"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"

Seite 10: Rechtsverletzende Strategien

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Olaf Arndt: Welches Mittel, diesen Zustand der Abweichung zu korrigieren, haben wir denn eigentlich? Kann da eine kritische Kriminologie einen Beitrag leisten? Oder brauchen wir eine völlig andere Widerstandsform gegen solche Verwerfungen?

Fritz Sack: Die kritische Kriminologie - so kann man es auf den Nenner bringen - nimmt nicht Kriminalität zum Ausgangspunkt, sondern Prozesse der Kriminalisierung. "Kriminalisieren" heißt, von sich aus nicht die Anwendung von Regeln, sondern die Setzung. Mit einem Urteilsspruch oder auch mit einem polizeilichen Intervenieren in gesellschaftliche Abläufe werden neue Wirklichkeiten etabliert. Neue Wirklichkeiten geschaffen. Und nicht die Anwendung von Regeln observiert oder sanktioniert. Also das, was viele Leute nicht so akzeptieren können und nicht akzeptieren wollen: Dass mit der Intervention eines Polizisten ein Eingriff und eine Etablierung und eine Setzung von Wirklichkeit und nicht eine Sanktionierung von Wirklichkeit passiert. Also die konstitutive Bedeutung, die polizeiliches Handeln hat, das ist keine Reaktion auf eine Wirklichkeit, sondern eine Schaffung von Wirklichkeit.

Olaf Arndt: Und damit ein eminent wichtiges Werkzeug zur Gestaltung von Gesellschaft?

Fritz Sack: Ja. Wenn man das so akzeptiert, kriegt man natürlich einen ganz anderen Blick auf das, was Polizei ist, was Polizei macht und wofür Polizei da ist.

Es wird ja auch oft von der Definitionsherrschaft gesprochen in Bezug auf Polizei oder in Bezug auf Gerichte oder in Bezug auf Agenten oder irgendwelche staatlichen Akteure. Daran sehen wir, was das genau bedeutet, "Die Herrschaft über die Wirklichkeit". Das die Wirklichkeit nicht etwas ist, das vorgegeben ist, was gewissermaßen greifbar ist, abrufbar is, sondern etwas ist, was kreiert werden muss.

Zu deiner Frage: "Welche Rolle hat eigentlich die Kritische Kriminologie?" Meiner Meinung ist das nach wie vor ein geeigneter und auch überzeugender Ausgangspunkt für kritische Arbeit, diesen Prozess zu dekodieren, ihn aufzuweisen. Da sträubt sich natürlich vieles.

Als "Protest und Reaktion" publiziert wurde, da hat mich mal die Polizei eingeladen. Da sollte ich meine Thesen vorstellen. Ich weiß das noch: Das war ein völlig abgedunkelter Raum - ich konnte gar nicht sehen, wer da so vor mir saß und wer alles zugegen war. Jedenfalls: Die größte Akzeptanz von kritischer Kriminologie findet man bei der Polizei.

Olaf Arndt: Warum?

Fritz Sack: Mir begegnet das immer wieder. Polizeiliche Studiengänge sind ja eingebettet in Fachhochschulen, die insgesamt staatliche Ausbildungsgänge organisieren. Reinhard Mokros, der Präsident der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen, der auch Polizeidirektor ist und lange Zeit im Straßen- und Strafvollzugsdienst tätig war, der signalisiert mir immer wieder, dass er mich und meine Position versteht.

In Bezug auf die G20-Geschichte versorgt er mich ständig mit Informationen, wo dieser rechtsverletzende Charakter und die "rechtsverletzenden Strategien" der Polizei offenbar sind und explizit ausgesprochen werden.

Olaf Arndt: Und mit welchem Ziel versorgt er dich damit?

Fritz Sack: Er ist sehr engagiert, die Menschenrechtsausbildung in der Polizei zu forcieren. In den Grenzen, die er als Polizist beachten muss.

Eine schon lange währende Diskussion ist ja, dass man Gewalt gewissermaßen nur als individuelle physische Gewalt interpretieren soll, und strukturelle Gewalt - wie das Johan Galtung versucht hat, in die Debatte einzubringen - strukturelle Gewalt war ja mehr oder weniger soziologisch und kriminologisch diskreditiert. In einem aktuellen Aufsatz in "Mittelweg" von Peter Imbusch, da findet eine Rehabilitation des Begriffs der Strukturellen Gewalt statt. Um auf diese Weise auch die gesellschaftlichen Ursachen und Prozesse der Entstehung von individueller Gewalt wieder spruchfähig zu machen, den Begriff der Strukturellen Gewalt für die Bearbeitung dieser Geschichte wieder zu mobilisieren. Was ich auch völlig richtig finde.

