Es brodelt, es brabbelt, es raunt im Netz

Läuft nicht so gut im Netz, vor allem seit Corona. Bild: Stefan Rüegger/SAJV, CC BY 2.0

Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

dass sich die Debattenkultur in Zeiten von Corona, Emotionalisierung und einer mitunter schwer durchschaubaren Mischung aus Fachinformation, Kritik und Verschwörungsmythen nicht zum Besseren entwickelt hat, war in dieser Kolumne schon mehrfach Thema – und wird es leider wohl auch künftig sein. In welchem Ausmaß die Freiheit in Netz und Medien bedroht ist, muss am heutigen Internationalen Tag der Pressefreiheit aber in einem besonderen Maße Beachtung finden.

Schon in der vergangenen Woche waren die Freiheit der Information an sich und das Recht auf der Menschen auf unverfälschte Information bei Telepolis wiederholt Thema. Unser Autor Roland Bathon etwa hat den Blick nach Osten geworfen und beunruhigendes aus Russland gemeldet. Dort sei die Staatsmacht „aktiv auf dem Weg, im Onlinebereich eine ähnliche Meinungshoheit herzustellen, wie sie sie im Inland bei den klassischen Medien schon hat“. Im Ziel stünden vor allem kritische Webmedien mit nennenswertem Einfluss und soziale Netzwerke, so Bathon.

Der Kampf um Verbreitung von Information und Datenzugang wird natürlich auch hierzulande ausgefochten. Am Mittwoch berichtete Telepolis exklusiv über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur Auskunftspflicht von Grundbuchämtern. Hintergrund ist der Versuch von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seines Ehemanns Daniel Funke, Grundbuchauskünfte über ihre millionenschweren Immobiliendeals in Berlin zu unterbinden. Zu welchem Urteil die Experten des Bundestags kamen, das lesen Sie hier.

Besonders gefreut haben wir uns über einen neuen Autor: Jan Hegenberg vom Umweltblog Der Graslutscher hat sich mit der Frage befasst, ob und wie wir 50 Millionen E-Autos aufladen können und warum die nicht alle gleichzeitig an der Steckdose hängen (so wie Benzin- und Dieselautos nicht gleichzeitig an der Tankstelle stehen).

Dass das Thema E-Mobilität auf unerwartet kontroverse Reaktionen trifft, hatten wir in den vergangenen Wochen schon erfahren dürfen. Weil Debatten aber zur publizistischen DNA von Telepolis gehören, freuen wir uns auf weitere Texte zum Thema und zur Frage: Wie kann die Mobilitätswende gelingen und was bringt sie der Umwelt und uns?

Geraune im Netz und eine misslungene Debatte

Dass Diskussionen auch in die Hose gehen können, belegt ein Austausch über Twitter mit dem Moderator und Podcaster Marcus Richter aka @monoxyd. Richter erkundigte sich in der vergangenen Woche mit einem Link zu einem Kommentar unseres Kollegen Rüdiger Suchsland über die kontrovers diskutierte Künstleraktion #allesdichmacheen „warum Telepolis in der Art und Weise existiert, wie es existiert“. Telepolis würde "raunen" und "raunerisch" berichten, schob Richter nach.

Weil wir bei Telepolis an einem – auch kritischen – Dialog mit Kolleginnen und Kollegen interessiert sind, ging ich auf die Richter’sche Frage ein. Das Ergebnis war ernüchternd. Er erkundigte sich – um eine konkrete Frage gebeten – nach "Moral" und "Ethik" unserer Arbeit. Was soll man da antworten? Mir fiel der Kodex des Deutschen Presserates ein, was den Fragesteller wiederum nicht befriedigte. Der Dialog sei "vergebene Liebesmüh", befand Richter, der Telepolis trotz solcher, solcher und solcher Inhalte zum Trotz kurzerhand rechten Medien zuordnete.

Das Twitter-Intermezzo ist symptomatisch für ein um sich greifendes Lagerdenken in Teilen der Medienbranche und in der damit einhergehender pauschalen Beurteilung von Kolleginnnen und Kollegen sowie ganzer Redaktion. Oder, wie es die Medienforscherin Sabine Schiffer heute im Interview mit Telepolis ausdrückte, für die "Verengung von Debattenräumen durch die starke Polarisierung".

Arkás: Lebenslänglich (3) (8 Bilder)

Richter jedenfalls war sich am Ende nicht mehr sicher, ob er "ein grundlegendes Problem" sieht oder Kollegen Suchsland wegen dessen Formulierung kritisiert, es habe eine „öffentliche Hinrichtungs- und Einschüchterungskampagne“ gegen die Macher von #allesdichtmachen gegeben. Dass der SPD-Politiker Garrelt Duin, Mitglied im WDR-Medienrat, ebenfalls auf Twitter de facto ein Berufsverbot für Teilnehmer der Aktion gefordert hatte (und den Tweet nach Kritik löschte) oder es Morddrohungen gegen andere Involvierte gab – geschenkt!

Journalismus, staatliche Legitimation und gesellschaftliche Verhältnisse

Was bleibt, ist die Erkenntnis: Wenn man in Zeiten erwähnter Polarisierung Meinungsvielfalt und Debattenfreiheit verteidigt, kann das mitunter unangenehme Folgen haben. Während der zitierte Kollege aus dem linksliberalen Spektrum Telepolis mit rechten Medien gleichsetzte, warfen Anhänger der Querdenken-Bewegung uns im Leserforum „Volksverhetzung“ vor uns tobten, nachdem der ver.di-Funktionär Jörg Reichel die "Corona-Proteste" als "Teil einer rechtsradikalen Sammlungsbewegung" bezeichnet hatte.

Empfehlenswert ist ein Interview unserer Redakteurin Claudia Wangerin mit dem Politologen Hajo Funke der Freien Universität Berlin, Hajo Funko, der bei klarer politischer Kritik an der Querdenken-Bewegung auf eine Legitimationskrise des Staates durch dessen Versagen in der Corona-Krise verweist.

"Die Verhältnisse sind aufgrund dieses Mangels an Legitimation ins Rutschen gekommen", so Funke, "und deshalb muss man vorsichtig sein und darf Menschen, die Kritik daran üben, nicht gleich denunzieren – oder gar mit dem Tod bedrohen, wie es manchen der Schauspieler passiert ist, die mit der Aktion 'allesdichtmachen' Kritik üben wollten."

Im Forum unter der Kolumne vergangene Woche waren zahlreich Leserinnen und Leser meiner Bitte gefolgt und haben sich zu inhaltlichen Ausrichtung von Telepolis geäußert. Darunter der Wunsch nach "einem noch investigativeren Journalismus im Stil des alten Spiegels unter Augstein, aber angepasst an unsere Zeit und unsere Bedürfnisse".

Ein "Versagen der Linken" befasste einen anderen User, verbunden mit der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ein Dritter äußerte seinen Zuspruch zu Texten, die den Finger "in die wirklich dringlichen Wunden dieser Zeit legen", und nannte als Beispiel die Identitätspolitik.

Wir nehmen solche Vorschläge wahr und sind weiter damit befasst, das inhaltliche Profil von Telepolis zu schärfen. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem Claim, dem Slogan von Telepolis. Diskutiert haben wir in der Redaktion den Untertitel "Magazin für Meinung und Freiheit". Da fehlte uns aber noch die Information und der Nachrichtenjournalismus. Was denken Sie?

Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen,

Harald Neuber

Eine Antwort an das Forum: Corona-Neuinfektionen und andere strittige Fragen zur Pandemie

Ende Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte das Online-Portal regensburg-digital.de einen Gastbeitrag, der sich mit seiner Meinung nach kritikwürdigen Äußerungen von Fachleuten zur Corona-Pandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus befasste. Unter der Überschrift Lassen Sie mich durch, ich bin Experte! erwähnt der Text auch Telepolis und unseren Autor Prof. Dr. Christof Kuhbandner.

Kritisiert wurden vier Aussagen, von Prof. Dr. Christof Kuhbandner, zu denen der Gastautor von regensburg-digital.de schreibt: "Vielleicht konnte man so etwas damals noch behaupten. Aber eigentlich nicht."

