Es brodelt, es brabbelt, es raunt im Netz
Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
dass sich die Debattenkultur in Zeiten von Corona, Emotionalisierung und einer mitunter schwer durchschaubaren Mischung aus Fachinformation, Kritik und Verschwörungsmythen nicht zum Besseren entwickelt hat, war in dieser Kolumne schon mehrfach Thema – und wird es leider wohl auch künftig sein. In welchem Ausmaß die Freiheit in Netz und Medien bedroht ist, muss am heutigen Internationalen Tag der Pressefreiheit aber in einem besonderen Maße Beachtung finden.
Schon in der vergangenen Woche waren die Freiheit der Information an sich und das Recht auf der Menschen auf unverfälschte Information bei Telepolis wiederholt Thema. Unser Autor Roland Bathon etwa hat den Blick nach Osten geworfen und beunruhigendes aus Russland gemeldet. Dort sei die Staatsmacht „aktiv auf dem Weg, im Onlinebereich eine ähnliche Meinungshoheit herzustellen, wie sie sie im Inland bei den klassischen Medien schon hat“. Im Ziel stünden vor allem kritische Webmedien mit nennenswertem Einfluss und soziale Netzwerke, so Bathon.
Der Kampf um Verbreitung von Information und Datenzugang wird natürlich auch hierzulande ausgefochten. Am Mittwoch berichtete Telepolis exklusiv über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur Auskunftspflicht von Grundbuchämtern. Hintergrund ist der Versuch von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seines Ehemanns Daniel Funke, Grundbuchauskünfte über ihre millionenschweren Immobiliendeals in Berlin zu unterbinden. Zu welchem Urteil die Experten des Bundestags kamen, das lesen Sie hier.
Besonders gefreut haben wir uns über einen neuen Autor: Jan Hegenberg vom Umweltblog Der Graslutscher hat sich mit der Frage befasst, ob und wie wir 50 Millionen E-Autos aufladen können und warum die nicht alle gleichzeitig an der Steckdose hängen (so wie Benzin- und Dieselautos nicht gleichzeitig an der Tankstelle stehen).
Dass das Thema E-Mobilität auf unerwartet kontroverse Reaktionen trifft, hatten wir in den vergangenen Wochen schon erfahren dürfen. Weil Debatten aber zur publizistischen DNA von Telepolis gehören, freuen wir uns auf weitere Texte zum Thema und zur Frage: Wie kann die Mobilitätswende gelingen und was bringt sie der Umwelt und uns?
Geraune im Netz und eine misslungene Debatte
Dass Diskussionen auch in die Hose gehen können, belegt ein Austausch über Twitter mit dem Moderator und Podcaster Marcus Richter aka @monoxyd. Richter erkundigte sich in der vergangenen Woche mit einem Link zu einem Kommentar unseres Kollegen Rüdiger Suchsland über die kontrovers diskutierte Künstleraktion #allesdichmacheen „warum Telepolis in der Art und Weise existiert, wie es existiert“. Telepolis würde "raunen" und "raunerisch" berichten, schob Richter nach.
Weil wir bei Telepolis an einem – auch kritischen – Dialog mit Kolleginnen und Kollegen interessiert sind, ging ich auf die Richter’sche Frage ein. Das Ergebnis war ernüchternd. Er erkundigte sich – um eine konkrete Frage gebeten – nach "Moral" und "Ethik" unserer Arbeit. Was soll man da antworten? Mir fiel der Kodex des Deutschen Presserates ein, was den Fragesteller wiederum nicht befriedigte. Der Dialog sei "vergebene Liebesmüh", befand Richter, der Telepolis trotz solcher, solcher und solcher Inhalte zum Trotz kurzerhand rechten Medien zuordnete.
Das Twitter-Intermezzo ist symptomatisch für ein um sich greifendes Lagerdenken in Teilen der Medienbranche und in der damit einhergehender pauschalen Beurteilung von Kolleginnnen und Kollegen sowie ganzer Redaktion. Oder, wie es die Medienforscherin Sabine Schiffer heute im Interview mit Telepolis ausdrückte, für die "Verengung von Debattenräumen durch die starke Polarisierung".
