Eurobonds oder Eurohaushalt?

Europäische Zentralbank (EZB). Bild: Kiefer / CC BY-SA 2.0

Der deutsche Sparsadismus während der Eurokrise wird die Bundesrepublik noch teuer zu stehen kommen - nach der Bundestagswahl

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Die Bild-Zeitung gibt sich derzeit alle Mühe, die CDU von rechts unter Druck zu setzen. Mitten in der heißen Wahlkampfphase lancierte das Boulevardblatt einen reißerischen Bericht, dem zufolge Schäuble nach dem Urnengang reellen Transferzahlungen innerhalb der Eurozone zustimmen werde, um deren extreme Ungleichgewichte zu verringern.

Neuer "Milliardentopf" in Planung?

Schäuble plane nach der Wahl einen "neuen Milliardentopf", um Frankreichs Präsident Macron entgegenzukommen. Der Euro Rettungsschirm ESM, eingeführt zur Stabilisierung des Euro auf dem Höhepunkt der Eurokrise, solle künftig nicht nur im Fall drohender Staatspleiten, sondern auch zur Ankurblung der Konjunktur bei Wirtschaftskrisen "angezapft" werden dürfen.

Von den 80 Milliarden Euro im ESM seien 22 Milliarden "deutsches Steuergeld", so Bild wörtlich. Deutschland würde damit "deutsches Steuergeld" zur Verfügung stellen, um "Italien, Frankreich und Co. zu mehr Wirtschaftswachstum zu verhelfen". Im Gegenzug wolle sich Schäuble "über den ESM mehr Einfluss auf die Etats (Schulden- und Finanzpolitik) der anderen Euro-Staaten sichern".

Im deutschen Scheinwahlkampf, in dem alle wichtigen Themen (wie etwa die Europapolitik) sorgsam ausgeblendet werden, wirken solche Berichte selbstverständlich als bloße Störmanöver - anstatt eine breite europapolitische Diskussion zu entfachen.

Aus dem Finanzministerium kam somit prompt die Absage an jedwede "Vergemeinschaftung" von Schulden. Es sei zwar wahr, "dass wir eine Vertiefung der Eurozone wollen", erklärte die Pressesprecherin des Finanzministeriums, doch brauche es hierfür "keine neuen Gemeinschaftsschulden oder Eurobonds".

Eine Ausweitung der deutschen Position

Schäuble habe immer wieder vorgeschlagen, den ESM zu einem Europäischen Währungsfonds weiterzuentwickeln, der dann bei der Krisenprävention im Euroraum eine stärkere Rolle spielen könne. Zudem machte das Finanzministerium seine Haltung in dieser Frage abermals klar: "Es bleibt deshalb dabei: Haftung und Kontrolle für politische Entscheidungen müssen auf einer Ebene liegen."

Konkret hieße dies, dass eine Ausweitung der deutschen "Haftung" in der Eurozone auch eine Ausweitung der deutschen Kontrolle über "politische Entscheidungen" der Eurostaaten mit sich bringen müsste. Somit lässt sich das Finanzministerium in dieser Streitfrage eine Hintertür offen, um nach der Wahl dennoch agieren zu können.

Sollte die Kontrolle über politische Entscheidungen an den ESM - den Schäuble zu einer Art europäischen Währungsfonds umbauen will - von den Eurostaaten abgegeben werden, dann könnte auch über eine Haftungsausweitung diskutiert werden. Es ließe sich sogar argumentieren, dass die Bildzeitungsmeldung von Insidern lanciert wurde, um den deutschen Kompromissraum im Vorfeld der entsprechenden Verhandlungen mit den europäischen Partnern zu verkleinern - immer mit Hinweis auf die Wahlversprechen und die öffentliche Stimmung in Deutschland.

Auch auf die Gefahr hin, einer von Insidern lancierten Bildzeitungsmeldung zu trauen, scheint die europapolitische Taktik Berlins plausibel: Mittels Finanzspritzen an eine Eurozone, die durch ein jahrelanges Wechselspiel aus deutscher Beggar-thy-neighbor-Politik und schäublerischen Spardiktaten zerrüttet wurde, soll der politische Einfluss Berlins gesteigert werden.

