EU-Korruptionsskandal: "Hyperaktives" Marokko in Brüssel

Marokkogate statt Katargate: Jetzt rücken die Sozialdemokraten und umstrittene Entscheidungen zu Marokko schärfer ins Blickfeld.

Es war zuletzt deutlich etwas stiller um den als "Katargate" benannten Korruptionsskandal im Europaparlament geworden. Dabei zieht der Skandal immer weitere Kreise und das Blickfeld verschiebt sich immer stärker in Richtung Marokko. Telepolis hatte frühzeitig darauf hingewiesen, dass man es wohl eher mit einem "Marokkogate" statt mit einem "Katargate" zu tun hat.

Nun titelte auch der Spiegel zum Jahreswechsel: "'Marokkogate' im EU-Parlament" und schreibt mit Bezug auf die von Telepolis schon benannten Verstrickungen um den marokkanischen Auslandgeheimdienst DGED, dass dieser auf höchster Ebene an der Beeinflussung von Europaabgeordneten beteiligt war.

Der DGED soll demnach erst 2019 die beiden italienischen Europaabgeordneten Pier Antonio Panzeri und Andrea Cozzolino sowie Francesco Giorgi angeworben haben. Dass es Treffen sogar mit dem DGED-Chef gegeben hat, hatte Telepolis allerdings längst berichtet.

Völlig zutreffend merkt das Hamburger Nachrichtenmagazin an, dass die Rolle Marokkos in dem Skandal nicht so stark kritisiert wird wie die Katars. Während Katar in einer am 15. Dezember verabschiedeten Resolution von den Europaabgeordneten verurteilt wurde, herrscht zu Marokko weiter Schweigen im Walde.

Teilgeständnisse

Dabei haben zumindest Teilgeständnisse von inhaftierten Beschuldigten längst auf die Rolle Marokkos hingewiesen. Nach Giorgi, dem Lebensgefährten der ehemaligen Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili, hat dann zum Teil auch der Mann ausgepackt, der als zentrale Figur in dem Skandal gilt. Es handelt sich um den italienischen Ex-Europaparlamentarier Antonio Panzeri.

Er ist wie Kaili inhaftiert. In der Wohnung des 67-jährigen Sozialdemokraten Panzeri wurde nach Angaben der Ermittler Bargeld in Umfang von 600.000 Euro gefunden. Die Gelder, die in abgehörten Gesprächen als "Geschenke" verschleiert wurden, hat Francesco Giorgi verwaltet, der Lebensgefährte von Kaili. Das hat der Italiener gestanden, der als Assistent des Strippenziehers Panzeri beschäftigt war.

Derweil ist auch Panzeri teilweise geständig, wie die Zeitung La Repubblica aus den Vernehmungsprotokollen zitiert. Angeblich habe die Zusammenarbeit mit Marokko erst 2019 begonnen. Die Truppe sollte sich dafür "einsetzen, Resolutionen gegen das Land zu vermeiden" und dafür habe man "im Gegenzug 50.000 Euro erhalten".

Mit den Aussagen wurden nicht nur die Vorwürfe gegen Katar, sondern auch solche gegenüber Marokko erdrückender. Beide autokratischen Länder bestreiten dies allerdings weiter. Dass Panzeri Korruption ab 2019 zugibt, ist durchsichtig. Er versucht soweit möglich seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, denn zu diesem Zeitpunkt hätte er nicht als EU-Abgeordneter Geld bekommen und verteilt, da er 2019 ausgeschieden war.

Auf Basis von Panzeris Aussagen sind nun zwei weitere Europaparlamentarier noch deutlicher ins Blickfeld der Ermittler gerückt. Deshalb beantragte die belgische Justiz jetzt die Aufhebung ihrer Immunität beim Europaparlament.

Vorwürfe gegen Sozialdemokraten Tarabella und Cozzolino

Es handelt sich um den belgischen Sozialdemokraten Marc Tarabella und den italienischen Sozialdemokraten Andrea Cozzolino. Beide bestreiten weiter, Bestechungsgelder angenommen zu haben und Tarabella spricht von einer "Hexenjagd".