Arkás: Lebenslänglich (3) (8 Bilder)
Richter jedenfalls war sich am Ende nicht mehr sicher, ob er "ein grundlegendes Problem" sieht oder Kollegen Suchsland wegen dessen Formulierung kritisiert, es habe eine „öffentliche Hinrichtungs- und Einschüchterungskampagne“ gegen die Macher von #allesdichtmachen gegeben. Dass der SPD-Politiker Garrelt Duin, Mitglied im WDR-Medienrat, ebenfalls auf Twitter de facto ein Berufsverbot für Teilnehmer der Aktion gefordert hatte (und den Tweet nach Kritik löschte) oder es Morddrohungen gegen andere Involvierte gab – geschenkt!
Journalismus, staatliche Legitimation und gesellschaftliche Verhältnisse
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Wenn man in Zeiten erwähnter Polarisierung Meinungsvielfalt und Debattenfreiheit verteidigt, kann das mitunter unangenehme Folgen haben. Während der zitierte Kollege aus dem linksliberalen Spektrum Telepolis mit rechten Medien gleichsetzte, warfen Anhänger der Querdenken-Bewegung uns im Leserforum „Volksverhetzung“ vor uns tobten, nachdem der ver.di-Funktionär Jörg Reichel die "Corona-Proteste" als "Teil einer rechtsradikalen Sammlungsbewegung" bezeichnet hatte.
Empfehlenswert ist ein Interview unserer Redakteurin Claudia Wangerin mit dem Politologen Hajo Funke der Freien Universität Berlin, Hajo Funko, der bei klarer politischer Kritik an der Querdenken-Bewegung auf eine Legitimationskrise des Staates durch dessen Versagen in der Corona-Krise verweist.
"Die Verhältnisse sind aufgrund dieses Mangels an Legitimation ins Rutschen gekommen", so Funke, "und deshalb muss man vorsichtig sein und darf Menschen, die Kritik daran üben, nicht gleich denunzieren – oder gar mit dem Tod bedrohen, wie es manchen der Schauspieler passiert ist, die mit der Aktion 'allesdichtmachen' Kritik üben wollten."
Im Forum unter der Kolumne vergangene Woche waren zahlreich Leserinnen und Leser meiner Bitte gefolgt und haben sich zu inhaltlichen Ausrichtung von Telepolis geäußert. Darunter der Wunsch nach "einem noch investigativeren Journalismus im Stil des alten Spiegels unter Augstein, aber angepasst an unsere Zeit und unsere Bedürfnisse".
Ein "Versagen der Linken" befasste einen anderen User, verbunden mit der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ein Dritter äußerte seinen Zuspruch zu Texten, die den Finger "in die wirklich dringlichen Wunden dieser Zeit legen", und nannte als Beispiel die Identitätspolitik.
Wir nehmen solche Vorschläge wahr und sind weiter damit befasst, das inhaltliche Profil von Telepolis zu schärfen. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem Claim, dem Slogan von Telepolis. Diskutiert haben wir in der Redaktion den Untertitel "Magazin für Meinung und Freiheit". Da fehlte uns aber noch die Information und der Nachrichtenjournalismus. Was denken Sie?
Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen,
Harald Neuber
Eine Antwort an das Forum: Corona-Neuinfektionen und andere strittige Fragen zur Pandemie
Ende Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte das Online-Portal regensburg-digital.de einen Gastbeitrag, der sich mit seiner Meinung nach kritikwürdigen Äußerungen von Fachleuten zur Corona-Pandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus befasste. Unter der Überschrift Lassen Sie mich durch, ich bin Experte! erwähnt der Text auch Telepolis und unseren Autor Prof. Dr. Christof Kuhbandner.
Kritisiert wurden vier Aussagen, von Prof. Dr. Christof Kuhbandner, zu denen der Gastautor von regensburg-digital.de schreibt: "Vielleicht konnte man so etwas damals noch behaupten. Aber eigentlich nicht."
Auch wenn es in dieser Kolumne generell um Fragen aus dem Forum gehen soll, haben wir Herrn Kuhbandner für diesen Kurz-Check um eine Antwort zu dem externen Feedback gebeten. Hier seine Antworten:
- Mit "Inzidenz" bezeichnet das RKI die Zahl der Personen, bei denen unabhängig von einer Erkrankung mittels Diagnostiktest eine Infektion mit SARS-Coronavirus-2 gefunden wurde, pro 100.000 Bevölkerung. Dieser Wert gibt - aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten - zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder. Zudem unterliegt dieser Wert zunehmend schwankenden Erfassungswahrscheinlichkeiten, die völlig unabhängig vom eigentlichen Infektionsgeschehen sind.
