Die Lieblingsjüdin der deutschen Antisemiten

Pro-Palästina-Demonstration am Berliner Hauptbahnhof, 19.12. 2023. Foto: Rüdiger Suchsland

Masha Gessen legt nach und setzt Israel mit NS-Deutschland gleich. Ein Kommentar zur Tragödie der Linken im deutschen Herbst 2023.

Dienstag dieser Woche, spätnachmittags am Berliner Hauptbahnhof: Etwa 300, teils junge, teils über 50-jährige Demonstranten aller Geschlechter blockieren die mittlere Ebene des Bahnhofs und die Rolltreppen zu den Gleisen für eine Spontandemonstration.

Eine dreiviertel Stunde lang skandieren sie Klassiker wie "Hoch die internationale Solidarität" und "One Solution! Revolution!", dann wieder Anti-Israelisches an der Grenze zur Strafbarkeit; auf ihrem Transparent steht "Palestine will be free".

Palästina-Flaggen werden geschwenkt, unter den weißen "biodeutschen" Demonstranten, die mit ihren PLO-Tüchern kulturelle Aneignung in Reinform praktizierten, stehen ein paar junge Männer mit schwarzen Bärten und schwarzen Kopftüchern, offenkundig migrantischem, vermutlich arabischem Hintergrund, die gelegentlich "Allahu Akhbar" rufen und dazu die Faust ballen.

Die Projektionsfläche

Diese zufällig beobachtete Szene zeigt beispielhaft: Das sogenannte "Palästina", das nicht sehr viel mit den unglücklichen Bewohnern des Gazastreifens und des Westjordanlandes zu tun hat, aber eine ganze Menge mit der "Orientalismus"-Ideologie eines Edward Said sowie mit Universitätsseminaren und Kulturveranstaltungen in den USA und Westeuropa.

Dieses "Palästina" ist längst zur düsteren Projektionsfläche des identitären Teil der deutschen Linken geworden, der sich selbst als irgendwie "indigen" und vom amerikanisch-jüdischen Neoliberalismus kolonisiert fühlt.

Es ist dieses Gebräu aus Schimären, absurden Verdrehungen, unverdauter Wissenschaft, Symbolpolitik und schierer Ideologie sowie dem Frust jahrelanger Arbeit in politischen Segmenten unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, das Sahra Wagenknecht seit Jahren an ihrer Ex-Partei Die Linke kritisiert hat, und das nun zunehmend auch größere Teile der deutschen Öffentlichkeit entsetzt und abstößt.

Die Demonstranten von gestern sind Berliner Alltag, und so etwas wie der "griechische Chor" zu der Tragödie der Linken im deutschen Herbst 2023. Es ist eine Tragödie, denn die Linke hätte weiß Gott Besseres zu tun, als ihren verdrängten Antisemitismus ausgerechnet jetzt auszuleben, als den eigenen "Linksfaschismus" (Jürgen Habermas) auf die Straße zu tragen, auf Demonstrationen Netanjahu mit Israel gleichzusetzen und die IDF mit den deutschen Einsatzgruppen an der Ostfront. Sie hätte Besseres zu tun, als von Genozid zu faseln und "from the river to the sea" zu skandieren.

Notwendige Debatten

Den Kampf gegen rechts führen zum Beispiel, also gegen die richtigen deutschen Rechtsextremisten der AfD und ihre Möchtegernsteigbügelhalter in der Union. Dazu würde dann aber gehören, die Debatten über das Mindset vieler Migranten aus arabischen Ländern offen zu führen.

Dazu würde gehören, über die Ausbreitung des Islamismus unter der Maske der Religionsfreiheit zu reden, über die Terrorverherrlichung unter dem Mantel der freien Rede und über die Gewaltverniedlichung mit Floskeln des postkolonialen "Verstehens" und Empowerments fremder Kulturen, anstatt die Gewalt hinter der Andersartigkeit der Anderen zu verstecken.

Der Kampf gegen rechts kann nur geführt werden, wenn man Dinge offen zur Sprache bringt, und Probleme unverblümt benennt, anstatt sie schönzufärben, weil man kein Wasser auf die Mühlen der Rechten gießen will.

