Die öffentliche Verschwörung: Warum wir alle mitmachen

König im Parlament – der der von Großbritannien im Bundestag, 2003. Bild: Heide Pinkall/ Shutterstock.com

Über den Parlamentarismus als Volksverschwörung. Und was Corona-Schwurbler wie auch deren Kritiker übersehen. Ein Essay (Teil 1)

Aus der langen Geschichte von Verschwörungen, also der Jahrhunderte alten Tradition, die Entscheidung über relevante politische Taten der großen Masse der Bevölkerung zu entziehen und sie stattdessen in geheimer Absprache zu fällen, haben die modernen demokratischen Herrschaftssysteme eine Lehre gezogen.

Dass es besser sei, Richtung und Inhalt der Politik wie stets zu handhaben, jedoch immerhin die Form der Entscheidung zu reformieren: "Ein Parlament kann beschließen, was sich ein König nie zu erlassen wagen würde", bekundete Napoleon, der als Absolutist sehr genau wusste, warum er den Parlamentarismus der Monarchie vorzog. Denn in der Monarchie muss immerhin der König seine Taten verantworten, in der Demokratie niemand.

Nachdem das demokratische Prinzip sich in der westlichen Welt einmal durchgesetzt hatte, fuhren deren Regierungen fort, die ohnehin gewollte Politik durchzusetzen, nun aber unter Berufung auf die erzwungene Legitimierung durch das Volk. Das hatte schon etwas Geniales: Der bürgerliche Parlamentarismus erschuf die inzwischen gängige Praxis, die Politik der herrschenden Klasse als authentischen Volkswillen auszugeben.

Gewalt von oben: geht mit Parlament besser

Neidisch blicken darauf die weniger bürgerlichen Staaten dieser Welt, welche weiterhin auf autokratische Maßnahmen angewiesen sind, um mit den Demokratien auf wirtschaftlicher Ebene mitzuhalten. Praktischerweise also sind seit Einführung des Parlamentarismus Kriege, Ausbeutung und Klassenkampf von oben stets des Volkes ausdrücklicher Wille. Der König hatte zur Not noch geköpft werden können, aber was tun, wenn es in der Demokratie falsch läuft? Das Volk wird sich wohl kaum selbst köpfen.

Bevölkerung außen vor

Trotz dieses fragwürdigen Fortschritts in den bürgerlichen Staaten ist die Bevölkerung auch in diesen der Entscheidung über einen Großteil der relevanten politischen Handlungen entzogen. So ist etwa die Instrumentalisierung des Volkszorns, oder, hübscher ausgedrückt: der bürgerlichen Moral, nichts anderes als ein solcher Entzug von Entscheidungs- und Handlungsgewalt, weil im Anrufen von Empörung im Volk nicht das Volk, sondern dessen undurchschaubare und ihm äußerliche Psychologie, eben der Zorn und die moralische Empörung zur Entscheidung drängen. Nicht aber Vernunft und Reflexion – welche freilich die gewollten Entscheidungen verhindern könnten.

Dass trotz des Mehrheitswillens in allen möglichen Fragen nur äußerst selten die entsprechende Politik beschlossen wird, weiß man nicht erst seit dem nicht umgesetzten Berliner Volksentscheids zur Enteignung der "Deutsche Wohnen".

Etwas also muss in jener Sphäre der demokratisch-parlamentarischen wie der medialen Vermittlung passieren, das stets dafür sorgt, dass das Minderheitsinteresse der Mächtigsten sich gegen das Mehrheitsinteresse durchsetzt oder gar jenes als dieses auszugeben vermag.

Das merken selbst die konventionellen Verschwörungstheoretiker, die sich die Sache jedoch komplizierter machen, als sie ist.

Der oben erwähnte Satz von Napoleon über den Vorteil von Parlamenten gegenüber der absoluten Monarchie markiert den geschichtlichen Zeitpunkt, an dem systematische Verschwörungen unnötig werden. Mit dem Königsthron verschwindet auch das Hinterzimmer. Sicher wird in Einzelfällen immer noch auf nichtöffentliche Absprachen zurückgegriffen – schließlich sind die politisch Mächtigen selten so naiv wie die Kritiker von Verschwörungsideologie –, aber alles in allem konnte das Verschwören seitdem ganz öffentlich und demokratisch, also im Parlament bewerkstelligt werden.

Dem Einzelnen bleibt in solch einem System, wenn er nicht zufälligerweise zu jener kleinen Gruppe von Vermögenden und Privateigentümern gehört, kaum anderes übrig, als sich von diesen in ein Verhältnis drängen zu lassen, dass mit "Erpressung" ziemlich treffend bezeichnet ist. Damit bleibt letzteren die Verschwörung, die andernfalls nötig wäre, erspart.

Abschaffung von systematischer Verschwörung und Einführung von öffentlicher politischer Diskussion haben den hohen Preis des Autonomieverlusts der Einzelnen. Als Staatsbürger können diese nicht mehr einfach für vogelfrei erklärt werden, auch können sie nicht in dem Grad entrechtet werden, dass sie ihr Auskommen etwa, wie noch im nichtdemokratischen Mittelalter, als "fahrendes Gesindel" finden müssten.

Mit der Verantwortung des Staatsbürgers kommt auch die erzwungene Teilhabe an dem Anliegen der demokratischen Öffentlichkeit, die nun einmal immer jene der Herrschenden ist. Der Brecht-Spruch von den Kälbern, die ihre Metzger selbst wählen ist insofern weniger kritisch, als er sich anhört, da ohnehin nur verschiedene Metzger zur Wahl stehen, und sich die Menschen als Mastkälber erfahren, solange ihre Arbeitskraft die Quelle für den privaten Profit anderer abgibt.

