei nicht nur widersprüchlich, sondern politisch verheerend; auch, weil CDU-Chef Friedrich Merz mit migrationsfeindlichen Parolen zu punkten versucht.

Bentele führte als Beispiel an, dass "Bundesfinanzminister Christian Lindner infrage stellen, ob das Geld der Kindergrundsicherung, was man den Eltern überweist, tatsächlich bei den Kindern ankommt". Das muss in den Ohren der Betroffenen aus zwei Gründen wie Hohn klingen.

Zum einen weist selbst die amtliche Statistik aus, dass im Jahr 2022 jeder Vierte (24,0 Prozent) der unter 18-Jährigen in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sein wird – mit steigender Tendenz. Allein schon das stellt ein Staatsversagen dar.

Zum anderen erklärte Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auf ihre Ukraine-Unterstützung, während das Klima für die Menschen wirtschafts- und sozialpolitisch stetig rauer wird: "Wir Deutschen sind bereit, einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen." Eine bessere Vorlage hätte sich die AfD kaum wünschen können.

Fehler 2: Migration versus Fluchtursachen

Telepolis-Autor und Medienexperte Sebastian Köhler verwies mit Blick auf das Phänomen Migration unlängst schon auf einen permanenten Widerspruch: Migranten würden gerade aus der Mitte der Gesellschaft heraus als Hauptursache gegenwärtiger sozialer Spannungen gebrandmarkt.

Zugleich verweigere man sich von dieser Seite einer Debatte über die Ursachen von Migration. Köhler dazu:

Nicht z.B. der Kapitalismus als globales Weltwirtschaftssystem samt entsprechender staatlicher und supra-staatlicher (siehe EU) Standort-Konkurrenzen.

Nicht z.B. die damit verbundenen Kriege und Krisen, nicht z.B. verschärfte Verwüstungen und sonstige Extrem-Wetter-Phänomene durch die kapital-induzierte Klimakrise, nicht z.B. die Politik von EU, Bundesregierung und Landesregierungen etc.

Dabei werden Fragen nach Fluchtursachen und nach der Bekämpfung solcher Fluchtursachen praktisch gar nicht mehr gestellt – nicht mal mehr als rhetorische Beruhigungspille. Noch weniger, falls sich das steigern ließe, wird nach "radikalen", also an die Wurzel der Übel gehenden Lösungen gesucht.

Sebastian Köhler, Migration: Auf der Flucht in eine Verschwörungserzählung?, Telepolis, 26.09.2023

Es ist eine Binse, dass Fluchtursache Nummer eins die Verwüstung durch Kriege und Krisen ist. Eine naheliegende Schlussfolgerung wäre, sich im Sinne von Frieden und Wohlstand für ein Ende der laufenden Konflikte einzusetzen.

Die Bundesregierung aber hält an einer entgegengesetzten Politik fest: Denn während nach Angaben des Statistischen Bundesamtes derzeit knapp 1,01 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland Zuflucht gefunden haben – nur ein Teil von ihnen in Arbeit, aber alle asyl- und damit sozialpolitisch privilegiert – gibt es keine Initiative oder auch nur Perspektive, den Ukraine-Krieg in absehbarer Zeit zu beenden.

Und nun stehen auch noch im Nahen Osten die Zeichen auf Sturm. Im Gazastreifen sind gut eine Millionen Menschen auf der Flucht, bald könnten es zwei Millionen sein. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich der Konflikt über die Grenzen von Israel und Casa ausweitet.

Vertreter Ägyptens als einziges unmittelbares Fluchtland für die Menschen in Gaza haben eurozentrische Forderung, unter anderem der SPD, bereits zurückgewiesen, das Land solle diese Flüchtlinge aufnehmen und erwidert, man könne sie ja nach Europa weiterschicken.

Fehler 3: Migration versus Solidarität

An dieser Stelle eine persönliche Anmerkung, ich hatte es eingangs schon erwähnt: Migration kann auch eine Bereicherung sein. In meinem Dorf in der deutschen Provinz erlebe ich das täglich. Ich kenne eine syrische und eine ukrainische Familie, beide mit Kindern in der örtlichen Kita und Schule.

Diese beiden und andere Migrantenfamilien sind gut integriert - soweit das angesichts von Flucht und Vertreibung, womit Betroffene unterschiedlich umgehen, überhaupt möglich ist.

Aber wichtig ist: Niemand in der unmittelbaren und weiteren Dorfgemeinschaft fühlt sich durch diese Familien gestört, überfordert oder gar bedroht. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass die Zahl der Migranten gut zu integrieren ist, was Verständnis und Solidarität schafft.

Ich weiß aber auch, dass dies die Ausnahme ist. In vielen, zu vielen Fällen werden Containersiedlungen ohne Rücksprache mit den Menschen vor Ort errichtet. Den Einheimischen werden Flüchtlinge vor die Nase gesetzt, die Flüchtlinge haben Einheimische vor der Containertür, die sie nicht haben wollen. Diese undemokratische Gestaltung der Integrationspolitik geht einher mit einer arroganten, bevormundenden Kommunikation: "Wir sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen".

Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 sagte: "Wir schaffen das!", wurde sie dafür von vielen Seiten gescholten und erst spät gelobt.

Im Rückblick ist klar: Es war ein angemessener Umgang mit dem Thema Migration, angemessener jedenfalls als der Umgang der Ampel-Koalition mit dem Phänomen.

Merkels Satz hat etwas Fürsorgliches: Wir wissen, dass ihr euch Sorgen macht: Macht euch keine Sorgen. Dem konnte man zustimmen oder nicht. Aber es hatte etwas Einschließendes, etwas Gemeinschaftliches und damit Menschliches.

Das ist vorbei. Die Ampelregierung betreibt eine wirtschaftsliberale Politik, in deren Folge die Armen ärmer werden, worauf Sozialverbände nicht müde werden hinweisen.

Gleichzeitig wird von Sozialdemokraten und Grünen eine Solidarität eingefordert, für die sie keine Basis schaffen und für die sie nicht werben. Und wer ihnen nicht folgt, wird ausgegrenzt und diffamiert.

Diese regierungsideologische Gemengelage in Verbindung mit der schwersten geopolitischen Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird das Land verändern. Und nicht zum Besseren.

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