"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"
Seite 5: Vermummung
- "Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"
- Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sind kommunizierende Röhren
- Lizenz zur Gewaltanwendung
- Strategien der Eskalation
- Vermummung
- Wer sind die "wirklich Gewaltbereiten"?
- Der Terror der Gewaltdebatte
- Gewalt und Gegengewalt
- Neue Technologien - neue Formen der Gewalt
- Rechtsverletzende Strategien
- Auf einer Seite lesen
Olaf Arndt: Wir haben in den Tagen nach dem G20 viele Presseartikel und Verlautbarungen aller Seiten gelesen. Wir haben versucht, eine Liste von Begriffe aufzustellen, um die herum sich die Debatte entzündet hat. Ein zentraler Begriff ist "Militanz", daneben der oft, es scheint fast vorsätzlich missverstandene Begriff der "Hölle", wie in "Welcome to Hell", "Repression", "Krawall", "Meinungsvielfalt", "Meinungsfreiheit", "Vermummung" ...
Fritz Sack: ... die Geschichte der Vermummung. Meiner Meinung nach wird das viel zu wenig thematisiert. Die Vermummung von Seiten der Demonstranten ist eine Antwort auf die schwierige Identifizierbarkeit der Polizisten, weil die alle unerkennbar in ihrer Uniform stecken.
Die Untersuchung der juristischen Verarbeitung 1968 hat erwiesen, dass die meisten Anklagen und die meisten Anzeigen, die gegen die Polizei vorgebracht worden, von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden sind wegen Nicht-Identifizierbarkeit der konkreten Personen. Die Polizisten sind nicht zu identifizieren, weil sie dir nur als Maske begegnen. Die Studenten haben daraus die Vermummung gemacht. Sie haben sich gewehrt, indem sie sich auch in Unkenntlichkeit präsentiert haben.
Mir fällt dazu etwas ein. Unsere Nachbarn, das ist ein Architekten-Ehepaar, die mit solchen Dingen überhaupt nichts zu tun haben, die kommen beide aus der DDR, irgendwo aus Mecklenburg-Vorpommern, und mit denen sind wir so ein bisschen befreundet und bekannt, und die erzählten uns eine eigentlich unglaubliche Geschichte: Ein Jugendlicher, Sohn von guten Freunden von ihnen aus Hamburg, der ist bei diesem Geschehen dabei gewesen. Er hat sich in Straßenkleidung, in ganz normalem Aufzug, an der Demonstration beteiligt. Er ist dann bei einer dieser wilden polizeilichen Aktionen festgesetzt worden, wurde arretiert, ist mit auf die Wache gekommen, und auf der Wache haben sie ihn angeblich gezwungen, dass er eine Maske über den Kopf zieht. Damit ist er fotografiert worden von der Polizei. Mit dieser Maske. Damit haben sie nun einen Beleg dafür, dass sie ihn ...
Olaf Arndt: ... vermummt gefasst haben?
Fritz Sack: Hört sich unwahrscheinlich an ... aber : ja!
Janneke Schönenbach: So unwahrscheinlich oder unmöglich nun wieder auch nicht. Man rechnet damit, aber es bleibt natürlich ungeheuerlich.
Olaf Arndt: Der behördliche Aufwand, ihn in die Gefangenensammelstelle oder die Wache zu transportieren, muss ja durch irgendwas gerechtfertigt werden. Sie können ihn ja dann nicht umstandslos wieder freilassen, weil nichts vorliegt ...
Janneke Schönenbach: Eigentlich ziemlich das Gleiche wie mit den Marihuanabeutelchen ... es geht ja schnell und ist später nicht mehr aufzulösen.
Fritz Sack: Ja. Bei einem Plastikbeutelchen, da hast du den Akt des Hineintuns natürlich nicht dokumentiert. Das ist einfach da drin. Aber hier ...
Janneke Schönenbach: Nach der Logik, die Du geschildert hast, wird der junge Mann, falls er überlegen sollte, irgendwann mal mit dieser Geschichte in die Öffentlichkeit zu gehen, sicherlich viele Zeugen gegen sich haben, so dass kaum Chance besteht, damit vor Gericht durchzukommen.
Fritz Sack: Ob er überhaupt Zeugen für seine Version hat, und ob die im entscheidenden Moment auch verfügbar sind, das weiß man natürlich nicht.
Janneke Schönenbach: Sicher werden sie es so angestellt haben, dass es nicht im Beisein von anderen Gefangenen geschehen ist, die als Zeugen dienen könnten.
Produktion von Verdächtigen
Moritz Kerb: Interessant finde ich in dem Zusammenhang, dass sie, obwohl es ja angeblich so viele militante und vermummte Demonstranten gab - tatsächlich oder vermeintlich vermummte, wer will das entscheiden? -, dass sie da noch darauf zurückgreifen müssen, Tatverdächtige quasi zu produzieren.
Fritz Sack: Dass sie Tatverdächtige produzieren müssen?