Die Wirklichkeit ist also noch schlimmer, als die Verschwörungsideologen annehmen: Die politische Ordnung der ohnehin Besitzenden erübrigt die mafiöse Absprache; die Eigentumsordnung selbst regelt, was politisch entschieden zu werden hat. Sie erscheint als Naturnotwendigkeit, innerhalb der Bürger als Einzelner und Vereinzelter pragmatische Entscheidungen zu treffen hat, will er nicht dem sozialen Untergang anheimfallen.

Solange diese Gesellschaftsform als naturhaft aufgefasst wird und also unangezweifelt bleibt, kommt kein politischer Verwalter dieser Ordnung auf die Idee, sich gegen die Massen zu verschwören. Jeder einzelne stützt mit seiner Hoffnung aufs eigene Fortkommen das System in Gänze.

Erpressungen werden dann als solche nicht wahrgenommen, sondern verklärt, weil jeder darauf spekuliert, einmal auf der anderen, der profitierenden Seite des – durch Arbeit und Lohn – vermittelten Erpressungsverhältnisses zu stehen.

Staat & Bevölkerung: good cop vs. bad cop

Nun haben diese in sich höchst widersprüchlichen und problematischen Gebilde parlamentarischer Demokratien und ihre sich auf unterschiedlichsten Vermittlungsebenen durchsetzende Macht unter anderem die Eigenheit, dass eine Missachtung des Mehrheitswillens nicht bloß von der Regierung, sondern auch von großen Teilen des Volkes selbst bisweilen durchaus erwünscht ist.

Alle wissen ja, wie fehlbar sie schon als Privatpersonen ihren Alltag bestreiten und kaum wer möchte persönliche Verantwortung für weitreichende politische Fehlentscheidungen tragen – weshalb sie ganz froh sein dürften, dass sich ihr wirklicher Wille nicht durchsetzt, und man seinerseits alles auf die Regierung schieben kann, wie die Regierung alles aufs Volk schiebt. In der Nacht des Parlamentarismus sind alle Entscheidungskatzen grau.

Bei dieser stillschweigenden Übereinkunft kann in der Tat von einer Verschwörung gesprochen werden: nämlich einem arbeitsteiligen Pakt zwischen Staatsregierung und Staatsbevölkerung, der das System mit einem "Good cop, bad cop"- Spiel ganz gut am Laufen hält: je nach Lage kann so entweder die Bevölkerung oder der Staat als good cop erscheinen.

Entscheidend ist nur, dass die Arbeitsteilung zwischen good cop und bad cop nicht aufgekündigt wird. Eine solche "Verschwörung" ist damit also eine nach innen hin öffentliche, ein landesweites Komplott zwischen herrschender und beherrschter Klasse eines Staates im – scheinbar – gemeinsamen Interesse, sich als Gesamtstaat in der Staatenkonkurrenz gegenüber anderen behaupten zu können. So kann das Einschwören der Nation nach innen zum Verschwören nach außen werden. Im Politikerdeutsch heißt das Standort-Logik.

Denn ein Staat hat natürlich immer ein normatives politisches und kulturelles, zumindest ideologisches Erziehungsprogramm, auch wenn dieses seinen Bürgern – oder gar ihm selbst – nicht bewusst sein sollte.

Im deutschen Grundgesetz aber steht immerhin offen, dass die Parteien zur Willensbildung der Bevölkerung beitragen sollen. Aber auch die auf den ersten Blick unpolitischen Beiträge, die Musik, die Filme, die über staatliche Medien täglich in Millionen von Haushalten gesendet werden, bewirken ja etwas, haben auch abgesehen von ihrer Ästhetik einen Welt- und Meinungsgehalt.

Und umso mehr, je weniger den Bürgern diese Tatsache bewusst ist und sie es als bloße Unterhaltung abtun. Das aber wird in der nationalen öffentlichen Diskussion meistens ausgeblendet; hier wird – und in bedenklichem Maße zunehmend von sich links und aufklärerisch auffassenden Geistern – so getan, als hätte man es auf diesem medialen Feld mit neutralem Boden zu tun, der nicht schon längst durchs nationale Interesse formatiert ist, als hätte man es nur bei den abweichenden Ansichten mit Ideologie, also Mythen zu tun und nicht erst Recht bei der konsensualen Meinung.

Der wohl wichtigste Philosoph der Neuzeit, G.W.F. Hegel drückte dieses dialektische Verhältnis mit seinen Begriffen "Weltgeist" und "List der Vernunft" aus: der Weltgeist ist ein ethisches Prinzip, das jedes Handeln einer bestimmten Epoche bestimmt, und die List der Vernunft bedeutet soviel wie das, was Marx später als "Sie wissen das nicht, aber sie tun es" formulierte.

In der alltäglichen Praxis des individuellen Lebens wird jeder Einzelne zu pragmatischen Handlungen gebracht, die notwendig undurchdacht sind; diese unterstehen bestimmten Prinzipien und Gewohnheiten der jeweiligen Zeit, die einem Prinzip der Vernunft entsprechen. Bereits bei Hegel war also klar, dass eine politische Macht einzig die Bestimmungsgewalt über die Struktur jener alltäglichen Verkehrsformen und keine Verschwörungen benötigt, um ihre Interessen durchzusetzen.