"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"

Seite 6: Wer sind die "wirklich Gewaltbereiten"?

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Olaf Arndt: Genau. Es ist ja inzwischen interessanterweise so, dass es auf politischer Ebene oder, wenn es um die Erweiterung der EU geht, kaum noch eine Debatte gibt über Verstösse gegen das Menschenrecht, die Figuren wie Erdogan verkörpern, und gegen die sich ja ein Großteil der Proteste inhaltlich richtete. Das wird im Vergleich zum mediengängigen "Krieg in der Schanze" praktisch überhaupt nicht mehr thematisiert.

Diese abgedrängte Seite, die kam in der Demonstration relativ häufig vor, in Form von Transparenten und Schildern, wo draufstand: "Die Gewaltbereiten tagen jetzt in den Messehallen." Diese Debatte war nach der Eskalation am Donnerstagabend, die man nun sehr wohl als strategisch bezeichnen muss, faktisch ersetzt durch "Die Demonstranten sind alle gewaltbereit!" Die Eskalation ist, wie Martin Kirsch von der "Informationsstelle Militarisierung" in seinem G20-Analyse-Papier schreibt, unvermeidlich, "weil die Militarisierung der staatlichen Bekämpfung von Unruhen schon stattgefunden hat".

Das gleiche meint Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde, wenn er sagt: "Wir werden das gesamte Polizei-Equipment hier in Hamburg sehen. Wenn es geht, möglichst zurückhaltend. Wenn wir es komplett brauchen, packen wir es eben aus." Wie eine Drohung: "... dann packen wir es eben aus."

Die Militarisierung der Polizei ... ich möchte dabei an Otto Schilys Konzept der "European Riot Police" erinnern. Da sind wir heute schon angekommen. Nicht so sehr von der Ausrüstung her, doch es gibt keinen größeren Einsatz mehr im Innern ohne z.B. österreichische oder französische Beteiligung.

Wir haben uns die letzten fünfzehn Jahre immer wieder mit modernem und künftigem Polizeiequipment beschäftigt. Trotz solcher Pläne und tatsächlich vorhandener Innovationen ist alles, was man auf der Straße sieht, Anwendung von konventioneller Gewalt. Mittelalterlich anmutende Durchführung militärischer Strategien. Schildkrötenformationen laufen wie beim Stürmen einer Burg in eine Horde von Demonstranten. Eine Hundertschaft geht rein, in der Mitte haben sie die Schilder oben, und außenrum haben sie die Schilder alle seitlich, und preschen vor. Keine Taser, kein "active denial system" (eine Art Schmerzfernstrahler), nur Knüppel und Pfeffergas.

Max Horkheimer soll kurz vor seinem Tod (1973) gesagt haben: "Das Gewissen der Leute" - damit meint er die Menschen in diesem Land - "ist nicht mehr wirksam genug, so etwas wie eine ökonomische oder staatliche Ordnung zu sichern. Und die Polizei ist dazu noch nicht stark genug."

Es drängt sich der Eindruck auf, dass, um eine ökonomische und staatliche Ordnung zu sichern, die Polizei immer mehr in den Vordergrund geschoben wird. Wenn man sich anschaut, was auf den von der Fraunhofer-Gesellschaft organisierten Konferenzen für "nicht-tödliche" Waffen vorgezeigt wird ... da findet man die aberwitzigsten Vorschläge für polizeilich-militärische Wirkmittel wie Klebeschaum, lähmender Strom, der sich über zuvor versprühte feine Aluminiumflocken ausbreitet, auf 500 Meter personengenau richtbare, "Maximalschmerz" erzeugende Mikrowellenprojektoren und Ultraschall und was sie nicht alles ausprobieren zur Niederschlagung von Krisenprotesten.

In einer Ankündigung der Fraunhofer-Konferenz heißt es: "Auf der Basis der bisher gesammelten Einsatzerfahrungen sollen Fähigkeitslücken geschlossen werden." "Fähigkeitslücken" - das finde ich einen hochinteressanten Begriff. Im Anschluss an Horkheimer wäre zu fragen: was sind die gesellschaftlichen Konsequenzen von so einer Entwicklung? Reicht nicht die ganz einfache physische Gewalt - vielleicht mit der entsprechend novellierten PDV dazu?