"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"

Seite 3: Lizenz zur Gewaltanwendung

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Fritz Sack: Die Polizei hat die "Lizenz der Gewaltanwendung"3. Das ist eine alte Weisheit von Max Weber und anderen, die sagen eben, das Recht physische Gewalt anzuwenden, liegt exklusiv bei der Polizei. Das bedeutet natürlich, sie muss bereit sein, Gewalt anzuwenden, auch mit Lust und mit Überzeugung.

Das geht so weit, dass die Anwendung von Gewalt in der Selbstrezeption gar nicht als Gewaltanwendung definiert wird, sondern als eine berufliche Verpflichtung und als eine Aufgabe, die man hat; dass das als Gewalt gar nicht erlebt wird, sondern dass es erlebt wird als eine staatsbürgerliche Pflicht, als etwas, das in ihren Händen etwas anderes ist, als wenn es von anderen Bürgern kommt.

Meiner Meinung nach begründet der Scholz-Satz Verhalten ... Er hat ja nicht rundweg abgestritten, sondern er hat gesagt, es gab einzelne Übergriffe, von einzelnen Polizisten. Aber wenn man von Polizeigewalt spricht, dann spricht man nicht von der Gewalt, die ein einzelner ausübt. Denn das ist etwas ganz anderes. Sondern man spricht von dem, was eben die Lizenz der Polizei zur Gewaltausübung genannt wird. Scholz hat abgelehnt, dass es eine institutionell vorgegebene Gewalt wäre. Er wollte die institutionelle Gewalt, die die Polizei als Institution hat, als friedliche Institution, die wollte er retten und nur eingestehen, dass es Überreaktionen gegeben hat. Den Begriff der "Polizeigewalt" könne man eigentlich nur verwenden in Bezug auf Ausrutscher, auf individuelle Übergriffe.

Bild: Olaf Arndt

Olaf Arndt: Wochen später hat er ergänzt: Man dürfe den Begriff der Polizeigewalt gar nicht erst in den Mund nehmen, da es sich um einen Kampfbegriff der Linksextremen handelt. Wir - und vermutlich auch er selber - wissen aber, dass das gar nicht stimmt, denn "Polizeigewalt" ist ein Begriff aus der Kriminologie - kein Kampfbegriff der Linken.

Fritz Sack: Ja, das ist albern ... das ist natürlich Quatsch. Also wenn man den Sprachgebrauch von Journalisten, wenn man den Sprachgebrauch der Öffentlichkeit betrachtet - unabhängig von links- und rechtsextrem -, da wird natürlich oft von Polizeigewalt gesprochen. Da weiß ja auch jeder, was damit gemeint ist.

Olaf Arndt: Im Sitzungsprotokoll des Innenausschusses hat Innenminister Andy Grote gesagt: "Polizeigewalt unterstellt strukturelles, rechtswidrig gewalttätiges Vorgehen der Polizei. Es ist ein funktional verwendeter Begriff, der das Handeln der Polizei delegitimieren und die Anwendung von Gewalt gegen Polizeibeamte legitimieren soll. Insofern ist es ein diffamierender Begriff."

Kampf um die Wirklichkeit

Fritz Sack: Also, ja... (lacht) ... das ist so absurd, dass man gar nicht weiß, was man dazu sagen soll, nicht wahr?

Natürlich soll er diffamieren, natürlich soll er delegitimieren. Man weiß ja, und das weiß Herr Scholz natürlich auch, die Anwendung von Gewalt durch die Polizei ist regelgeleitet und regelgegeben, wann sie und unter welchen Umständen sie Gewalt einsetzen darf. Was dabei immer unterschlagen wird: Die Polizei muss in Bezug auf die Gewaltanwendung natürlich behaupten, dass sie rechtens sei, und genau das wiederholt sie deswegen immer wieder. Alles, was die Polizei tut, ist nach den Regeln des Gesetzes, ist ihr vorgegeben.

Wir haben das bereits 1980 festgestellt bei unserer Untersuchung zu "Protest und Reaktion". Es findet andauernd ein Kampf um die Wirklichkeit statt, ein Kampf darum, was ist nun wirklich gewesen, was ist wirklich passiert. Das ist natürlich immer höchst umstritten, vollkommen klar. Die einen sagen, das war Körperverletzung im Amt, die anderen sagen, die erforderliche Brechung von Widerstand. Man weiß aus solchen Verläufen, aus der Verarbeitung von solchen Polizeieinsätzen und Polizeiübergriffen, dass beispielsweise erfahrene Rechtsanwälte jedem davon abraten, eine Anzeige einzureichen wegen Polizeigewalt.

Automatisch - entweder im Vorgriff oder als Reaktion darauf - kommt sofort die Gegenanzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Da tritt das ein, was ich an anderer Stelle mal so formuliert habe: "Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei."

Denn die Polizei weiß genau, wie staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, wie staatsanwaltschaftliches Verhalten aussieht. Für jede Behauptung und für jede Wirklichkeitsaussage braucht man Belege. Die Polizei verfügt natürlich immer über geeignete Belege. Das Wort der Polizei ist zudem ein privilegiertes Wort, beweismäßig. Wenn du jetzt bei so einer Auseinandersetzung irgendwelche Zeugen hast, die die Behauptung der Polizei widerlegen oder die eine andere Lesart hineinbringen, dann wird das sofort konterkariert durch den Mechanismus des Kameradenschutzes oder des Korpsgeistes. Der "Korpsgeist", das ist eine informelle Regel, wie man in solchen kontroversen Situationen zu handeln, wie man zu agieren hat.

Moritz Kerb: Interessant ist, dass passend zum G20-Gipfel der §113 StGb - "Tätlicher Angriff auf Vollzugsbeamte" (Mindeststrafe drei Monate Haft) - verschärft wurde. Wer also heute Polizeibeamte anzeigt, der bekommt nicht nur eine Anzeige wegen "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte", sondern eventuell sogar wegen "tätlichen Angriffs", wo man auch nicht das Gegenteil beweisen kann.