"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"

Seite 7: Der Terror der Gewaltdebatte

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Fritz Sack: Ich finde mittlerweile die ganze Gewaltdiskussion und die Gewaltbereitschafts-Diskussion terroristisch. Man muss sich nur mal ansehen, wie die historische Entwicklung hin zum Nationalstaat gelaufen ist. Gewalt ist, anthropologisch betrachtet, eine notwendige Begleiterscheinung von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen. Man braucht nicht nur an die Französische Revolution zu denken oder die Oktoberrevolution. Die Rolle der Gewalt wird ja immer wieder thematisiert unter dem Gesichtspunkt, wir brauchen Gewaltverzicht, wir müssen Gewalt unterdrücken, wir müssen Gewaltbereitschaft thematisieren. Dass aber Gewalt eine natürliche Ressource des Menschen ist, das geht in dieser Verzichts-Diskussion über Gewalt völlig unter.

Ich kenne das insbesondere aus der amerikanischen Bewegungsforschung, wie soziale Bewegungen - und insbesondere natürlich soziale Bewegungen, die auch mit politischem Programm auftreten - für sich realisieren, dass sie Gehör nur dann finden, wenn sie zu Gewalt greifen. Es gibt die Diskussion über "violence counts" - "Gewalt zählt". Anders als die Anti-Gewalt-Apostel immer wieder suggerieren, dass Gewalt nur zur Spaltung führt. Das ist so nicht richtig. Sondern Gewalt ist eine Aufmerksamkeitsressource, insbesondere für Minoritäten, die sich in der Gesellschaft bemerkbar machen, Gehör verschaffen wollen.

Man liest ja immer wieder, der Arbeiteraufstand in der Stalinallee 1953, das wäre alles gelaufen unter dem Stichwort "der Freiheitswille der unterdrückten Leute in der DDR". Dieselben Leute, die sieben Jahre vorher noch hinter dem Nationalsozialismus gestanden, ihn gestützt und akzeptiert haben, die hätten auf einmal ihren Freiheitswillen entdeckt und dann die Stalinallee aufgemischt und die Arbeitsbedingungen. Die sind dann natürlich auch von der DDR, von der Polizei als gewaltbereite Mitglieder der Gesellschaft gesehen worden, die man nicht akzeptieren kann, weil Gewaltausübung nur der Polizei vorbehalten ist und niemand anderem. Von daher ist für mich diese ganze Diskussion um die Sortierung der Protestierenden und der Demonstranten nach denen, die gewaltbereit sind, und denen, die nicht gewaltbereit sind, schwer nachvollziehbar.

Olaf Arndt: Und eine Form von Terror?

Fritz Sack: Ja. Eine Form von Terror. Ja. Eine Form der Eliminierung und der Ausschaltung von, möchte ich fast sagen, natürlichen Ressourcen, die Menschen haben, die in Bedrängnis sind.

Moritz Kerb: Interessant ist das auch, weil Gewaltbereitschaft an sich ja gar nicht strafbar ist.

Fritz Sack: Gewaltbereitschaft ist nicht strafbar?

Moritz Kerb: Nein. "Gewaltbereit" darf man sein.

Fritz Sack: Ich habe gerade gelesen, man will jetzt "Gefährder" ausweisen können, wegen "Gewaltbereitschaft". Gewaltbereitschaft wird schon da indiziert, wo du möglicherweise bei irgendeinem Imam, der Hassreden hält, zuhörst und dabei fotografiert worden bist.

Moritz Kerb: Das daran besonders Bedenkliche ist den meisten Leuten noch nicht ganz klar geworden: Was heißt das denn für unsere Rechtsordnung, wenn ich für Verbrechen bestraft werde, die ich in Zukunft vielleicht begehen werde. Vielleicht aber auch nicht?

Fritz Sack: Ja. Deswegen ist "Gewaltbereitschaft" eigentlich ein Unbegriff, die Öffnung der Büchse der Pandora. Das schafft einen Raum ... Wenn du noch die Tatsache dazudenkst, dass der Polizist - obwohl das bei uns nicht so gesehen wird, jedenfalls nicht offiziell - ein "street-corner politician" ist, der Ermessens-Spielräume, Anwendungsspielräume von Begriffen, von Sprache zur Verfügung hat. Wenn der jetzt jemanden auf der Straße sieht, dem in die Augen guckt und sieht, der ist offensichtlich gewaltbereit ... (lacht)

Die Gewaltbereitschaft allein, dieser Begriff öffnet in einer Weise Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten, von denen man gar nicht weiß, wie man sie einschränken soll.