Auch wenn es in dieser Kolumne generell um Fragen aus dem Forum gehen soll, haben wir Herrn Kuhbandner für diesen Kurz-Check um eine Antwort zu dem externen Feedback gebeten. Hier seine Antworten:

Kritik an der These: Die Anzahl der Neuinfektionen ist nicht aussagekräftig.
Prof. Dr. Christof Kuhbandner: Das ist ja ein Punkt, der inzwischen von verschiedenen Experten immer wieder benannt wird: So lange man keine repräsentative Stichprobe hat, die man immer wieder mit denselben Kriterien testet, ist die beobachtete Anzahl der Neuinfektionen von der Anzahl der Tests, den Kriterien, wann jemand getestet wird bzw. der aktuellen Motivation in der Bevölkerung, sich testen zu lassen und der konkreten Auswertungspraxis (auf wie viele Genabschnitte wird getestet, ab welchem CT-Wert wird auf "positiv" entschieden) abhängig.
Das wurde beispielsweise prominent von Klaus Stöhr (ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms der WHO) und Detlev Krüger (27 Jahre Chefvirologe an der Berliner Charité vor Drosten) in einem offenen Brief an die Bundesregierung dargestellt. Sie schreiben dort:
  1. Mit "Inzidenz" bezeichnet das RKI die Zahl der Personen, bei denen unabhängig von einer Erkrankung mittels Diagnostiktest eine Infektion mit SARS-Coronavirus-2 gefunden wurde, pro 100.000 Bevölkerung. Dieser Wert gibt - aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten - zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder. Zudem unterliegt dieser Wert zunehmend schwankenden Erfassungswahrscheinlichkeiten, die völlig unabhängig vom eigentlichen Infektionsgeschehen sind.
  2. Bewertungsgrundlage für die Auswahl von Schutzmaßnahmen sollte nicht die Inzidenz der Infektionen sein, sondern vielmehr die Häufigkeit der Erkrankungen und ihrer jeweiligen Schwere, also insgesamt die Krankheitslast. Die Krankheitslast berücksichtigt unter anderem Hospitalisierungen, krankheitsbedingten Arbeitsausfall, Behinderung und verlorene Lebensjahre.
  3. Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem ob sie zum Beispiel bei primär gesunden Studierenden, bei schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen, bei besonders vulnerablen Menschen, oder diffus in der Gesamtbevölkerung verteilt gemessen wird.
  4. Die Sieben-Tages-Inzidenz eines Landkreises berücksichtigt weder die Dynamik noch die Lage in angrenzenden Landkreisen. Eine gleich hohe 7-Tages-Inzidenz kann in einem Szenario (z.B. Verschlechterung der Lage in Nachbarregionen) eine Verschärfung von Maßnahmen erfordern, während sie in einem anderen Szenario (z.B. stark sinkender Trend) gar eine Lockerung erlauben könnte.
Berichtet hatte darüber z.B. die Welt oder der Focus oder ntv.
Dass dem so ist und man eine repräsentative Stichprobe nötig wäre, wurde immerhin nach einem Jahr (das ist natürlich ironisch gemeint) auch in einer Stellungnahme der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik, der deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, der Society for Medical Decision Making und anderen Fachgesellschaften (siehe Autorenverzeichnis am Ende dieser Stellungnahme) bestätigt.

Die Infektionszahlen hängen stark von der Verfügbarkeit von Tests, der Qualität der Tests und der Teststrategie ab. Trotzdem sind sie die besten frühen Indikatoren, um einzugreifen, wenn sich das Infektionsgeschehen ändert. Auf Dauer ist es gut, gemäß einer standardisierten Strategie regelmäßige Tests in gut definierten Zufallsstichproben durchzuführen, um das Infektionsgeschehen richtiger abbilden zu können.