Der ESM als europäisches Instrument deutscher Interventionspolitik

Deutschlands politische Eliten wollen direkten Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurostaaten gewinnen, womit die staatliche Souveränität insbesondere in der krisengebeutelten südlichen Peripherie der Eurozone weiter ausgehöhlt würde. Somit bleibt Finanzminister Schäuble seiner machtpolitischen Zielsetzung treu, den ESM in ein europäisches Instrument deutscher Interventionspolitik zu transformieren - nur dass diesem Vorhaben nun etwas Zuckerbrot in Form von Konjunkturspritzen beigemengt wird.

Der ESM wird vom CDU-nahen Ökonom Klaus Regling geführt, der schon beim IWF und beim Hedgefonds Moore Capital Strategy Group entsprechende Qualifikationen gesammelt hat. Im "Gouverneursrat" des ESM hat wiederum der "Schäuble-Mann" Jeroen Dijsselbloem das Sagen.

Zuletzt versuchte es der Finanzminister mit dieser Strategie im Oktober 2016, als er einen Vorstoß zum Aufbau eines europäischen "Haushaltswachhunds mit Zähnen" unternahm, wie es das Wall Street Journal (WSJ) formulierte. Der von Berlin kontrollierte ESM sollte laut Schäuble die Macht erhalten, die Haushalte der Eurozonenländer zu kontrollieren, wie die FAZ damals berichtete.

Die im bundesrepublikanischen Wahlkampf souverän ausgeblendete Auseinandersetzung um die Zukunft der Eurozone, die nach dem Urnengang sich zwangsläufig entfalten wird, umriss der private US-Nachrichtendienst Stratfor auf seiner Internetpräsenz.

Im Austausch für den Zugang zu ESM-Krediten werde Schäuble mehr Mitspracherechte in der Finanzpolitik der Krisenländer fordern. Schäuble wolle damit die EU unabhängig vom US-Kontrollierten IWF machen und die "Schuldenregeln" (vulgo Austeritätspolitik) in den Krisenstaaten strikter umsetzen. Schlussfolgerung: Die Rolle des IWF soll somit der von Berlin kontrolliere ESM übernehmen.

Das deutsche Finanzministerium habe wiederholt die EU-Kommission kritisiert, da sie zu "weich" bei der Umsetzung der Sparprogramme in der Eurozone gewesen sei. Da die südeuropäischen Staaten dieses Abtreten des Kernbereichs staatlicher Souveränität an den deutschen Finanzminister nicht kampflos hinnehmen würden, drohten weitere Konflikte den Währungsraum zu destabilisieren, erläuterte Stratfor: "Dadurch, dass Schäuble die Europäische Union zu stärken versucht, könnte er eigentlich feurige Konflikte in dem Block entfachen, der bereits geschwächt ist."

Finanzielle Zugeständnisse Berlins gegen Ausweitung der politischen Kontrolle

Dieser im deutschen Scheinwahlkampf weitestgehend ignorierten Thematik widmete sich auch die New York Times (NYT), die den künftigen ESM als eine "Art von Eurohaushalt" bezeichnete, mit dem kontrazyklische keynesianische Investitionspolitik betreiben werde solle. In konjunkturellen Schwächeperioden sollen die Investitionen durch Zugriff auf Gelder des ESM angekurbelt werden.

Laut der NYT habe Schäuble der Notwendigkeit solcher "Finanztransfers von den reicheren zu den ärmeren Staaten" in der Eurozone bereits zugestimmt. Dies sei ein Zugeständnis an den französischen Präsidenten Macron, dessen Sichtweise Schäuble nun teilt.

Finanzielle Zugeständnisse Berlins gegen Ausweitung der politischen Kontrolle - diese Konfliktlinie zeichnet sich auch deutlich bei einer weiteren entscheidenden europapolitischen Weichenstellung ab, die schon jetzt hart hinter den Kulissen umkämpft ist, obwohl sie erst 2019 ansteht: der Besetzung des Chefpostens bei der Europäischen Zentralbank EZB.

