EU-Taxonomie: Ein abgekarteter Handel

Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron, November 2021. Bild: Dati Bendo/EU-Kommission-Audiovisueller Dienst/gemeinfrei

Bundesregierung stellt sich offiziell gegen die Aufnahme der Atomkraft, will aber dagegen nicht vorgehen

Es war absehbar: Alles läuft wie geschmiert in Brüssel, besonders für das Atomstromland Frankreich. Dessen Präsident Emmanuel Macron kann neu strahlen über seinen Erfolg, dass Atomkraft nahezu ebenso zukunftsträchtig wie Sonnen-, Wind- und Wellenkraft eingestuft wird.

Es kam alles genau so, wie an dieser Stelle vor einem Monat vorab berichtet und wie es nun aus dem Entwurf für einen Rechtsakt zur Taxonomie, den die Brüsseler Behörde am Neujahrstag 2022 an die EU-Mitgliedstaaten versandt hat, hervorgeht.

"Macron bisher recht erfolgreich an der Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie gearbeitet. Er hat mit der Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen Deal angerührt, demzufolge neben der Atomkraft auch Erdgas als nachhaltig eingestuft werden soll", hatte Telepolis Anfang Dezember berichtet. Denn, das wird aus dem Entwurf ebenfalls klar, auch das klimaschädliche Gas soll, ebenfalls befristet, das Gütesiegel "nachhaltig" von der EU-Kommission erhalten.

Vor Wochen war schon zu beobachten, wie sich die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und diverse EU-Kommissare vorauseilend hinter den Deal von Merkel und Macron positionierten, so war es dann auch keinerlei Überraschung mehr, dass die EU-Kommission genau diesen Deal zum Jahreswechsel festzuklopfen versucht.

Investitionen mobilisieren, ohne nennenswerten Schaden für die Umwelt

Die EU-Taxonomie soll laut Brüsseler Behörde dabei helfen, "private Investitionen zu mobilisieren und Anlegern und Investoren Orientierung zu geben, welche Aktivitäten dabei helfen, in den nächsten 30 Jahren klimaneutral zu werden".

Die Taxonomie liste demnach Arten der Energieerzeugung auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, sich von ihren sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus in Richtung Klimaneutralität zu bewegen.

Gestützt auf wissenschaftliche Gutachten und den aktuellen Stand des technologischen Fortschritts ist die Kommission der Auffassung, dass Erdgas und Kernenergie die Transition zu kohlenstoffarmen Energiesystemen erleichtern und auf dem Weg in eine überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft eine Rolle spielen können. Das hat zur Folge, dass diese Energiequellen unter klaren und strengen Bedingungen als mit der Taxonomie-Verordnung vereinbar eingestuft werden – allerdings nur insoweit sie tatsächlich zum Übergang zur Klimaneutralität beitragen. Gas etwa muss bis 2035 aus erneuerbaren Quellen stammen oder niedrige Emissionen haben.

Europäische Kommission

Grundsätzlich sollen nur Arten der Energieerzeugung in die Taxonomie aufgenommen werden, bei denen "kein nennenswerter Schaden für die Umwelt" entsteht. Deshalb hatte das EU Joint Research Centre (JRC) einen Bericht für die Europäische Kommission verfasst, der genau zu diesem Schluss kam, wonach die Atomenergie angeblich keinen "signifikanten Schaden" für Mensch und Umwelt anrichte und deshalb als nachhaltige Technologie finanziell gefördert werden könne.

Fragwürdiges Gutachten

So versucht das JCR nur eine längst getroffene politische Entscheidung mit einem mehr als fragwürdigen Gutachten abzusichern, auf das sich die EU-Kommission nun wiederum stützt. Dabei hatte das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) dem JRC-Gutachten längst ein vernichtendes Urteil ausgestellt und ihm "schwerwiegende methodische Mängel" vorgeworfen.

Es würden "Schlussfolgerungen getroffen", deren "fachliche Herleitung an zahlreichen Stellen nicht nachvollzogen werden kann". Themenbereiche mit hoher Umweltrelevanz würden nur sehr reduziert dargestellt oder komplett ausgespart.

"Auswirkungen schwerer Unfälle – die es in den vergangenen Jahrzehnten der Nutzung dieser Energieform bereits mehrfach gegeben hat – auf die Umwelt wurden nicht in die Bewertung der Taxonomie-Fähigkeit der Kernenergienutzung einbezogen."

Natürlich wurde auch die ungelöste Entsorgungsfrage für Hunderttausende Jahre praktisch nicht berücksichtigt sowie etliche weitere Probleme.

Scheindebatte

Dass die Debatte um die Atomkraft als angeblicher Klimaretter eine Scheindebatte ist, das soll an dieser Stelle nicht ausgewalzt werden. Das kann auf Telepolis etwa am Beispiel Frankreich nachgelesen werden, wo man sich mit der Atompolitik in eine Sackgasse manövriert hat.

