"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"
Seite 4: Strategien der Eskalation
- "Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"
- Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sind kommunizierende Röhren
- Lizenz zur Gewaltanwendung
- Strategien der Eskalation
- Vermummung
- Wer sind die "wirklich Gewaltbereiten"?
- Der Terror der Gewaltdebatte
- Gewalt und Gegengewalt
- Neue Technologien - neue Formen der Gewalt
- Rechtsverletzende Strategien
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Fritz Sack: Die Polizei braucht natürlich Gewalt. Wenn man sich das Ganze als Eskalationsvorgang vorstellt, dann ist die Polizei auch "anfällig" für Vorwürfe, dass sie überreagiert hat. Durch eine Überreaktion gerät die Polizei in eine missliche Lage. Vor die Klammer muss man natürlich setzen, dass unter allen nur denkbaren Umständen Polizeigewalt gegenüber Demonstrationsgewalt die Überhand hat. Dass die Polizeigewalt immer in der Lage ist, mit ihren Möglichkeiten und Mitteln letztlich Widerstand zu brechen. Das weiß die Polizei natürlich auch.
Aber auf der anderen Seite darf sie nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wenn sie das aber tut, dann gerät sie in die Defensive. Deshalb ist die Polizei daran interessiert, den Gewaltpegel in solchen Auseinandersetzungen derart zu eskalieren. Indem man Molotowcocktails verteilt bei solchen Demonstrationen wie gegen Springer damals. Wenn sie dann eingesetzt werden, kann die Polizei mit allen Möglichkeiten dagegen einschreiten. Um eine solche Situation herzustellen, dazu braucht sie den Agent provocateur. Und der Agent provocateur, das ist derjenige, der anheizt.
Es gibt ja Leute, die sagen, man muss diesen ganzen Vermummungs-Paragraphen abschaffen. Man muss das zur Ordnungswidrigkeit herunterstufen, damit die Polizei, wenn sie mit Vermummten konfrontiert ist, nicht dem Legalitätsprinzip folgen muss. Wenn sie das nicht tut, dann ist sie ja möglicherweise wegen Strafvereitelung dran. So wird hin und wieder argumentiert. Nur bei Ordnungswidrigkeiten, da muss sie das nicht. Bei Ordnungswidrigkeiten, da gilt das Opportunitätsprinzip und nicht das Legalitätsprinzip. Deshalb ist die Herstellung von einem Maß oder: dem Level an Gewalt, die man braucht, um legitim die Gewaltmittel der Polizei voll ausagieren zu können, das Problem.
Es gibt eine Geschichte, die man dabei bedenken muss. Ich hatte damals bei meiner "Protest und Reaktion"-Untersuchung viel Material und viel Information aus amerikanischen Quellen. Das lief ja parallel, d.h. nicht parallel, denn America war ja schon damals "first" ... (lacht) ... der Soziologe und emeritierte MIT-Professor Gary T. Marx hat in seinem Buch "Undercover. Political Surveillance in America"4 viele Beispiele angeführt, wie die Polizei es hinkriegt, sich selbst ins Recht und die anderen ins Unrecht zu setzen.
Das hat in der deutschen Situation, damals bei den Studentenprotesten, auch eine Rolle gespielt. Eine Geschichte, die ich immer wieder sehr eindrucksvoll fand: Die Studentenbewegung war ja begleitet von der Akzeptanz der Drogen. Auf der anderen Seite war damals die Konjunktur der Plastiktüten aufgekommen. Und viele Studenten, die ihre Sachen in Plastiktüten bei sich hatten oder mit sich trugen, denen hat die Polizei - und da gibt es empirische Belege dafür - in ihre Plastiktüten Marihuana reingeschmuggelt. Damit hatte man das Beweisstück, dass hier eine Straftat vorliegt.
Marx, der mich damals in Hamburg besucht hat, der hat mir die amerikanische Lage so geschildert: In extremen Situationen, bei extremen Konflikten, insbesondere bei schweren Riots, da galt für Polizisten die Regel, dass sie jeweils zwei Pistolen bei sich führen mussten. Eine Pistole, mit der sie sich selber verteidigen, und die andere Pistole, die sie dem Verdächtigen unterschieben als Beleg, dass er gewaltbereit oder vorbereitet war. Das darf man bei uns gar nicht erzählen, sowas.
Olaf Arndt: Lass uns den Begriff der Eskalation noch mal näher betrachten ...