Schon Giorgi hatte die beiden als Mitwirkende in dem korrupten Netzwerk benannt, aber nach der Bestätigung von Panzeris wird Lage richtig kritisch für diese beiden Sozialdemokraten.

Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wird den Antrag der belgischen Justiz dem Parlament vorlegen.

Dann muss sich der Rechtsausschuss damit befassen. Danach wird das Plenum mit einfacher Mehrheit entscheiden. Metsola will das Verfahren prioritär behandeln. Da die beiden früheren Fraktionen und die nationalen Parteien sich von Tarabella und Cozzolino schon distanziert haben, gilt die Aberkennung der Immunität nur noch als Formsache.

Marokko im Fokus

Über das Vorgehen im Bestechungsskandal hatte schon Giorgi im Verhör Auskunft gegeben und dabei frühzeitig Marokko in den Fokus mit hineingenommen

Das Geld aus Marokko und Katar wurde unter Vertretern des Europäischen Parlaments, parlamentarischen Assistenten und anderen Persönlichkeiten umverteilt, die Abstimmungen und das Verhalten innerhalb der Brüsseler Institutionen beeinflussen könnten.

Schaut man sich dann genauer an, wo Panzeri gewirkt hat, rückt Marokko sogar ins Zentrum der Händel. Die Vorgänge seien über die Nichtregierungsorganisation (NGO) abgewickelt worden, hatte Giorgi erklärt. Die hatte ausgerechnet den Namen "Fight Impunity" (Bekämpft Straffreiheit).

Panzeri war in seiner Zeit als Europaparlamentarier Vorsitzender der Parlamentsdelegation für die Beziehungen zur Union des Arabischen Maghreb (DMAG). Dazu gehört eben nicht Katar, aber Marokko. Auch über diese Delegation soll massiv Einfluss auf die Politik genommen worden sein, um Entscheidungen positiv für Marokko zu beeinflussen.

So ist es für die Ermittler auch kein Zufall, dass an der Spitze der Delegation nach dem Abgang von Panzeri dann Cozzolino folgte. Zufall ist es auch nicht, dass dieser Giorgi als Assistent übernahm, der dann weiter die Bestechungsgelder verwaltet hat.

Panzeri habe stets die marokkanische Sache vertreten, hat auch dessen frühere Kollegin Ana Gomes erklärt. Die streitbare Sozialistin aus Portugal berichtete von "unzähligen Streits". Immer wieder habe Panzeri Resolutionen zur Frage der von Marokko illegal besetzen Westsahara und zu Menschenrechtsfragen erfolgreich torpediert.

Schon damit wird sein Teilgeständnis unglaubwürdig, dass er erst nach dem Ausscheiden aus dem Parlament gewirkt haben will. Den Bock zum Gärtner hatte das EU-Parlament mit Panzeri gemacht, der auch noch Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses war und stets die Menschenrechtsverletzungen Marokkos gedeckt hat.

Marokko und EU

Schon Gomes hatte erklärt, dass Panzeri ein marokkanischer Agent sei. Zwar schreibt der Spiegel, der Botschafter Marokkos in Polen Abderrahim Atmoun sei für die Führung des Trios zuständig gewesen. Doch Hinweise, welche die belgische Staatssicherheit VSSE hat, zielen deutlich weiter nach oben.

Demnach soll eher der Geheimdienstagent Agent Belharace Mohamed die Truppe geführt haben. Sogar Geheimdienstchef Yassine Mansouri soll sich nach Angaben der VSSE mit Mitgliedern des Trios getroffen haben, wie wir längst berichtet hatten.

Marokko sei "hyperaktiv" in Brüssel tätig, erklären Experten. Es fällt unter anderem das 2019 verabschiedete bilaterale Abkommen zwischen der EU und Marokko auf, wozu das Fischereiabkommen gehört.