Härte

Olaf Arndt: Ein letzter Begriff, den ich noch auf der Liste hatte, um den sich ja alles dreht, das ist die "Härte". Das Maß der Härte. Die Hamburger Linie ist ja identisch mit "Härte". "Härte" wird ja jetzt schon mit zwei "H" geschrieben...

Fritz Sack: Wie gesagt, die Hamburger Polizei war traditionell die, die gegen die Studenten am rigorosesten, am härtesten vorgegangen ist ... neben den Berlinern.

Olaf Arndt: Deutsche Think Tanks rüsten in Sachen Härte auf. German Foreign Policy etwa berichtet unter dem Titel "Führung als Schicksal": "Einflussreiche Stimmen aus dem deutschen Establishment verlangen von der Berliner Politik "mehr Härte", "mehr Ambitionen" und "entschlossene Führung". Deutschland sei durch eine "fundamentale Ich-Schwäche" eingeschränkt, kritisiert ein einstiger PR-Spezialist der Bundeswehr in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Internationale Politik". Diese "Ich-Schwäche" gälte es zu überwinden. Indem man in der Weltpolitik dem notwendigen "Willen zur Macht" zum Durchbruch verhilft. Insbesondere hätten "die Deutschen" die "schicksalhafte Aufgabe (...) zur Führung in Europa." In einem anderen Beitrag in dem selben Blatt heißt es, um Deutschland hätten sich "drei Ringe der Unsicherheit" gelegt; um eine "Stabilisierung" seines Einflusses zu erreichen, müsse Berlin mehr "Härte" zeigen."

Härte, das ist ein Begriff, der gleich an Erziehung denken lässt. Dazu fällt mir Robert Jay Lifton ein, sein Buch "Thought reform and the Psychology of Totalism". Lifton beschreibt ein komplexes Modell der Durchsetzung von Abdrängung, eigentlich Entsolidarisierung, Spaltung. Wie der Staat operiert, um bestimmte missliebige Personen auszugrenzen. Eine Stufe davon nennt er "milieu control".

Wenn man sich anguckt, wie die Polizei im Schanzenviertel operiert hat, bekommt man das Gefühl, das war eine Form von sehr avanciertem "milieu control": Dichtmachen - innen alles abfackeln lassen, solange warten und nicht eingreifen, bis man ausreichend Beweise hat -, dann mit militärischen Einheiten, SEK-Truppen und so weiter eindringen.

Das Ganze - und das ist der Punkt, auf den ich kommen wollte - eine Art von pädagogischer Operation. Als solle die Meinung der Leute gründlich reformiert werden - eben "thought reform" im Sinne einer "totalitären", also nicht rechtsstaatlich gebundenen Psychologie der Erziehung zu unmündigen Bürgern. Ihnen klarzumachen, wie in der Schwarzen Pädagogik: "Wenn du das Maul aufmachst, gibt’s was auf die Fresse." Dafür einen ganzen Stadtteil kriminalisieren, stigmatisieren, absondern von der Normalität.

Keine Beißhemmung

Fritz Sack: Ich habe das Gefühl, das Schanzenviertel ist der Polizei und der Hamburger Politik seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Das wollen sie abräumen. Und die Rote Flora wollen sie einstampfen. Da bin ich ganz sicher. Und das gelingt am besten, so wie es jetzt bei G20 gelaufen ist: Jemanden gesellschafts- und stadtweit ins Unrecht setzen. Die Rote Flora, die Leute dort, die haben ja versucht, sich davor zu retten. Insgesamt ist ihnen das auch gelungen. Aber ich würde mich schon sehr wundern, wenn nicht dieser Angriff auf die Rote Flora - auf das Gebäude und auf dieses Setting - in gebührendem Abstand zu der G20-Geschichte dennoch vollzogen wird.

Die Rote Flora hat es ja wohl geschafft, einigermaßen in Frieden und Akzeptanz mit ihrer Umwelt dort zu leben. Wir haben familiäre Erfahrung in dem Viertel und sind oft dort gewesen. Dieses gezielte Nicht-Eingreifen, diese Nicht-Anwendung von polizeilichen Routinen, um das Ganze genau dort zu kanalisieren und die Demonstration ausarten zu lassen, das, meine ich, hat die Hamburger Politik und die Hamburger Polizei wenn nicht gewollt, so doch billigend in Kauf genommen. Obwohl man, wenn man diese These in die Welt setzt, sich sofort ins Abseits gedrängt sieht.