Die augenblickliche Tragödie der Linken

Er kann auch nur geführt werden, wenn man verhindert, dass außer den Netanjahus auch die Rechten dieser Welt die Solidarität mit Juden in aller Welt und die Idee des Staates Israel kapern, wenn man verhindert, dass in liberalen Gesellschaften jede noch so kleine Minderheit Verständnis und privilegierten Opferstatus und dazugehörige Sonderrechte und Sicherheiten beanspruchen kann, die Juden aber die einzige Minderheit sind, die schutzlos der Hatz der antisemitischen Meute preisgegeben werden.

Über keine einzige andere gesellschaftliche Gruppe könnte man sich an US-Eliteuniversitäten oder auch deutschen Unis so äußern - im Fall von Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft ist es aber nicht nur erlaubt, sondern gesellschaftlich augenscheinlich erwünscht.

Das nicht zu sehen ist die augenblickliche Tragöde der Linken.

Zu einer Hauptdarstellerin in diesem Drama hat sich in den letzten Wochen die russisch-amerikanische, jüdische Autorin Masha Gessen gemausert.

Gessen legt nach

Nachdem Gessen für ihre verklausulierte Gleichsetzung von Gaza mit dem Warschauer Ghetto und der israelischen Terrorbekämpfung mit der Mordmaschine der Nazis im New Yorker breit kritisiert wurde, hat sie trotz der vielen Einwände am Samstag ausgerechnet den mit 10.000 Euro dotierten Hannah-Arendt-Preis erhalten (siehe dazu: Kontroverse um Holocaust-Relativierung).

Wer da noch nicht geglaubt hatte, dass diese Preisvergabe ein skandalös falsches politisches Signal und ein moralischer Fehler war, konnte sich davon nun an diesem Montag überzeugen. Da trat Gessen nämlich in Berlin bei einer Veranstaltung der politischen Stiftung der Grünen, der Heinrich-Böll-Stiftung auf.

Allein dieser Ort ist bereits erstaunlich, war es doch die gleiche Heinrich-Böll-Stiftung, die sich von der Preisvergabe in Bremen noch drei Tage zuvor distanziert und zurückgezogen hatte.

Erklärlich ist dieses Verhalten eigentlich nur damit, dass die Böll-Stiftung so divers geführt wird, dass sie zu einer klaren Positionierung nicht in der Lage ist, sondern wie eine politische Hydra mit vielen Köpfen spricht.

Oder alles liegt doch wieder mal an Berlin, das regelmäßig kulturelle Sonderwege geht, diese Minderheitenposition mit überproportionalem öffentlichen Einfluss verknüpft, und dadurch allmählich zum Problem der gesamten deutschen Kulturlandschaft wird.

Zum eigentlichen Skandal aber wurde der Auftritt von Masha Gessen. Die Publizistin präsentierte sich wie die moralische Siegerin der um sie entflammten Debatte: "Der Versuch, mich mundtot zu machen, ist misslungen", meinte sie.

Ihre fragwürdigen Vergleiche hielt sie nicht nur aufrecht, sie setzte noch ein paar drauf: Wie NS Deutschland benutze Israel Hunger als Mordwaffe, der größte Unterschied zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sei, dass die Welt immer noch die Möglichkeit habe, etwas zu tun.

Nachfragen oder der Debatte verweigerte sie sich, etwa indem sie auf Nachfragen der Moderatorin entgegnete "Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprechen", womit sich die US-Intellektuelle gleich mehrere Ebenen dümmer stellt, als sie es ist.

Kritik bekam Gessen auch für die Behauptung, sie dürfe ihre Positionen in Deutschland nicht äußern. "Alles kann instrumentalisiert werden", stellte sie fest. Da hatte sie ausnahmsweise einmal recht.

"Die Debatte verkrampft sich weiter" resümierte die Süddeutsche Zeitung in ihrem heutigen Bericht von diesem Abend.

An diesem Abend in Berlin wurde Masha Gessen endgültig zur Lieblingsjüdin der deutschen Antisemiten.