Friedhelm Neidhardt9 hatte damals polemisiert gegen den Begriff der Strukturellen Gewalt, und hat sich mehr verstanden als "gesellschaftssanitärer" Sozialforscher. Übrigens ein Begriff von BKA-Präsident Horst Herold.

Wirklichkeitsdefinierer werden

Olaf Arndt: Fritz, ich möchte an diesem Punkt noch einmal zu Deiner Idee von Widerstand zurückkommen - welche Widerstandsformen hältst Du angesichts solcher Techniken und Strukturen für heute noch möglich und wirksam?

Dazu ein letzter kurzer Rückblick auf 1968: Peter Brückner spricht in seinem Text "Die Transformation des demokratischen Bewusstseins" in Bezug auf die 68er Zeit von einer Phase der "Rebarbarisierung". Das Wiedereintreten des Barbarischen setzt ja voraus, dass es vorher nicht barbarisch zuging. Sagen wir, in dieser kurzen Zeit zwischen 1945 und 1968 war es weniger barbarisch als davor. In der Nachkriegszeit wurde das Grundgesetz geschrieben und es gab Regeln, an die man sich gehalten hat. Der emanzipative Prozess, der '68 stattgefunden hat, bedeutete so etwas wie eine Selbstermächtigung des Bürgers ... er hat das Bewusstsein installiert, dass man sich selber ermächtigen kann. Wenn Dinge schieflaufen, kann und muss man etwas dagegen unternehmen.

Ich glaube, das ist genau das, was André Poggenburg von der AfD angreift mit seiner Forderung, dass die Errungenschaften der 68er Generation Schritt für Schritt rückabgewickelt werden müssen. "1968" steht dafür, dass die Fassade herunter gerissen wurde, dass öffentlich gezeigt wurde: Die ganze faschistische Struktur ist noch aktiv hier!

Es ist daher nicht vollständig überraschend, dass ein Vertreter einer neorechten Organisation diesen Vorgang rückabwickeln möchte. Aber es ist natürlich interessant, dass das erste Mittel, die Rückabwicklung zu erreichen, die Vernichtung der Wahrhaftigkeit ist. Da wird mit Begriffen hantiert, doch man meint das Gegenteil. Neue Zuschreibungen zu Begriffen finden statt. Am Ende bist du an einem Punkt angekommen ...

Fritz Sack: ... wo du nicht mehr weiterkommst.

Olaf Arndt: ... wo keiner mehr jemandem Gehör schenkt, weil er nichts mehr glauben kann. Weil die Widersprüche zwischen solchen Durchführungsvorschriften und dem eigentlich behaupteten demokratischen Regelsystem so eklatant sind, dass es überhaupt nicht mehr zusammenpasst. Was für eine Widerstandform gibt es dagegen? Wie geht man denn damit um?

Fritz Sack: Dich in dieses Getümmel hineinbegeben und dich selbst als Wirklichkeitsdefinierer zu betätigen. Du musst irgendwie versuchen, Gesinnungsgenossen oder Gemeinschaften zu etablieren, die das dann teilen. Und auf diese Weise Macht, Einfluss und Definitionsherrschaft erreichen. Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass das gelingt, das kann man nur erproben.

Andreas Reckwitz8 hat dafür einen bestimmten Begriff: Er spricht von "Valorisieren". Dinge zu valorisieren, zu sagen, wie man bestimmte Rechtsgüter oder bestimmte Verhaltensweisen, bestimmte Situationen hierarchisiert oder eben "valorisiert" werden. Valorisieren ist ein Begriff, der gehört in die Definitions- und Konstitutionslogik und Konstitutionsstrategie hinein. Bei ihm ist das ein ganz zentraler Begriff: Valorisieren auf ästhetischem Gebiet, Valorisieren auf wissenschaftlichem Gebiet oder auf ...

Janneke Schönenbach: ... gesellschaftlichem Gebiet ...

Fritz Sack: Ja. Valorisierungsprozesse, das sind im Grunde gewissermaßen die Atome von gesellschaftlicher Interaktion, sozusagen Urphänomene, Urprozesse, die da ablaufen. In seinem neuen Buch versucht Reckwitz nachzuzeichnen, wie sich solche kulturellen Werte etablieren. Unser Strafrecht und die institutionellen Apparate, Polizei und Gericht, die hängen natürlich an solchen Valorisierungsprozessen.

Die Essenz von Polizei ist Gewalt

Olaf Arndt: Und die Angst vor Gewalt, und hier schließt sich die Runde zum autoritären Staat am Anfang, die Angst vor Gewalt ...