Mit seiner "Renaissance" der Atomenergie und seinem neuen "European Pressurized Reactor" (EPR) erleidet das Land seit 20 Jahren Schiffbruch. Und der EPR weist auch in China, wo die ersten beiden Meiler ans Netz gebracht werden konnten, katastrophale Konstruktionsfehler auf, womit die "Totgeburt" vor dem definitiven Aus steht.

Explodiert sind die Meiler bisher zwar noch nicht, aber an allen Standorten explodieren die Kosten – im französischen Flamanville von geplanten 3,3 schon auf 19,1 Milliarden Euro.

Dass es weder Frankreich noch Finnland gelungen ist, in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen EPR ans Netz zu bringen oder in der Slowakei ebenfalls seit Jahrzehnten an unsicheren Uraltmeilern herumgewerkelt wird, führt schon seit Längerem vor Augen, dass die Atomkraft real kaum etwas zur drängenden Klimakrise beitragen kann.

Dass Macron kürzlich angesichts des EPR-Desasters für die französische Atomindustrie die "Small Modular Reactors" (SMR) aus dem Hut gezaubert hat, ist ebenfalls nur ein Ablenkungsmanöver. Erstens gibt es bisher nicht einmal einen einsetzbaren SMR und zweitens würden Planung und Bau mindesten 10 bis 20 Jahre dauern. Bis dahin ist das Klima längst gekippt.

Allerdings hat Macron auch deutlich gemacht, dass bei seinen Atomplänen die militärischen Ziele der Atomstreitmacht Frankreich eine bedeutende Rolle spielen. "Ohne zivile Kernenergie, keine militärische Nuklearmacht", sagte er und bekannte offen, worum es dem Land eigentlich geht.

Würde es ihm real um Klimaschutz gehen, würden die vielen Milliarden, die auch über die Taxonomie weiterhin in eine Technik der Vergangenheit gesteckt werden sollen, in erneuerbare Energiequellen der Zukunft fließen. Damit könnte Frankreich auch real etwas dagegen tun, dass das Land jeden Winter vor einem Blackout steht. Die Gefahren sind nun, wegen des altersschwachen und zahlreich ausfallenden Atomkraftwerken, besonders groß.

Scholz in Paris

Interessant ist jetzt aber auch der Eiertanz der neuen Bundesregierung und der Ampelkoalition. Zwar lehnt die Bundesregierung offiziell die Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie ab. Sie will aber nichts dafür tun, um ihre Position auch durchzusetzen (vgl. dazu Atomkraft: Katerstimmung in "Ampel"-Parteien).

Deutlich wurde das bereits beim Antrittsbesuch des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) in Paris. Das Thema "Atomkraft und Taxonomie" wurde da ausgeklammert. Aber es kommt noch besser. Aus dem Entwurf für einen Koalitionsvertrag, der dem Handelsblatt vorlag, verschwand auf mysteriöse Weise auch die Passage zur Taxonomie": "Gegen die Aufnahme von Atomkraft und Gas als nachhaltige Technologie wird sich die Bundesregierung einsetzen", hieß es dort zunächst noch.

Jedoch ist diese Passage in der Endfassung nicht mehr zu finden. Deshalb ist es nur richtig, dass auch im Focus darauf verwiesen wird, dass die Grünen nun massiv selbst das "Greenwashing" betreiben, das sie sonst gern anderen vorwerfen. Focus titelt: "Die gespielte Atom-Empörung der Grünen: Sie wussten doch, was passiert."

Nach der anfänglich theatralisch vorgebrachten Empörung, wonach die Partei angeblich gegen die "EU-Taxonomie-Pläne zur Atomkraft kämpfen" wolle, werden längst andere Töne angeschlagen.

Noch am Montag erklärte Ingrid Nestle dem Handelsblatt: "Wir können dem Vorschlag der EU-Kommission nicht zustimmen. Atomkraft kann niemals nachhaltig sein." Die energiepolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion erklärte weiter. "Es wäre ein schwerer Fehler, die Atomkraft in die Taxonomie aufzunehmen. Das würde das gesamte Instrument erheblich beschädigen."

Doch inzwischen rudert man längst in der "Ökopartei" zurück und bereitet die Anhänger auf einen neuen realpolitischen Kurs vor. Denn die Bundesregierung hat vor, nichts gegen den Entwurf zum Rechtsakt zu unternehmen und will ihn damit durchwinken.

Hinter verschlossenen Türen: Nord Stream 2 und LNG-Infrastruktur

In Übereinstimmung mit Informationen, die Telepolis vorliegen, hat auch die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass sich die Bundesregierung in dem bis Mitte Januar laufenden Konsultationsprozess schlicht und ergreifend enthalten will.