- Bewertungsgrundlage für die Auswahl von Schutzmaßnahmen sollte nicht die Inzidenz der Infektionen sein, sondern vielmehr die Häufigkeit der Erkrankungen und ihrer jeweiligen Schwere, also insgesamt die Krankheitslast. Die Krankheitslast berücksichtigt unter anderem Hospitalisierungen, krankheitsbedingten Arbeitsausfall, Behinderung und verlorene Lebensjahre.
- Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem ob sie zum Beispiel bei primär gesunden Studierenden, bei schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen, bei besonders vulnerablen Menschen, oder diffus in der Gesamtbevölkerung verteilt gemessen wird.
- Die Sieben-Tages-Inzidenz eines Landkreises berücksichtigt weder die Dynamik noch die Lage in angrenzenden Landkreisen. Eine gleich hohe 7-Tages-Inzidenz kann in einem Szenario (z.B. Verschlechterung der Lage in Nachbarregionen) eine Verschärfung von Maßnahmen erfordern, während sie in einem anderen Szenario (z.B. stark sinkender Trend) gar eine Lockerung erlauben könnte.
Die Infektionszahlen hängen stark von der Verfügbarkeit von Tests, der Qualität der Tests und der Teststrategie ab. Trotzdem sind sie die besten frühen Indikatoren, um einzugreifen, wenn sich das Infektionsgeschehen ändert. Auf Dauer ist es gut, gemäß einer standardisierten Strategie regelmäßige Tests in gut definierten Zufallsstichproben durchzuführen, um das Infektionsgeschehen richtiger abbilden zu können.
Also das ist natürlich so, wenn man sehr viel testet und auch sehr sensitiv Fälle entdeckt, kann die Fallzahl wieder steigen (…). Das Testverhalten verändert die Reproduktionszahl nur dann, wenn es ein sehr abrupt verändertes Testverhalten ist, also wenn bei diesen ersten vier Tagen, die sozusagen der Zähler sind, wenn dort abrupt jetzt mehr getestet wird, dann kann sich zwischendurch mal die Reproduktionszahl auch erhöhen.
- Methodenteil: "Die Berechnungen basieren auf den übermittelten Sterbefällen unter den Sars-CoV-2-Meldefällen (eGrafik 1 und 2). Um eine Überschätzung zu vermeiden, werden nur Sterbefälle einbezogen, bei denen COVID-19 als Ursache übermittelt wurde (eMethodenteil 1)"
- Ergebnisteil: "In den Meldedaten für 2020 gab es insgesamt 38.641 Todesfälle, bei denen in 31.638 Fällen (81,9 Prozent) COVID-19 als Todesursache übermittelt wurde."
Rein visuell erkennt man, dass 2020 kein auffälliges Jahr in Bezug auf die Übersterblichkeit war. Wenn man die Todeszahlen aufgeschlüsselt nach unterschiedlichen Altersklassen, so ergeben sich die Darstellungen aus Abbildung 3.2. Auch hier wird offensichtlich, dass über das gesamte Jahr 2020 betrachtet in keiner Altersgruppe eine Übersterblichkeit sichtbar wird.
Die Übersterblichkeiten sind zum Jahreswechsel abgeklungen und ab der 7. Woche ist eine Untersterblichkeit zu beobachten, d.h. in den einzelnen Altersgruppen sterben derzeit weniger Menschen als zu erwarten wäre (vor der Pandemie); die roten Kurven liegen unter dem grün gestrichelten Durchschnitt. Man sieht, dass die Sterberaten in den Wochen 8-13 auf diesen niedrigeren Niveaus bleiben. Diese Sterberaten schließen auch alle Todesfälle von oder mit einer registrierten COVID-19-Infektion ein. Für die Altersgruppe 35 - 59 Jahre (oberer Plot) liegt die Sterblichkeit etwa 10% unter dem Niveau der vergangenen Jahre. Gleiches gilt für die Altersgruppen 60 - 79 und 80+, die in der zweiten Welle deutlich stärker betroffen waren.