Das ist unter sehr zweifelhaften Umständen entstanden und ist illegal, wie vor einem Jahr das Gericht der Europäischen Union (EuG) in Luxemburg geurteilt hat. Denn darüber wurden Ressourcen der besetzten Westsahara ohne die Zustimmung der Sahrauis ausgeplündert.

Dass sich der Sozialdemokrat und höchst umstrittene EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sofort auf die Seite von Marokko schlug, gemeinsam mit dem marokkanischen Außenminister vor die Presse trat und faktisch erklärte, dass man das Urteil umgehen werde, ließ tief blicken.

Man werde sicherstellen, dass das rechtliche Rahmenwerk erhalten bleibe, das die Stabilität und Fortdauer der Handelsbeziehungen garantiere, sagte Borrell.

Die obskure Rolle der Sozialdemokraten

Über einen unglaublichen Vorgang innerhalb der Sozialdemokratie hat auch der spanische Europaparlamentarier Miguel Urban berichtet. Er geht davon aus, dass die korrupte Truppe 2021 dafür gesorgt hat, dass die Saharaui-Menschenrechtsaktivistin Sultana Khaya als Kandidatin für den Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments ausgebootet wurde.

Eigentlich hatten die Sozialdemokraten der Kandidatin der Linken die Unterstützung für die Aktivistin aus der Westsahara zugesichert. Doch dann sei eine neue Abstimmung erzwungen worden. Die habe sich zudem dann aus "unerfindlichen" Gründen eine halbe Stunde verzögert.

Nach Angaben des Antikapitalisten Urban hätten die Mitglieder der S&D-Fraktion "Befehle erhalten, gegen Khayas Kandidatur zu stimmen". Danach hat die S&D‑Fraktion tatsächlich plötzlich aus "taktischen Gründen", wie eingeräumt wurde, anders gestimmt und sogar für die Kandidatin der extremen Rechten gestimmt.

Es wurde von einem obskuren Mailverkehr gesprochen, der nie richtig aufgeklärt werden konnte. Demnach hatten die Sozialdemokraten ihre Parlamentarier schriftlich angewiesen haben, gegen Khaya zu stimmen.

Unterstützt wurde von den Sozialdemokraten dann die bolivianische Putschistin Jeanine Áñez, also die Kandidatin der extremen Rechten im EU-Parlament.

Gemeinsame Sache mit den Rechten

Vom Sperrgürtel um die Rechtsextremen, von denen die spanischen Sozialdemokraten (PSOE) gerne sprechen, war nichts zu sehen, man stimmte gemeinsam mit den rechten Ultras von VOX gegen Khaya und für Áñez.

Den "EU#Friedensnobelpreis" bekam 2021 schließlich der russische Oppositionelle Alexej Nawalny. Insgesamt ist das ein ungeheuerlicher Vorgang, allerdings ist es nicht neu, dass zum Beispiel Leute wie der Sozialdemokrat Borrell immer wieder gemeinsame Sache mit Rechtsextremen machen. Das hat er am Beispiel Kataloniens durch seine enge Zusammenarbeit mit den Ultras gezeigt. Borrell wollte sogar Katalonien "desinfizieren".

Abzuwarten bleibt, was die Ermittlungen weiter an den Tag bringen und wie weit nach oben in der Sozialdemokratie und anderen Formationen die Korruption reicht.

Es ist ja auffällig, dass plötzlich im vergangenen Jahr der spanische Regierungschef Pedro Sánchez voll auf Schmusekurs zu Marokko ging und plötzlich im Schwenk um 180 Grad praktisch die Souveränität des Landes über seine besetzten Gebiete gegen UN-Resolutionen anerkannt hat.

Auch in der deutschen Außenpolitik zeichnet sich ein radikaler Schwenk gegenüber Marokko zum Nachteil der Westsahara, wo man im Ministerium von Annalena Baerbock und in der Ampel-Regierung allgemein eine neoliberale Wende erkennen kann.