Schäuble und Merkel sind wild entschlossen, den deutschen Bundesbankchef Jens Weidmann auf diesen Spitzenposten zu hieven, der für den gesamten Süden der Eurozone aufgrund seiner Kritik an deren expansiver Geldpolitik als ein rotes Tuch gilt. Weidmann gilt als einer der schärfsten Kritiker der "lockeren" Geldpolitik des derzeitigen EZB-Chefs Draghi.

Vorbehalte gegen Draghi

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung formulierte die "Vorbehalte" der Deutschen gegenüber dem Italiener auf der Spitze der EZB folgendermaßen: "Mit seiner ultraexpansiven Geldpolitik und dem 'Whatever it takes'-Versprechen gilt er vielen als Retter des Euro. In Deutschland gibt es aber viel Unmut über seine Nullzinspolitik. Ende Oktober 2019 läuft Draghis Amtszeit aus." Mittlerweile fordert Weidmann im Wochenrhythmus ein Ende der expansiven Geldpolitik der EZB.

Die EZB fungierte in der Eurokrise tatsächlich als ein Gegengewicht zum deutschen Spardiktat, da mit deren lockerer Geldpolitik die Folgen der schäublerischen Austerität gemildert werden konnten. Diese merkwürdige Konstellation, in der die EZB und Schäubles Finanzministerium konträre wirtschaftliche Strategien verfolgten, ist Folge der Machtkonstellation in der Eurozone bei Krisenausbruch.

Die Krisenpolitik in der EU war nicht geprägt durch eine konsistente wirtschaftspolitische Strategie, sondern durch die nationalen Machtverhältnisse in dem Währungsraum und seinen europäischen Institutionen.

Verheerende Austeritätspolitik und Öffnung der Geldschleusen

Schäuble gelang es, den europäischen Krisenstaaten eine verheerende Austeritätspolitik zu oktroyieren, um den sozioökonomischen Abstand der Peripherie zu Deutschland zu vergrößern und so die Dominanz Berlins in der Eurozone zu zementieren.

Die EZB unter dem Italiener Draghi bemühte sich hingegen darum, die Folgen dieses schäublerischen Sparregimes durch die Öffnung der Geldschleusen zu mildern. Aus dieser nationalen Machtkonstellation in "europäischen" Institutionen resultierte das scheinbar absurde nebenher von Austerität und Geldflut in der Eurozone.

Weidmann als Eurozonenchef - dies würde bedeuten, dass der Süden sein geldpolitisches Gegengewicht zur schäublerischen Austeritätspolitik verlieren würde. Die Aussicht auf einen Vorsitz Weidmanns lasse vielen Kapitalfunktionären in der EZB die "Nackenhaare zu Berge stehen", kommentierte die Financial Times die zunehmenden personalpolitischen Auseinandersetzungen hinter den Kulissen Anfang Juli.

Das größte Problem stelle dabei die permanente öffentliche Torpedierung des politischen Kurses der EZB während der Eurokrise dar, wie es ein Insider gegenüber der FT erläuterte: "Der Jens" sei zwar ein "netter Typ", aber leider habe er "niemals die EZB gegenüber der deutschen Öffentlichkeit verteidigt". Er müsse noch "beweisen, dass er für alle sprechen" könne, "und dies sei eine große Schwäche, wenn du eine multilaterale Institution führen willst".

Viele politische Entscheidungsträger in EU fürchteten vor allem, dass ein EZB-Präsident Weidmann "nicht entschieden genug handeln" werde, falls künftige Krise die "Eurozone anfällig für einen Kollaps" machten. Berlin müsste schon sehr weitreichenden strukturellen Reformen zustimmen, um die Abwehrhaltung gegenüber Weidmann aufzuweichen, erklärten europäischen Zentralbanker gegenüber der FT.

Deutsche Eurobonds gegen deutschen EZB-Chefposten?