"Hinter verschlossenen Türen" hätten sich die Chefs der drei Ampelparteien längst darauf geeinigt, nicht gegen den Vorschlag der Europäischen Kommission vorzugehen und man werde sich bei der Abstimmung enthalten, wenn die EU-Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfeltreffen später in diesem Jahr das letzte Wort haben werden, zitierte Reuters zwei mit der Entscheidung vertraute Personen.

Schaut man sich an, wie sich nun auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) äußert, ist auch klar, dass jetzt nur noch grünes Theater gespielt wird. Denn sie meint aktuell, dass es nur wenig Chancen gebe, die EU-Pläne zur Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie noch zu verändern zu können. "Ob der Vorschlag noch zu ändern ist, noch aufzuhalten ist, das wage ich zu bezweifeln", sagte sie im Bayrischen Rundfunk.

Die Position der Bundesregierung sei geschlossen: "Die SPD, Bundeskanzler Olaf Scholz, haben alle insgesamt deutlich gemacht, dass Atomkraft aus unserer Sicht, aus Sicht der deutschen Bundesregierung, keine nachhaltige Investition ist."

Wie sich das damit verträgt, dass die entsprechende Passage dazu aus dem Koalitionsvertrag gestrichen wurde und man ganz offensichtlich nichts unternehmen will, um den auch wirtschaftlich ruinösen Atom-Wahnsinn zu stoppen, bleibt ein grünes Rätsel.

Lemke und ihre Partei fallen damit auch den grünen Partnern in Europa in den Rücken. Denn die Europäischen Grünen prüfen eine Klage gegen die Pläne der EU-Kommission, neben Atomkraft auch fossiles Gas als nachhaltig einzustufen, was Merkel im Deal mit Frankreich mit Blick auf die Pipeline Nord Stream 2 durchgesetzt hatte.

"Wir erwägen als europäische Grüne vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Pläne der EU-Kommission, Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke als nachhaltig und klimafreundlich einzustufen, zu klagen", sagte der Österreicher Thomas Waitz. Gegenüber der Welt meinte er, die Pläne schleuderten Europa "zurück ins energiepolitische Mittelalter".

Die Ablehnung der EU-Pläne ist in Österreich besonders groß. Dort wirft Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) der EU-Kommission vor, "in einer Nacht- und Nebelaktion" versucht zu haben, "Atomkraft und Gas grün zu waschen". Schon der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Entwurfs zeige, dass die Kommission selbst nicht von ihrer Entscheidung überzeugt sei.

Anders als ihre grünen Kollegen in Deutschland ist die Österreicherin allerdings glaubwürdig. Sie hatte sich auch gegen die Untätigkeit angesichts der unsicheren Atommeiler in der Slowakei ins Zeug gelegt und bereits Vorbereitungen für eine Klage gegen den Taxonomie-Entwurf getroffen.

"Sollten diese Pläne so umgesetzt werden, werden wir klagen. Denn Atomkraft ist gefährlich und keine Lösung im Kampf gegen die Klimakrise", twitterte die Umweltministerin weiter.

Für Österreich ist ganz klar: Weder die Atomkraft noch das Verbrennen von fossilem Erdgas haben in der Taxonomie etwas verloren. Denn sie sind klima- und umweltschädlich und zerstören die Zukunft unserer Kinder.

Leonore Gewessler

Die Linke fordert derweil auch, dass Deutschland den Klageweg Österreichs unterstützen sollte und bringt die Bundesregierung und vor allem die Grünen und ihr Schmierentheater in Bedrängnis. Der Europaexperte der Bundestagsfraktion Andrej Hunko fordert, dass sich die Bundesregierung der geplanten Klage anschließen müsse.

Eine einfache Nicht-Zustimmung im EU-Rat reicht nicht und würde den Kommissionsvorschlag de facto durchwinken, weil dort eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist, die aktuell nicht erreichbar ist.

Andrej Hunko

Gegenüber Telepolis erklärte Hunko: "Hinter den Kulissen der EU ist die Sache bereits ausgedealt." Frankreich bekomme die Förderung der Atomenergie, Deutschland die des Gases. "Mit der Einstufung insbesondere der Atomenergie als nachhaltig und klimafreundlich werden weltweit wirkende verheerende Standards gesetzt", fügt der Parlamentarier an.

Bemerkenswert sei für ihn auch, "dass bei der Einstufung der Gaserzeugung Fracking offenbar kein Thema ist." Hunko meint, es gehe "nicht um russisches Gas, sondern um die Schaffung einer LNG-Infrastruktur, die auch das für das Klima besonders schädliche Fracking-Gas beinhaltet".