Fritz Sack: Es gibt eine Polizeiliche Dienstvorschrift, damals war die PDV 100 gültig, eine sehr ausführliche, umfangreiche Anweisung, wie der Polizist in bestimmten Konfrontationssituationen zu handeln hat und was er beachten muss. In der PDV ist relativ ausführlich und detailliert beschrieben, wie man bei solchen Eskalationsprozessen, wie man bei dieser Stufe und bei jenem Vorkommen, zu reagieren hat. Was mir aufgefallen ist, bei der genauen Analyse des Protokolls des Berliner Parlamentsausschusses, ein höchst umfangreiches Papier, so ein dickes Ding und gleichzeitig gab es ein analoges Dokument von Seiten der Studenten, damals im Kursbuch publiziert. Ich erinnere nicht mehr, welche Nummer ...
Moritz Kerb: Nummer 12.
Fritz Sack: Im Kursbuch 12, ja. Da sind relativ detailliert die studentischen Ermittlungen, oder sagen wir: die studentischen Gegenermittlungen abgedruckt. Was mir aufgefallen ist bei der Durchsicht dieses parlamentarischen Berichtes: Dass man die Beschreibungen von Ereignissen, die dort von der Polizei geliefert werden, die Art und Weise der Darstellung sich ziemlich exakt deckt mit den vorformulierten Passagen in der internen Dienstanweisung. So dass dieses Regelwerk nicht nur als eine präskriptive Angelegenheit zu betrachten ist, sondern als Anleitung zum Beschreiben von dem, was tatsächlich passiert ist. Das heißt, dass die Ausbildung dahin geht, dass bestimmte Sprachregelungen Wirklichkeit antizipieren. Das antrainierte Vokabular kehrt wieder in Befragungen, wo Polizisten Rede und Antwort darüber stehen müssen, was tatsächlich vorgefallen ist, und in solchen Momenten reproduzieren sie schlicht die PDV 100.
Olaf Arndt: Das heißt, die Ausübung der Polizeigewalt besteht nicht nur in der technischen Ausrüstung, sondern ...
Fritz Sack: In der Sprachregelung ...
Olaf Arndt: Im Sinne des Eintrainierens einer Herrschaft über die Wirklichkeit.
"Böse" Regeln
Fritz Sack: Ja. Das ist unhintergehbar. Wenn wir von Regelungen sprechen, dann denken wir, das sind Regeln, die das Verhalten kontrollieren sollen, das Verhalten steuern sollen, so oder so zu handeln. Aber wie ich vorhin versucht habe, klar zu machen: Wenn diese Regeln nicht nur Regeln sind, die sagen, wie du dich verhalten sollst, sondern die Regeln dir sagen: Wie immer du dich verhältst, so hast du es zu beschreiben. Wenn es keine systematische Konkurrenz geben darf zwischen den präskriptiven und den deskriptiven Aspekten von Regeln, dann stellt sich die Frage so nicht, die du gerade formuliert hast: "Wo ist die Grenze zwischen Rechterhaltung und neuer Rechtsetzung?"
Olaf Arndt: Warum stellt sich die Frage sich so nicht? Weil die Antwort vorgegeben ist in einer Verwaltungsrichtlinie?
Fritz Sack: In der Verwaltungsrichtlinie wird dir beigebracht, da wird dir gelehrt, wie du das Verhalten - wie immer du dich verhältst - zu beschreiben hast. Da gibt es keine Optionen mehr. Ist das jetzt rechtserhaltend? Oder ist das rechtsanwendend? Oder ist das rechtskonstituierend?
Olaf Arndt: Sondern sie hilft dir, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen ...
Fritz Sack: Selbst wenn du sagst, "den Kopf aus der Schlinge zu ziehen", istdas schon gedacht in einem Vokabular von Rechtserhaltung und Rechtssetzung ... die eine Diskrepanz nicht akzeptiert. Da bist du schon Gefangener dieser Logik.
Olaf Arndt: Ja, gut, das sehe ich ein. Trotzdem ist es hoch spannend zu sehen, dass es innerhalb eines als einheitlich behaupteten staatlichen Rechtssystems mit einer hohen Pönalisierung von Gewalt immer wieder solche Verwaltungsvorschriften gibt, die eine parallele Wirklichkeit ermöglichen, in der der Staat freie Hand für individuelle Gewalt erhält. Die Vorschriften müssen ja irgendwie in die Wirksamkeit gekommen sein. Dieses "wie", wie das abläuft, das möchte ich möglichst genau klären.
Meine These ist, dass dieser Widerspruch systemerhaltend ist. Das interessiert mich nicht nur für die Polizei, sondern für alle möglichen Teile des administrativen Apparates, für "Verwaltung" im allerweitesten Sinn. Dort, wo der Staat, wie es so schön heisst, ganz "tief" ist, wird unsere Realität ja ganz konkret gestaltet.