Ich habe den Scholz mal erlebt, genau vor dieser Schill-Wahl. Da hat die SPD Wochen vorher noch versucht, einen Personalwechsel einzuleiten. Damals war ich Mitglied in der Polizeikommission, und die Polizeikommission wurde eingeladen einmal im Jahr zum Tag der Offenen Tür auf dem Polizeigelände. Das war irgendwo in Winterhude. Der neue Innensenator Scholz stellte sich mit den Worten vor: "Ich habe keine Beißhemmung gegenüber Kriminellen." Das war der Begriff, den er dort verwendet hat. Wie er jetzt agiert hat - ungeschickt agiert, wie ich finde -, das erinnerte mich daran. Keine Beißhemmung. Dass er eigentlich die G20-Gelegenheit benutzte, instrumentalisierte, um einen Schandfleck von Hamburg zu bereinigen.

Extremistische Gewalt

Olaf Arndt: Nicht von ungefähr - offiziell natürlich im Rahmen der jährlichen Routinen - ist kurz vor dem G20-Gipfel der Verfassungsschutzbericht des Jahres 2016 veröffentlicht worden, der ja auch eine ganz klare, ich möchte fast sagen: propagandistische Tendenz hat.

Auf der Titelseite steht zwar nicht "Manifest", aber es liest sich wie ein Manifest: "Der Verfassungsschutz - ein unverzichtbares Instrument der wehrhaften Demokratie". Wir zeigen jetzt Zähne. Das macht der VS natürlich am besten, indem er bestimmte Gruppen als bewaffnete Feinde benennt. Es geht ja erklärtermaßen, wie der Titel sagt, darum, dass der VS nicht abgeschafft wird. Hierfür teilt der VS die Feinde der Demokratie in drei Gruppen von Extremisten ein, rechte, linke und religiös motivierte.

In dem schönen Text von Manès Sperber, "Sieben Fragen zur Gewalt", gibt es eine Passage, die auf das Extrem als natürliche Anlage verweist. Dort heißt es: "Der normale, natürliche Mensch durchläuft mindestens drei Phasen eines inneres Extremismus." In seiner jugendlichen Entwicklung hin bis zu seinem Erwachsenenalter. Sperber sagt, den inneren Extremismus braucht es, denn wenn der Mensch ihn nicht hätte, wüsste er nicht, ob er ohne seine Eltern leben kann. Er muss zur Ablösung, zum Selbständig-Werden einen inneren Extremismus entwickeln.

Weil dieser Begriff des "Extremismus" der Kernbegriff ist, mit dem der Verfassungsschutz arbeitet, und weil es sich in beiden Fällen um die Frage der Gewalt handelt, habe ich mich gefragt: ignoriert der Staat, um bestimmte gesellschaftliche Gruppen in Handlungsunfähigkeit zu versetzen, komplett, dass es eine seelische Disposition zum Extrem gibt?

Fritz Sack: Natürlich ignoriert er das, muss er ja. Was er selber für sich beansprucht - er beansprucht ja die Gewalt als eine positive Kraft und eine positive Ressource um Ordnung oder Stabilität herzustellen. Genau das verweigert er seinen Individuen. Beziehungsweise kümmert er sich nicht um die Bedingungen, in denen die latent vorhandene Ressource eingesetzt wird. Wie gesagt, das ist mittlerweile in der gesamten politischen Diskussion so: Man kann nicht mehr über die positive Funktion der Gewalt reden.

Deshalb darf man die staatliche Gewalt nicht als Gewalt bezeichnen, sondern die staatliche Gewalt ist irgendetwas anderes. Die Leugnung, die gehört zur Gewalt dazu wie das Amen in der Kirche. Beim Militär spielt das eine große Rolle. Die werden ja trainiert darauf, Gewalt kontrolliert und zivilisiert einzusetzen. Von daher ist es in unserer Gesellschaft täglich konkret erfahrbar, welche Doppelbödigkeit und welche Heuchelei mit dieser Forderung nach Gewaltverzicht und Gewaltausblendung und Gewaltleugnung verbunden sind.