Moritz Kerb: Tatsache ist, dass es ja nicht mehr als 225 Ingewahrsamnahmen insgesamt gab. Eigentlich erstaunlich wenig vor dem Hintergrund dessen, was in Hamburg passiert ist. Es gibt daher viele Leute, die meinen, Aufgabe der Polizei sei es gar nicht gewesen, Straftäter festzunehmen. Aufgabe der Polizei sei es gewesen, Leute zu verletzen und die Demo zu zerschlagen und nicht, Strafverfolgung zu betreiben. Deswegen: Es wird ja dauernd von 1000 Vermummten geredet - die sie aber alle gar nicht festnehmen wollten ...
Fritz Sack: Es gibt ja durchaus konzertierte Versuche im Sinne von alternativen Ermittlungen, von Gegenermittlungen. Im Haus der Demokratie an der Greifswalder Straße, wo die Humanistische Union sitzt, hat es kürzlich eine entsprechende Veranstaltung gegeben. Weitgehend linke Leute, auch Vertreter der Gewerkschaft waren anwesend, vom RAV - dem Republikanischen Anwaltsverein - sind einige Dinge zusammen getragen worden und man hat überlegt, wie man damit weiter umgehen kann.
Spaltung
Olaf Arndt: Ich komme noch mal zurück auf unsere in den Medien gesammelten Stichworte. Da kursiert der Begriff "radikal" in zwei Lesarten, einmal pejorativ, und dann aber auch affirmativ, als Bekenntnis und zwar in dem Sinne, wie die Leute von der Roten Flora in Bezug ihre angebliche Beteiligung an der Eskalation gesagt haben: "Wir sind zwar radikal, aber nicht bekloppt."
Daneben steht das von den Demonstranten aufgebrachte Stichwort "Krieg", das von der bürgerlichen Presse ganz umstandslos, einfach durch Entkontextualisierung, für eine Schuldzuweisung an "die Randalierer" oder "Krawalltouristen" missbraucht wurde, ein vorsätzlich verdrehter Zusammenhang, in dem Krieg als "wir machen richtig Zoff" entschlüsselt wurde, und nicht, wie in dem Satz "Der Krieg beginnt hier" eigentlich gemeint. Damit wurde natürlich nicht ein kriegsähnliches Geschehen auf der Straße angedroht, sondern die Anwesenheit der G20-Vertreter beschrieben und die Politik, die sie repräsentieren. Es war, aus kritischer Sicht, "euer Krieg" gemeint, der in Hamburg von den G-20-Politikern geplant wurde.
Solche Begriffe, eigentlich eindeutig benutzt, aber oft und leicht korrumpiert, fallen in der heute üblichen Twitter-Verkürzung aller Informationen unter die Kategorie "Totschlagargument". Man muss nur "radikal" oder "Krieg" sagen, dann weiß der Leser schon: Das ist falsch, egal was die Demonstranten wirklich wollen. Solche Begriffe, der "falschen" Seite zugerechnet, verweisen auf das Gewaltmonopol. Krieg führen darf nur der Staat, der dafür aus seinen Bürgern Soldaten macht. Wer sonst Krieg führt, ist ein Verbrecher.
Ein Begriff ist uns aufgefallen, der viel komplexer ist und der aus nachvollziehbaren Gründen im linken Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Es ist der Begriff der "Spaltung". Er taucht in den Erklärungen der "Welcome to Hell"-Organisatoren auf, und ich verstehe "Spaltung" synonym mit "Entsolidarisierung".
Fritz Sack: Unter den Demonstranten?
Olaf Arndt: Genau. Die breite Basis der Gegnerschaft gegen die Politik der G20-Staaten, die man ja vielleicht als die Politik der "New World Order" bezeichnen könnte, soll gespalten werden. Jene Extremen sollen von der Mehrheit der Leute abgedrängt werden, die man sich entsprechend als "moderat" oder "normal" vorstellen soll.
Die Masse der Normalen und daher Harmlosen, die bereit sind, das Meiste hinzunehmen, wie es kommt, sollen sich nicht mit den weniger Duldsamen solidarisieren. Sie sollen abgespalten werden von denen, die es wagen, sich zu wehren, und die, wie es in einer Erklärung der Linken heißt, nicht zahnlos - sondern mit Biss - auftreten. Die vollständig und prinzipiell Gewaltfreien, die die Mehrheit stellen, wenden sich durch Spaltung vom sogenannten Block ab, mit Verweis auf deren Gewaltbereitschaft. Die Gewaltfreien verweigern den Gewaltbereiten damit die Rückendeckung für gemeinsame Ziele.
Spaltung ist ein klassisches Prinzip des "divide et impera", das die herrschende Klasse leicht anwenden kann, wenn bestimmte Gruppierungen das Gewalt-Tabu brechen. Insofern natürlich auch das polizeiliche Interesse daran, dass das Gewalttabu gebrochen wird.
Fritz Sack: Dass das Gewalttabu gebrochen wird?
Olaf Arndt: Genau. Das Interesse daran.
Fritz Sack: Weil man dann sagen kann: Seht mal, mit was für Gesellen ihr euch gemein macht ...