Fritz Sack: Ich weiß gar nicht, ob es so viel Angst vor Gewalt überhaupt gibt. Die Leute, die Gewalt anwenden und Gewalt trainieren, die haben ja keine Angst vor Gewalt. Das sind Berufsgewalttätige.

Es gibt ja viele Versuche, Polizei zu definieren. Was ist die Essenz von Polizei? Und es gibt einen amerikanischen Polizeitheoretiker, Egon Bittner, der hat konsequent polizeiliches Alltagshandeln als Gewalt bezeichnet. Die Essenz von Polizei ist Gewalt. Gewalt auszuüben und Gewalt zu platzieren. Das gilt in demokratischen und in autoritären Staaten, überall, wo du Polizei hast. Deshalb finde ich dieses Predigen der Gewaltlosigkeit sowas von ... na, wie sagt man noch ?

Olaf Arndt: Bigott?

Fritz Sack: Ja, bigott. Weil man etwas fordert, das essentiell gar nicht möglich ist.

Moritz Kerb: Wenn ich dich mal zitieren darf aus deinem Buch "Protest und Reaktion": "Der routinemäßige und professionelle Umgang mit Gewalt desensibilisiert Polizei dafür, welche normalen Reaktionen Gewaltausübung, Angst vor Gewalt und Gewaltübermacht auslösen." Meine Frage - vor dem Hintergrund des G20 und dieser exzessiven Gewaltanwendung: Wenn jemand nicht mehr merkt, was er da tut, weil er völlig desensibilisiert ist, sind solche Polizeibeamten eigentlich berufsunfähig versehrt?

Fritz Sack: Ja.

Moritz Kerb: Ist Dudde gemeingefährlich?

Fritz Sack: Natürlich sind sie gemeingefährlich.

Moritz Kerb: Das ist das Tabu.

Olaf Arndt: Das ist das Tabu, dass nie gebrochen wird. Das darf nicht angesprochen werden, oder?

Fritz Sack: Ja.

Extremismus der Mitte

Olaf Arndt: Es gibt ja diese kleine Anfrage von der Linken, von 2015, von Christiane Schneider.

Fritz Sack: Die von der Hamburger Linken ...

Olaf Arndt: Ja. "Eskalation und Rechtsverstöße unter der Einsatzleitung von Hartmut Dudde". Da wird nochmal kurz aufgerollt, dass er unter dem Rechtspopulisten-Innensenator Schill Karriere gemacht hat. Dass es einen Brandbrief einiger Polizeiführer gegen den "diktatorischen Führungsstil" und das Kartell des Schweigens unter der Führung von Peter Born und Hartmut Dudde gäbe.

In Medienkommentaren wird Dudde, Zitat, als "Überzeugungstäter" bezeichnet, der genau wisse, was er nicht dürfe, und es dennoch tue. Entscheidend sollen dabei die Ereignisse während des NPD-Aufmarschs am 07. Februar 2015, eine Woche vor der Bürgerschaftswahl, gewesen sein. Nachdem Gegenkundgebung und Protest ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen waren, soll die Gesamteinsatzleitung unter Dudde angeordnet haben, dem NPD-Lautsprecherwagen den Weg durch die angemeldete und noch laufende Antifa-Kundgebung zu bahnen. Was dann auch zu völlig unnötigen und erwartbaren Auseinandersetzungen geführt hat. Und weil es eine Woche vor der Bürgerschaftswahl war, wurde dies von den Medien als "Wahlkampfhilfe für Hardliner" bezeichnet.

Faktisch hatte er drei Wege, die er hätte gehen können. Er hat sich aber entschieden, mitten durch zu gehen. Dazu fällt mir Wolfgang Kraushaar und der "Extremismus der Mitte" ein. Kraushaar hatte den Begriff "Extremismus der Mitte" neu definiert, um zum besseren Verständnis beizutragen des Zusammenwirkens von "verdeckt ablaufenden institutionellen Beziehungen zwischen Behörden und rechten Gewalttätern". Als jetzt im Nachgang zu den Vorfällen im Schanzenviertel sich offenbarte, dass zahlreiche Neofaschisten randaliert hatten und die Rolle der V-Leute nicht aufzuklären gewesen sei, da liegt natürlich der Verdacht nahe, dass die Zuschreibung, das wäre linke Gewalt gewesen, absichtlich gewählt wurde, um abzulenken davon, was möglicherweise tatsächlich gelaufen ist. Und dass man sein eigentliches "Interesse" geschützt hat durch die Realität, die man erzeugt.