Ich nenne mal zwei Beispiele: Wir haben im Zusammenhang mit einer Recherche über "Drogen-Einsatz beim Militär" von einem Deiner Kollegen, Wolf-Reinhard Kemper, ein Dokument in Kopie erhalten, eine Dienstanweisung für die Abgabe von "go-pills", Metamphetaminetabletten. In der Dienstanweisung steht, wie die Droge durch die Kommandokette zu den Piloten kommt.
Zweites Beispiel: Wir haben mit Robin Michael Coupland vom International Committee of the Red Cross zusammengesessen. Er hat uns erklärt, wie in der Einheit in Guantanamo, die er berät - man weiß gar nicht genau, wie man das nennen soll: die er "schult", um zu verhindern, dass noch schlimmere Exzesse passieren - wie in dieser Einheit das Foltern geregelt wird. Mit einer Dienstanweisung.
Alfred W. McCoy hatte uns schon früher einmal auf KUBARK hingewiesen, ein CIA-Manual zum Foltern, das unter verschiedenen Titeln über bisher 50 Jahre von Auslandseinsatz zu Auslandseinsatz ergänzt und verbessert wird. Man lernt ja dazu und will sein Wissen weiter geben. Nehmen wir also diese beiden Fälle: Zerstörung der Bürger durch verordnete Drogengabe und Zerstörung der Bürger durch Folter. Es sind ja elementare Grundsätze der Zivilisation, dass ein Staat seinen Bürger so etwas nicht antut. Aber es gibt Verwaltungsregeln - "Durchführungsbestimmungen" - ...
Fritz Sack: ... wie genau das zu machen ist. Ja. Das geht beides nicht zusammen und passiert eben doch.
Effizienz, Konkurrenz und Effektivität
Olaf Arndt: Ich suche mit den Beispielen nach Antworten auf die Frage, wie eine Demokratie den Exzess der Verwaltung eingefangen bekommen kann. In der Zeit, als Willy Brandt "Mehr Demokratie wagen" wollte, gab es in England noch eine Labour-Regierung. Die hatte Bürgerkomitees in der Verwaltung installiert, weil es in großem Stil Korruption, Gewaltexzesse und so weiter gab, vor allem im Kontext der Nordirland-Einsätze. Und die wurden zentral koordiniert aus Manchester.
Unser Freund Steve Wright, der heute den Lehrstuhl für Globale Ethik in Leeds bekleidet, gehörte zu dieser internen, heute würde man sagen "zivilgesellschaftlich" aufgestellten Kontrollinstanz innerhalb der Verwaltung. Steve hatte also die Polizei zu kontrollieren. Diese Einrichtung war das erste, was Maggie Thatcher abgeschafft hat, als sie an die Regierung kam. Weil sie diese Form von "Bürger beobachten die Polizei" für ihr neoliberales Wirtschaftssystem nicht brauchte.
Fritz Sack: Neoliberalismus ist das passende Stichwort. Es geht ja derzeit täglich mehr in die Richtung: Individualismus und "Jeder ist sein eigener Unternehmer" und jeder ist seine eigene Ich-AG und hat dafür zu sorgen, dass er sich marktgerecht ausbildet, marktgerecht Ressourcen aus sich macht. Das ist die kulturelle Verallgemeinerung des dynamischen Unternehmers5, das, was der Joseph Schumpeter angedeutet hat, als er von "schöpferischer Zerstörung" sprach. Man fragt sich natürlich - alle Welt redet davon, dass der Kapitalismus am Ende sei, und nicht mehr viel von ihm zu erwarten ist - aber die Frage, was kommt danach oder was kann den Kapitalismus ersetzen oder was und wer ihn ablösen kann: das bleibt eine offene Frage, oder?
Die Frage "Was folgt denn auf den Kapitalismus, wenn er zusammenbricht?" geht ja schon von der Setzung aus, dass eine andere strukturierte Sache dem nachfolgt. Leute wie Mark Zuckerberg, die sagen: "Wir brauchen gar keine strukturierte Sache. Alles überflüssig. Wir brauchen nur Effizienz, Konkurrenz und Effektivität." Die berühmten drei E: Economical, Efficiency and Effectivity: Effizienz als die ökonomische Relation von Ressourcen zu Erträgen. Und Effektivität, das bedeutet, dass das, was erreicht werden soll, auch tatsächlich erreicht wird ... um jeden Preis.