Zum Problem der nicht interpretierbaren Infektionszahlen wurde kürzlich auch ein Fachartikel im Lancet veröffentlicht.
Dass es besser geht, zeigt z.B. England, dort wird vom ONS seit längerem eine solche Stichprobe erhoben.
Kritik an der These: Mehr Tests finden mehr Infizierte.
Prof. Dr. Christof Kuhbandner: Dass dem so ist, zeigen bereits die verschiedenen Links oben. Interessanterweise wurde damals in einer Pressekonferenz des RKI (Sonderpressekonferenz der RKI zur Reproduktionszahl vom 12.5.2020) von einem Journalisten mit Bezugnahme auf meinen Namen genau diese Frage an den RKI-Vizepräsidenten Lars Schaade gestellt, und er hat das selbst bestätigt. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob er erwarten würde, dass angesichts der wieder steigenden Zahl der Tests die Infektionszahlen steigen würde, sagte er wortwörtlich:

Also das ist natürlich so, wenn man sehr viel testet und auch sehr sensitiv Fälle entdeckt, kann die Fallzahl wieder steigen (…). Das Testverhalten verändert die Reproduktionszahl nur dann, wenn es ein sehr abrupt verändertes Testverhalten ist, also wenn bei diesen ersten vier Tagen, die sozusagen der Zähler sind, wenn dort abrupt jetzt mehr getestet wird, dann kann sich zwischendurch mal die Reproduktionszahl auch erhöhen.

Das RKI bestätigt also hiermit, dass eine Erhöhung der Testanzahl die Anzahl der gefundenen Neuinfektionen - und damit die Reproduktionszahl R - künstlich nach oben verzerrt. Vor allem ist hierzu folgende Anmerkung wichtig: Wenn – wie im März – die Zahlen kontinuierlich steigen, ist das natürlich nicht ein kurzes, sondern ein längerfristiges Phänomen.
Kritik an der These: Infizierte haben oft gar kein Corona (PCR-Aussagekraft).
Prof. Dr. Christof Kuhbandner: Der Hintergrund ist hier, dass ein positiver PCR-Test nicht notwendigerweise heißen muss, dass (1) eine Person überhaupt infiziert ist und (2), dass eine Person die Krankheit Covid-19 entwickelt hat und deswegen an einer Sars-CoV-2 Infektion behandelt wird bzw. verstorben ist.
Zu (1): Hier geht es darum, dass es falsch-positive Testergebnisse geben kann. Hierzu gibt es verschiedene Quellen. Das zeigen zum einen Studien wie beispielsweise diese – u.a. ist hier Christian Drosten Mitautor –, laut der die falsch-positive Rate bei den PCR-Tests in der Laborpraxis durchschnittlich in etwa bei 0.5 Prozent liegt.
Laut einer mir vorliegenden E-Mail von Prof. Wildner vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) rechnete zumindest damals im Sommer 2020 auch das LGL in ihren epidemiologischen Schätzungen mit Szenarios von Falsch-positiv-Raten von 0,1, 0.3 und 0.5 Prozent.
Wichtig ist die Anmerkung, dass sich bei Massentestungen in der Größenordnung von einer Million Tests pro Woche in Bezug auf relativ seltene Infektionen sich selbst so kleine falsch-positiv-Raten fatal auswirken. Bei einer Million Tests an in Wirklichkeit nicht infizierten Menschen ergeben sich bei einer Falsch-positiv-Rate von 0,5 Prozent 5.000 falsch-positive Testergebnisse.
Bei einer relativ großen Zahl der erhaltenen "positiven" Testergebnisse handelt es sich in Wirklichkeit also gar nicht um echte Infektionen oder Erkrankungen, sondern um falsch-positive Testergebnisse.
Zu (2): Hier geht es darum, dass viele der vom RKI als "Covid-19-Hospitalisierte" bzw. Als "Covid-19-Todesfälle" geführten Personen in Wirklichkeit gar nicht wegen Covid-19 im Krankenhaus liegen bzw. verstorben sind. Der Grund ist, dass das RKI alle Personen mit positivem PCR-Testergebnis als "Covid-19-hospitalisiert" bzw. "Covid-19-Sterbefall" zählt, unabhängig davon wegen was die Personen im Krankenhaus liegen oder verstorben sind.
Eindrücklich ist hier eine Recherche der Zeit, demnach 20-30 Prozent der vom RKI als "COVID-19-Hospitalisierte" geführten Krankenhauspatienten in Wirklichkeit nicht wegen COVID-19 im Krankenhaus liegen:
Zwischen 20 und 30 Prozent der Personen, die in der offiziellen Statistik auftauchen, liegen nicht wegen Corona im Krankenhaus.
Fast noch fragwürdiger ist, dass das RKI in seinen eigenen Berechnungen nicht alle vom RKI als "Covid-19-Todesfälle" geführten Sterbefälle einbezieht, weil in Wirklichkeit nicht alle an Covid-19 verstorben sind. Das RKI weiß also explizit von dem Problem. In der fragwürdigen Studie vom RKI zu den angeblichen Years Life Lost bei den "Covid-19-Todesfällen" gibt es eine wirklich interessante Passage, die von den meisten übersehen wird, es aber eigentlich wirklich in sich hat. Dort heißt es:
  • Methodenteil: "Die Berechnungen basieren auf den übermittelten Sterbefällen unter den Sars-CoV-2-Meldefällen (eGrafik 1 und 2). Um eine Überschätzung zu vermeiden, werden nur Sterbefälle einbezogen, bei denen COVID-19 als Ursache übermittelt wurde (eMethodenteil 1)"
  • Ergebnisteil: "In den Meldedaten für 2020 gab es insgesamt 38.641 Todesfälle, bei denen in 31.638 Fällen (81,9 Prozent) COVID-19 als Todesursache übermittelt wurde."
Das heißt: Das RKI gibt hier zu, dass von den offiziell gemeldeten "COVID-19-Todesfällen" nur bei 81,9 Prozent die offizielle Todesursache COVID-19 war.
Kritik an der These: Überhaupt wird viel weniger gestorben als vorher.
Prof. Dr. Christof Kuhbandner: Hier sind zum Beispiel die Berechnungen zur Übersterblichkeit der Statistikergruppe der LMU um Prof. Küchenhoff interessant. Diese Gruppe macht beispielsweise die Nowcast-Berechnungen für Bayern und zählt zu den hochkarätigsten Statistikergruppen, die es so gibt.
Wichtig ist die Anmerkung, dass bei der Berechnung der Übersterblichkeit die Verschiebung der Alterspyramide ins hohe Alter eingerechnet werden muss. Da es zunehmend immer mehr hochbetagte Menschen in Deutschland gibt, versterben unabhängig von Corona immer mehr Menschen.
Für das Jahr 2020 ist der Bericht der Statistikergruppe Nr. 8 interessant.
Unter 3. Übersterblichkeit. Wie sah es 2020 aus, wie sieht es aktuell aus? heißt es:

Rein visuell erkennt man, dass 2020 kein auffälliges Jahr in Bezug auf die Übersterblichkeit war. Wenn man die Todeszahlen aufgeschlüsselt nach unterschiedlichen Altersklassen, so ergeben sich die Darstellungen aus Abbildung 3.2. Auch hier wird offensichtlich, dass über das gesamte Jahr 2020 betrachtet in keiner Altersgruppe eine Übersterblichkeit sichtbar wird.

Für das Jahr 2021 ist das sogar noch extremer, hier gibt es eine extreme Untersterblichkeit. Das sieht man bereits anhand der Grafik des Statistischen Bundesamtes - dort wird die Verschiebung der Alterspyramide nicht herausgerechnet
Die LMU-Statistikergruppe hat auch diese Daten genauer analysiert und die Altersverschiebung herausgerechnet, mit diesem Ergebnis:

Die Übersterblichkeiten sind zum Jahreswechsel abgeklungen und ab der 7. Woche ist eine Untersterblichkeit zu beobachten, d.h. in den einzelnen Altersgruppen sterben derzeit weniger Menschen als zu erwarten wäre (vor der Pandemie); die roten Kurven liegen unter dem grün gestrichelten Durchschnitt. Man sieht, dass die Sterberaten in den Wochen 8-13 auf diesen niedrigeren Niveaus bleiben. Diese Sterberaten schließen auch alle Todesfälle von oder mit einer registrierten COVID-19-Infektion ein. Für die Altersgruppe 35 - 59 Jahre (oberer Plot) liegt die Sterblichkeit etwa 10% unter dem Niveau der vergangenen Jahre. Gleiches gilt für die Altersgruppen 60 - 79 und 80+, die in der zweiten Welle deutlich stärker betroffen waren.