Das ist natürlich dann interessant, wenn man weiß, dass das Vorgehen des Gesamteinsatzleiters gegen Linke mehrfach gerichtlich als rechtswidrig eingestuft wurde und wenn man dann erinnert, wie das beim NSU-Komplex gelaufen ist, insgesamt, als Struktur die den gesamten Staat und nicht nur Hamburg und Herrn Dudde betrifft, dann fragt man sich, was da los ist - woher diese Blindheit auf dem rechten Auge kommt? Das unterstellt keine generelle Kongruenz in den Zielen. Aber so, wie Kraushaar den Begriff neu auffüllt, verweist er auf eine mögliche Komplizenschaft zwischen Politik, gesellschaftlicher Mitte und rechter Gewalt.

Fritz Sack: Genau das ist der Extremismus der Mitte.

Der Druck auf die Leberwurst

Moritz Kerb: Hier würde ich gerne mal einhaken. Wieder aus "Protest und Reaktion". Da hast du geschrieben: "Man kann die Vorgänge vom 02. Juni 1967 nicht verstehen, wenn man nicht davon ausgeht, dass es ein verborgenes Curriculum gegeben hat." Wie konstituiert sich denn ein "verborgenes Curriculum"?

Fritz Sack: Eine zentrale Rolle, damals am 02. Juni, um das zu eskalieren, hatten bekanntlich die Jubelperser. Die Jubelperser, die einen privilegierten Platz hatten zum Geschehen selber und wo Leute vom persischen Geheimdienst mit Dachlatten ausgestattet worden waren. Die Tatsache, dass die so platziert waren, dass sie auf Studenten eindreschen konnten - und auch eingedroschen haben -, das war eine Eskalationsgeschichte, die sich eigentlich durch den ganzen Tag gezogen hat.

Andere Details, die ich auch mit hinzugezogen habe, die rechtfertigen den Schluss, dass das, was da passiert ist, auf Grund von Manipulationen der Situation und der Örtlichkeit geschehen ist, um genau diesen Prozess der Gewaltanwendung zu erzeugen. Und ihn genauso zu erzeugen, dass man ihn handhaben kann. Erich Duensing, das war der Polizeipräsident von Berlin, der hatte ja diese schöne Metapher erfunden von der Leberwurst, die man in der Mitte drückt und an den Seiten kommts heraus. Da stehen dann alle und können absahnen.

Der Kampf gegen Links

Moritz Kerb: Das, was du jetzt grade beschrieben hast, das finde ich noch nicht mal besonders verborgen. Das war sogar relativ deutlich, dass die Polizei nicht eingeschritten ist bei den Prügelpersern. Du gehst in deinem Buch nochmal ein auf Einsatzanweisungen, die nie schriftlich festgelegt, sondern die Hierarchie runter hinunter nur telefonisch weitergegeben wurden, und erst vom Untersuchungsausschuss wieder freigelegt wurden. Steht alles im Buch. Der verborgene Charakter.

Was ich grade noch gedacht habe, als du von der AfD gesprochen hast und über "diese Linksversifften", die endlich mal weg müssten, wie die AfD ja sagt, ob diese ganze G20-Geschichte und diese Verselbstständigung von Polizei, diese neue Qualität von Polizeigewalt, ob das ein gesamtgesellschaftliches Zeichen ist für etwas. Wenn ich mir die Tradition der Polizei angucke, z.B. das Bremer Polizeibataillon, was sehr brutal eingesetzt war in der Partisanenbekämpfung im Osten, die sind alle nahtlos wieder in den bundesdeutschen Polizeidienst übernommen worden. Die Polizei war damals noch eine militarisierte Polizei. Es gab ganz lange noch bis in die 50er.

Sind Politik und Polizei auf dem rechten Auge blind? Wenn wir uns vergegenwärtigen, was in Rostock los war, wie lange es da ausländerfeindliche Ausschreitungen gegeben hat: über Tage! Da ist keine kasernierte Bereitschaftspolizei mobilisiert worden - tagelang nicht.

Fritz Sack: Das jährt sich jetzt grade. Lichtenhagen ...

Moritz Kerb: Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Tote es durch faschistische Gewalt gegeben hat seit 1990 und wie das kleingeredet wird. Wenn ich mir angucke, wie viele Angriffe auf Asylbewerberheime in den letzten Monaten stattgefunden haben. Wenn ich das in Relation setzte zu der ewig beschworenen "linken Gewalt", dann sind das alles schon deutliche Zeichen. Aber für was, weiß ich nicht. Wird jetzt der Kampf gegen das "Linksversiffte" aufgenommen? Jetzt? Ist das ein Fanal, der G20-Polizeieinsatz?

Fritz Sack: Der Kampf gegen die Linken aufgenommen? Der war doch immer im Gange, oder?