Man würde sich folglich innerhalb der EZB "besser fühlen", wenn die EU zuerst die Bankenunion stärken und Eurobonds einführen würde, "bevor man einen Deutschen die Verantwortung für die EZB überlässt". Auch hier zeichnet sich somit ein entsprechender Deal ab: Deutsche Eurobonds gegen deutschen EZB-Chefposten.

Ähnlich argumentierte das Handelsblatt - unter Verweis auf Insider-Informationen - in einem Beitrag für seine englischsprachige Ausgabe. Um den Widerstand der südlichen Eurostaaten gegen diese umstrittene Personalie zu überwinden, müsste Berlin zu substanziellen Zugeständnissen bereit sein.

Die Bundesregierung werde wohl der Einführung von Eurobonds zustimmen müssen, erklärte eine Quelle gegenüber dem Handelsblatt: "Weidmann könnte nur dann an den südlichen Ländern passieren, wenn die Bundesregierung im Gegenzug breiten Zugeständnissen zustimmt." Hierunter würden "gemeinsame Bonds für die Eurozone" fallen, so das Handelsblatt.

Die Reanimierung der geopolitischen Achse Berlin-Paris

Letztendlich sind diese Auseinandersetzungen schon Teil des großen Kuhhandels zwischen Deutschland und Frankreich, der nach der Wahl die Reanimierung der geopolitischen Achse Berlin-Paris befestigen soll. Paris pocht darauf, dass die extremen Ungleichgewichte in der Europäischen Union (Deutschlands Exportüberschüsse, die zugleich die Defizite der Eurozone bilden) durch finanzpolitische Transfers gemindert werden. Formell wurden diese Forderungen von Berlin bislang abgelehnt.

Doch ohne irgendeine Art von Ausgleichsmechanismus, der die Folgen der deutschen Beggar-thy-Neighbor-Politik mindert, muss die Eurozone mittelfristig zerfallen. Bereits jetzt drohen die aus den europäischen "Ungleichgewichten" resultierenden Turbulenzen an den Märkten die Friedhofsruhe des deutschen Wahlkampfes zu stören.

Erst nach dem Bekanntwerden der schäublerischen Planungen für einen über den ESM abgewickelten Eurohaushalt habe sich die Lage an den italienischen Bondmärkten beruhigt, meldete beispielsweise Reuters vor kurzem. Die Zinslast sei zuletzt in Italien stark angewachsen, nachdem "Planungen für eine Parallelwährung" publik wurden.

In Berlin hofft man offensichtlich, dass man das Thema im Wahlkampf schlicht ausblenden kann - in der Hoffnung, dass das morsche Gebälk des europäischen Hauses bis zum 24. September schon noch tragen werde. Dies nicht zuletzt deswegen, weil sonst der Anteil des schäublerischen Sparsadismus an dem instabilen Zustand der Eurozone diskutiert werden müsste.

Nach Jahren der Spardiktate, verordnet von Schäuble unter dem Jubel einer chauvinistisch aufgeheizten Öffentlichkeit, ist die Schuldenlast in der Peripherie der Eurozone stark angestiegen, während sich die meisten Krisenländer immer noch nicht von den Konjunktureinbrüchen erholt haben, die durch die Austerität ausgelöst wurden.

Schäubles Sparregime war ein "totales Desaster" für Europa, schlussfolgerte etwa der Ökonom Stiglitz. Die Bundesregierung hofft aber, das Thema - und ihre Verantwortung daran - aus dem Wahlkampf herauszuhalten und der Bevölkerung der Bundesrepublik die Rechnung erst nach der Wahl präsentieren zu können.

Die instabile Eurozone ist zudem nur Teil eines instabilen spätkapitalistischen Weltsystem - der nächste Krisenschub würde den durch chauvinistische Zentrifugalkräfte und nationale Interessengegensätze zerrütteten Währungsraum unvorbereitet treffen. Inzwischen kann es ja selbst unseren "Wirtschaftswissenschaftlern" nicht mehr entgehen dass die derzeitige Liquiditätsblase nicht ad infinitum aufrechterhalten werden kann.

Zuletzt erschien vom Autor im Konkret Verlag das Buch Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft.