Festigkeit des Herzens: Von der Erfindung der Alufolie zum Sitzkind

Seite 3: Mit deutschem Gruß

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Nach Stauffenbergs Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 (in Adenauers Kino, in Der 20. Juli, aus Gründen der vergangenheitsbewältigenden Kontinuität von Wolfgang Preiss begangen, dem engsten Mitarbeiter des Admirals in Canaris) wurde auch bei der Wehrmacht der "Führergruß" angeordnet. So lange wollen Rabenalts Soldaten nicht warten. In der nächsten Folge dieser Artikelreihe werden wir René Deltgen als zur Flak eingezogenen Rechtsanwalt wiedersehen. Der Film Fronttheater spielt im Jahr 1941. Deltgen als Soldat Paul Meinhardt grüßt abwechselnd auf Naziart und auf die herkömmliche Weise des Militärs. Auch das ist Propaganda. So wurde 1942, als Fronttheater Premiere hatte, ein scheinbar harmonischer Übergang von der einen Grußform auf die andere vorbereitet. Das durfte nicht zu abrupt sein, weil 1942 bei der Wehrmacht üblicherweise eben nicht der Hitlergruß verwendet wurde. Zumindest entnehme ich das den gängigen militärhistorischen Standardwerken.

Auch in Achtung! Feind hört mit!, dem Film von 1940, ist genau überlegt, wer wann den Hitlergruß zeigt. Am Anfang, beim Besuch der Wehrmacht in den Kettwig-Werken, grüßen die Herren Offiziere wie gewohnt. Auf dem Weg zum Labor ist im Hintergrund der ausgestreckte Arm eines Mannes vom Werksschutz zu sehen (kein Soldat, aber in Uniform). Am Ende des Besuchs verabschieden sich Hauptmann Burger und Dr. Hellmers mit Hitlergruß voneinander (Inge macht auch mit) - in der Variante mit abgewickeltem Arm, die Chaplin in The Great Dictator persifliert, weshalb es heute bestimmt anders wirkt als damals im Dritten Reich. Bei diesen beiden hat das besonderes Gewicht, weil wir vorher erfahren haben, dass sie für die Sicherheit des Landes sorgen: Burger als Offizier der Abwehr, Hellmers als dessen Verbindungsmann und als Erfinder des Drahts für die Ballonsperren. Am Schluss des Films wird das noch einmal aufgenommen, damit wir nicht vergessen, wer die Männer sind, die sich um uns kümmern (inzwischen ist einer von der Gestapo mit dabei). Das sind die mit dem "deutschen Gruß".

Das in den beiden letzten Absätzen Gesagte ist nicht mehr als eine Überlegung. Bei den NS-Filmen ist man allzu oft auf Spekulationen angewiesen. Wer grüßt da wann und wie? Der Sache auf den Grund zu gehen ist schwierig bis unmöglich, weil die in Frage kommenden Filme auf einer uralten Verbotsliste stehen oder in Fassungen verfügbar sind, von denen einem keiner sagen kann, was nach 1945 genau herausgeschnitten wurde. Das mit dem Hitlergruß erwähne ich, weil es bezeichnend, nicht weil es heute noch besonders wichtig ist. Sogar unser gesichertes Wissen über NS-Paraphernalien wie Führerbilder, Hakenkreuze und SS-Standarten im Kino des Dritten Reichs, die so offensichtlich sind, dass sie der Dümmste noch bemerkt, ist extrem bescheiden, weil es solche Symbole sind, die in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt haben, dass Filme gekürzt oder komplett verboten wurden, um uns vor Propaganda zu schützen, oder vor peinlichen Momenten, weil ein Neonazi im Publikum dummes Zeug reden könnte, wenn ein Hakenkreuz auf der Leinwand erscheint, oder aus was für einem Grund auch immer (nicht mal das lässt sich mit Bestimmtheit sagen, weil man eigentlich nur weiß, dass es verbotene Filme gibt, die verboten sind, weil sie irgendwann verboten wurden).

Mit solchen kosmetischen Operationen bleibt man aber an der Oberfläche (Faustregel: Film mit Führerbild = Propaganda; Film ohne Führerbild = keine Propaganda). Indem man einzelne Stücke entfernt, wie bei vielen Filmen aus der NS-Zeit geschehen (bei anderen hingegen aus unbekannten Gründen nicht), erhält man die Fiktion von der harmlosen Unterhaltung aufrecht, die dann auch die Kinder sehen dürfen. Allerdings ändert sich in der Regel am ideologischen Gehalt des Ganzen äußerst wenig, wenn man einzelne Stücke entfernt (und um diesen Gehalt sollte es doch gehen, nicht um die Hakenkreuze). Diese Erkenntnis ist ein alter Hut. Bei den NS-Filmen wird trotzdem so getan als ob. Was dabei herauskommt, lässt sich auf Websites wie dieser hier studieren.

Rabenalts Achtung! Feind hört mit! ist bis zum Platzen mit NS-Propaganda vollgestopft (was nicht automatisch heißt, dass er im Jahr 2012 so gefährlich ist, dass man ihn verbieten müsste). Doch die User fragen sich hier ratlos, wo sie denn stecken könnte, die Propaganda - abseits von "Grüßen, Uniformen und Abzeichen". Wie wäre es mit der Reklame für den Volksgerichtshof, den Engländern als spionierenden Aggressoren, dem rein defensiv ausgerichteten Nazideutschland, Straßburg als Operationsbasis für jüdische Wucherer und feindliche Agenten (zur Rechtfertigung des Einmarschs), einer an der Führerpyramide orientierten Gesellschaft und so weiter? Die etwas merkwürdige Diskussion auf dieser Website sagt wenig über die User aus und sehr viel über unseren im wahrsten Sinn des Wortes symbolischen Umgang mit dem NS-Kino.

Wir haben eingeübt, uns so sehr auf die Oberfläche mit den Nazi-Insignien zu konzentrieren, dass wir nicht mehr sehen können, was darunter liegt. Aber unter der Oberfläche, wenn überhaupt, spielt sich die Art von Propaganda ab, von der man sich zumindest vorstellen könnte, dass sie heute noch wirksam ist. Und jetzt die Preisfrage: Wie wird das wohl bei den Filmen sein, die bald nach dem Krieg, nach Entfernung von ein paar Hakenkreuzen oder in voller Länge, wieder freigegeben wurden? Ist das harmlose Unterhaltung, weil keiner eine Uniform anhat? Oder ist es doch ein bisschen komplizierter? Das soll kein Plädoyer sein, auch noch Heinz Rühmann und Marika Rökk zu verbieten. Nur: Wenn man den einen Film freigibt und den anderen wegen NS-Propaganda in den Giftschrank sperrt, sollte man wenigstens wissen, wo die Propaganda steckt. Hakenkreuze und Führerbilder sind die Spitze des Eisbergs, mehr nicht.

Übrigens habe ich geschummelt. Nur Flucht ins Dunkel ist ein Vorbehaltsfilm, Achtung! Feind hört mit! hingegen nicht. Genauso hätte man nur Achtung! Feind hört mit! verbieten können, oder beide, oder beide freigeben. Beim "verantwortungsbewussten Umgang" mit dem braunen Filmerbe regiert sowieso das Zufallsprinzip. Es gibt eine von den Alliierten geerbte Verbotsliste, aber weder einen Plan noch eine Strategie. NS-Spionagefilme hatten generell gute Chancen auf eine Freigabe, weil die da verwendeten Erzählmuster leicht für den Kalten Krieg zu adaptieren waren. Eine offenbar irgendwie gekürzte, 93 Minuten lange Fassung (Details konnte ich nicht in Erfahrung bringen) von Achtung! Feind hört mit! wurde 1981 durch die FSK ab 12 Jahren freigegeben. Seit der zweiten FSK-Prüfung von 1996 muss man 18 sein, um die nun 92-minütige Version sehen zu dürfen. Wer einen Computer bedienen kann, schaut sich die Digitalisierung der früher vertriebenen Videokassette im Internet an (etwa bei archive.org), was bisher noch nicht dazu geführt hat, dass die Welt eingestürzt wäre. Die Lauflänge von knapp 90 Minuten ergibt sich aus der PAL-Beschleunigung (25 Bilder pro Sekunde statt 24 wie im Kino).

Goebbels war sehr angetan von Achtung! Feind hört mit!. "Sehr gut geworden", notierte er am 20.8.1940 in sein Tagebuch. "Der deutsche Film macht augenblicklich einen kühnen Sprung nach oben. Das ist nach den vielen Mühen und Enttäuschungen sehr erfreulich." Alles, was ich hier beschrieben habe, ist in der Fassung mit FSK-Freigabe enthalten. Am stärksten von den Kürzungen betroffen ist meines Wissens der Anfang. Jetzt beginnt der Film direkt in den Kettwig-Werken. Das Publikum im Dritten Reich sah vorher eine pseudo-dokumentarische Einleitung mit dem britischen Premierminister Neville Chamberlain, der nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens (30.7.1938) zurück nach London fliegt und heuchlerisch den Appeasement-Politiker gibt, während er insgeheim den Krieg vorbereitet und eine Intensivierung der Rüstungsspionage anordnet. So wurde der Zuschauer darüber aufgeklärt, dass die britische Regierung das Kriegsgerät ausspionieren wollte, das die friedliebenden Deutschen dringend brauchten, um sich gegen ausländische Aggressoren zu schützen (am liebsten durch einen Angriffskrieg).

Der FSK, die für ihre "Prüfung" auch noch Geld nimmt, haben wir es also zu verdanken, dass eine Version von Achtung! Feind hört mit! im Umlauf ist, aus der entfernt wurde, was heute, im Jahr 2012, jedem halbwegs intelligenten Menschen gleich in den ersten Minuten zeigen würde, dass das ein Propagandafilm ist. Die Botschaft selbst ist intakt geblieben. Man erkennt sie nur nicht mehr so leicht als Propaganda. Das war der Traum von Joseph Goebbels. Die FSK darf sich glücklich schätzen, dass es in der Hölle kein Telegraphenamt und keinen Internetanschluss gibt. Sonst hätte der Minister womöglich ein aufmunterndes "Weiter so!" geschickt.

Epilog mit Führer

Das wäre auch die Antwort, die ich User zwi geben möchte: Alle anderen Möglichkeiten können nur besser sein als diese Farce. Zwi hat zur letzten Folge dieser Reihe einen Kommentar verfasst, in dem er (oder sie) von mir wissen will, ob man etwa Jud Süß wie einen ganz gewöhnlichen Film im Kino zeigen solle? Gegenfrage: Was würden wir nur machen, wenn wir Jud Süß nicht hätten? Dann würden die Befürworter von Verboten mit einem Schlag alle ihre Argumente verlieren. Sie müssten über Filme reden, von denen sie noch weniger kennen als die drei Ausschnitte aus Jud Süß, die uns immer vorgeführt werden, damit wir lernen, was Nazi-Propaganda ist. Natürlich gab es diese Propaganda, das Regime nützte sie nach Kräften, und ich persönlich habe keinen Zweifel, dass sie in den Köpfen vieler Leute schlimme Dinge anrichtete - mit Langzeitfolgen, über die wir fast nichts wissen, weil wir den Austausch von auf Fakten gestützten Argumenten durch Verbote ersetzen.

Ich will nicht ausschließen, dass solche 70 Jahre alten, in einer Diktatur entstandenen und auf die in einer Diktatur vorherrschenden Rezeptionsbedingungen zugeschnittenen Filme heute, in einer demokratischen Gesellschaft mit Informationsfreiheit und in einem historisch völlig anderen Kontext, noch gefährlich sind und deshalb verboten werden müssen. Aber bitte mit nachvollziehbarer Begründung. Wo, User zwi, ist die zu finden? Eine schwarze Liste mit mehreren Dutzend Titeln kann man nicht damit rechtfertigen, dass es Jud Süß gibt. Seit März 2010 erscheint diese Artikelserie bei Telepolis. Es gab viele Kommentare, Leser haben mir direkt geschrieben, das Münchner Filmmuseum hat eine Podiumsdiskussion zum Thema veranstaltet. In zweieinhalb Jahren habe ich genau zwei "Gründe" gehört oder gelesen (die in meinen Augen keine sind).

1. Wenn Jud Süß ganz normal im Kino laufen würde (immer nur dieser eine von ca. 40 Filmen), könnte das zu unangenehmen Momenten führen - unangenehm, weil man sich womöglich dem Antisemitismus stellen müsste, dessen Vorhandensein in unserer Gesellschaft sich nicht damit erklären lässt, dass Veit Harlan Jud Süß gedreht hat. Gut. Verbieten wir Jud Süß und auch Die Rothschilds. Was ist dann mit den anderen? Und was tun wir mit Jew Süss der Emigranten Lothar Mendes und Conrad Veidt (da hat Harlan abgekupfert) und mit der Hollywood-Produktion The House of Rothschild (beide 1934), der Goebbels mit Die Rothschilds eine Version für Antisemiten entgegensetzen wollte? Aufführungen dieser beiden Werke sind mehrfach daran gescheitert, dass sie von einer erregten Öffentlichkeit mit den antisemitischen Gegenentwürfen der Nazis verwechselt wurden. Bei Filmen, die keiner kennt, ist das schnell passiert. Gefährlich sind sie aber schon. Die von den Nazis, meine ich. Kollateralschäden muss man da in Kauf nehmen. (Habe ich schon gesagt, dass ich das Ganze für eine Farce halte?)

2. "Wir" sind nicht gefährdet, weil wir die Propaganda erkennen können, "die anderen" aber schon. "Wir", das wären in diesem Fall die Kommentatoren, die das schreiben, ich als Autor der Artikelreihe, die Teilnehmer an Podiumsveranstaltungen, sonst noch ein paar kluge Leute. "Die anderen", das wäre der große Rest. Warum sollte das so sein? Wo sind die Belege? Mich erinnert das an das 19. Jahrhundert. Damals wurde darüber diskutiert, ob man das Wahlrecht auf größere Kreise der Bevölkerung ausdehnen sollte. Nein, sagten wohlmeinende und intelligente Persönlichkeiten, das darf nicht sein. Die Leute würden die Falschen wählen. Anders formuliert: Das Volk ist der Aufgabe nicht gewachsen. Bei diesem Misstrauen dem Volk gegenüber, denke ich mir manchmal, ist es geblieben. Warum probieren wir es nicht mal aus? Die unkommentierten Propagandafilme, vor denen zwi warnt, gibt es sowieso seit Jahren. Während die einen die Verbotsliste verwalten, gehen die anderen zum Download ins Internet oder bestellen bei Händlern in den USA, Spanien oder Belgien eine DVD. Mit dem Geld, das da gezahlt wird, sollten sich auch sorgfältig kommentierte Ausgaben herstellen lassen. Man muss nur wollen.

Zugegeben: Einiges war jetzt polemisch. User zwi hat Anspruch auf eine ernsthafte Antwort. Ich will dafür kurz das Medium wechseln. Beim verantwortungsbewussten Umgang mit dem schriftstellerischen Werk des Autors Adolf Hitler hat sich heuer etwas getan. Der Freistaat Bayern in Gestalt von Finanzminister Markus Söder geht nun mutig voran und beteiligt sich mit einer halben Million Euro an einer kommentierten Ausgabe von Mein Kampf, die schon seit längerem vom Münchner Institut für Zeitgeschichte erarbeitet wird. Innerhalb von ein paar Wochen wurde ein radikaler Schwenk vollzogen, weg vom Verbieten und hin zum Entmystifizieren eines Buches, das ein „großer Unsinn mit fatalen Folgen“ (Söder) sei. Der Grund für die abrupte Kehrtwende liegt im Urheberrecht. Für Mein Kampf läuft der Urheberschutz 2015 aus (Bayern ist der Rechteinhaber), 70 Jahre nach Hitlers Tod. Danach, sagte Kultusminister Ludwig Spaenle anfangs, werde man nicht verhindern können, dass jeder, der das möchte, das Buch auf den freien Markt bringt.

An dieser Aussage sind zwei Dinge bemerkenswert: 1. Der Freistaat Bayern, der bisher immer sehr bereitwillig Steuergelder dafür ausgab, Nachdrucke von Mein Kampf mit juristischen Mitteln zu verhindern, war offenbar der Ansicht, dass es nicht gelingen würde, das Buch wegen seines Inhalts gerichtlich verbieten zu lassen, etwa wegen Volksverhetzung. Auch in der öffentlichen Debatte über das Für und Wider einer Neuauflage, die nach Söders Ankündigung geführt wurde, spielte ein solches Verbot keine größere Rolle – bis Minister Spaenle bei einem Israel-Besuch auf Gesprächspartner traf, die wenig Verständnis für die bayerischen Pläne zeigten. Jetzt soll doch geprüft werden, ob man Mein Kampf verbieten kann. Mir kommt das wie ein neuerlicher Versuch der Politik vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem man das Problem an die Juristen weiterreicht.

Die meisten Experten, die sich bisher dazu geäußert haben, geben diesem Versuch nur geringe Chancen. Ich als Nicht-Jurist erkläre mir das so: Heute, im Jahr 2012, ist Hitlers „Abrechnung“ mit vermeintlichen jüdischen Weltverschwörern, der „roten Front“ und dem Fuchs, der „humane Anwandlungen“ gegenüber einer Gans hat, scheinbar doch nicht mehr ganz so wirkmächtig, wie wir das bislang glauben sollten. Das Buch ist ein historisches Dokument, das Aufschluss über die NS-Ideologie gibt, und diese Eigenschaft überwiegt. Weil dem so ist, wäre es sehr schwierig, ein Verbot so zu begründen, dass es vor Gericht Bestand hätte. Darum hat der Freistaat Bayern 2. bisher den Umweg über das Urheberrecht gewählt. So hält es seit Jahrzehnten auch die Murnau-Stiftung mit den Vorbehaltsfilmen. Das Urheberrecht soll aber eigentlich den Zugang zu Texten oder Filmen regeln, nicht verhindern. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie.

Warnung vor dem Sitzkind

Jetzt also, da Mein Kampf bald nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, tritt Kultusminister Spaenle die Flucht nach vorne an und will eine bisher nicht näher definierte Kurzversion in Bayerns Schulen besprechen lassen. Das hat Klaus Wenzel auf den Plan gerufen. Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes lehnt Spaenles Pläne vehement ab, weil er fürchtet, dass Bayerns Knaben von falschen Vorbildern beeinflusst werden könnten (die Mädchen finden "andere Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit darzustellen"). In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung formuliert er seine Gedankengänge wie folgt:

Der Mann wird in der Werbung noch immer nur als der Starke, der Unverletzliche, derjenige, der die Welt retten will, dargestellt. Bei Jungen wird so die Abenteuerlust geweckt. Sie haben heute aber kaum noch die Möglichkeit, ihre überschüssigen Kräfte loszuwerden. Die Kinder von heute sind vor allem Sitzkinder, die Computer spielen. Wenn wir jetzt auch noch in der Schule Mein Kampf lesen, legitimiert das auch bis zu einem bestimmten Grad die Aktivitäten der NPD.

Eine innere Logik dieser wirren Aneinanderreihung von Sätzen erschließt sich mir leider nicht. Irgendwie scheint es einen Zusammenhang zwischen Abenteuerlust, Computern und der NPD zu geben. Vielleicht ist das gemeint: Das abenteuerlustige (sprich: wissensdurstige) Sitzkind spielt nicht mehr Räuber und Gendarm wie frühere Generationen, sondern surft im Internet und stößt womöglich auf eine der zahlreichen, zum kostenlosen Download eingestellten Versionen von Mein Kampf, die da seit Jahr und Tag ganz leicht zu finden sind, während bayerische Ministerien so tun, als sei man nach wie vor auf das gedruckte Buch angewiesen wie damals, als die mittlerweile in Spitzenpositionen aufgerückten Politiker, Beamten und Verbandsfunktionäre noch selbst zur Schule gingen.

Der Internet-User wird Mein Kampf häufig in einem braunen Umfeld entdecken, das sich nicht unbedingt der Informationsfreiheit verpflichtet fühlt. Darum ist es umso wichtiger, das Buch in der Schule durchzunehmen, weil sonst … nein, das kann der Lehrerpräsident nicht gemeint haben, denn er will Mein Kampf nicht auf dem Lehrplan haben. In seiner Reihung wird dem Sitzkind auch nicht das Internet zugeordnet, sondern das Computerspiel. Dieses Reizwort ist in der Altersgruppe von Herrn Wenzel mit allerlei Vorurteilen behaftet, weshalb der, der es gebraucht, mit logischen Kurzschlüssen leichter durchkommt. Denn mit nachvollziehbaren Begründungen tun sich die Funktionäre schwer. Herr Wenzel versucht es so:

Ich glaube nicht, dass Jugendliche von sich aus so daran interessiert sind. Das wäre ja so, als wenn sie Kinder vor Alkoholismus schützen wollen, indem sie ihnen im Unterricht Schnaps hinstellen und ihnen dann sagen, wie schlecht er schmeckt und dass ihnen davon übel wird.

Als ich ein Jugendlicher war, fand ich das Verbotene automatisch interessant. Daran, teilen mir gut unterrichtete Kreise mit, hat sich nur geändert, dass die Jugend das von den Erwachsenen Verbotene heute noch leichter bekommt als früher. Wer so argumentiert wie der Lehrerpräsident, stellt Bayerns Pädagogen ein Armutszeugnis aus, muss ein gewisses Maß an Realitätsverweigerung mitbringen und hat auch von der Präventivmedizin nichts verstanden. Trotzdem wird diese Begründung immer wieder gern genommen. Wer sich den Originaldokumenten des Nationalsozialismus aussetzt, wird davon krank (Tipp für den Herrn Präsidenten: mal die Wirkungsweise der Grippeimpfung recherchieren, per Suchmaschine, oder die Kinder darum bitten, wenn kein Internetanschluss vorhanden).

Für Erklärung Variante 2 braucht man weder NS-Viren noch Alkohol, sondern die Juden. Sie wurde bis vor wenigen Wochen vom Bayerischen Finanzministerium vertreten und war der Versuch, den Erfordernissen unserer Mediengesellschaft Rechnung zu tragen. Nehmen wir an, ein Sprecher des Ministeriums würde sagen: Wir sind für dieses Buch zuständig, das einerseits schrecklich langweilig ist und in dem Hitler andererseits auf fast 800 Seiten darlegt, dass er die Vernichtung der Juden anstrebt, die "Wiedervereinigung" mit Österreich, Eroberungskriege gegen Frankreich und die Sowjetunion sowie die Errichtung eines diktatorischen Führerstaats. Eine Veröffentlichung lehnen wir ab, weil wir weder an Tabus rühren noch die schöne Mär von den unwissenden Deutschen beschädigen wollen, denen Hitler der Verführer seine wahren Ziele verheimlichte (indem er sie in einem dicken Wälzer mit Millionenauflage verbarg, der neuesten Forschungen nach viel häufiger gelesen wurde als vermutet). Und eine ergebnisoffene Diskussion über das Thema "Veröffentlichen oder nicht" möchten wir auch nicht haben, weil man sich nur die Finger verbrennt, wenn man dieses heiße Eisen anpackt. Darum halten wir das Buch mit Hilfe des Urheberrechts unter dem Deckel, so lange es irgend geht.

Das könnte, rein hypothetisch, eine ehrliche Zustandsbeschreibung sein (und so ähnlich auch für jemanden gelten, der entscheiden muss, ob die Vorbehaltsfilme zugänglich gemacht werden oder nicht). Unser imaginärer Sprecher hätte nichts zu lachen. Der arme Mann würde Prügel von diversen Interessengruppen beziehen und nicht zuletzt von seinen Vorgesetzten, die schon mal in einer Sonntagsrede unsere Erinnerungskultur rühmen, mit der sich so eine Deckel-drauf-Politik schlecht verträgt. Also muss eine andere Begründung her - am besten eine, die jeden Widerspruch im Keim erstickt. Diese Begründung sollte man dann aber auch parat haben, wenn man ein Interview gibt. Sonst gerät man in eine peinliche Situation wie Bernd Schreiber. In Mein Kampf - Geschichte einer Hetzschrift, Antoine Vitkines 2008 erstmals von ARTE ausgestrahlter TV-Dokumentation, darf man diesem Herrn dabei zusehen, wie er sich müht, unvollständig Erinnertes zu einer eigentlich vorgefertigten Phrase zusammenzusetzen.

Respekt vor den Opfern

Der Jurist Bernd Schreiber ist seit 2011 Präsident der beim Finanzministerium angesiedelten Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung. Laut Pressemitteilung kümmert er sich da um "den Erhalt der Kunst- und Kulturschätze Bayerns" (sein Vorgänger in diesem Amt war Historiker). Als Schreiber dem Team von Antoine Vitkine ein Interview gewährte, war er noch Leitender Ministerialrat und Chef der Abteilung, die gegen Raubdrucke und sonstige Vervielfältigungen von Mein Kampf vorgeht. Zum Gespräch hat er einen Medienberater dabei. Warum verhindert der Freistaat Bayern eine Neuauflage, wollen die Filmemacher wissen. Weil mit dem Buch nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet wird? Weil dann viele Leute das Buch lesen werden? Herr Schreiber bittet um eine Unterbrechung. Nach Rücksprache mit dem Berater und mit diesem als Souffleur gelingt schließlich die Antwort: "Wir verhindern den Nachdruck ganz klar aus Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus, vor deren Reaktion und vor allen Dingen auch, um keine Irritationen auszulösen."

Das mit den "Irritationen", könnte ich mir vorstellen, gefiel dem Medienberater nicht so gut, weil sich darüber trefflich streiten lässt. Der "Respekt vor den Opfern" dagegen ist das Totschlagargument. Was soll man darauf schon erwidern? Natürlich ist es ein schwer erträglicher Gedanke, dass ein Holocaust-Überlebender, ein nach Dachau verschleppter Homosexueller oder ein polnischer Zwangsarbeiter in München spazieren geht und leidet, weil er im Schaufenster einer Buchhandlung Mein Kampf sieht (weniger hypothetisch ist, dass besagte Person im Regal eines Antiquariats oder auf dem Flohmarkt eines der bis 1945 gedruckten und nicht verbotenen Exemplare entdeckt). Finanzminister Söder hat meiner Meinung nach auch völlig richtig gehandelt, als er erst das Einverständnis des Zentralrats der Juden und von Vertretern der Sinti und Roma einholte und danach eine quellenkritische Ausgabe ankündigte (dass diese sowieso nicht mehr zu verhindern war, steht auf einem anderen Blatt).

Trotzdem löst das Argument "Respekt vor den Opfern" bei mir ein Unbehagen aus, wenn es das einzige ist, das man gegen eine Veröffentlichung ins Feld führt ("Irritationen" sind kein Grund für ein faktisches, durch Tricksereien mit dem Urheberrecht herbeigeführtes Verbot). Ob man will oder nicht: Man instrumentalisiert da schnell die Opfer und schiebt ihnen eine Verantwortung zu, die man selbst nicht haben will. Was daraus wird, auch das ist in Vitkines Dokumentation zu besichtigen. Auf Ministerialrat Schreiber folgt Rafael Seligmann. Er meint, dass gerade der Respekt vor den Opfern eine Neuauflage gebiete, weil man an ihr das Denken der Täter studieren könne und so bessere Chancen habe, weitere Völkermorde zu verhindern. Das ist ein gewichtiges Argument. Seligmann aber tritt an dieser Stelle des Films nicht primär als streitbarer Publizist auf, sondern in seiner Funktion als Jude. Das geschieht fast zwangsläufig. Die Deckel-drauf-Fraktion handelt aus Respekt vor den Opfern, oder wenigstens sagt sie das, und die gegenteilige Meinung vertritt eines dieser Opfer. Wäre Vitkine ein deutscher Fernsehjournalist, käme jetzt mit ziemlicher Sicherheit noch ein Repräsentant des Zentralrats der Juden, der eine Neuausgabe ablehnt. So habe ich es schon oft gesehen. Auf diese Weise spielt man "die Juden" gegeneinander aus.

Ich stelle auch an mir selber fest, wie leicht man sich auf eine abschüssige Ebene begibt, wenn man sich auf dieses "Respekt vor den Opfern"-Argument einlässt. Wenn ein jüdischer Verbandsfunktionär sagt, dass dieses oder jenes aus der NS-Zeit, von Mein Kampf bis zu Jud Süß, nicht öffentlich zugänglich sein sollte, fallen mir gleich ein paar andere Juden ein, die eine diametral entgegengesetzte Position vertreten. Das ist ganz normal, weil es "die Juden" als homogene Gruppe nicht gibt, obgleich im öffentlichen Diskurs das Gegenteil suggeriert wird. Trotzdem bin ich froh, wenn ich mich bei solchen Diskussionen nicht dazu hinreißen lasse, "meine" Juden gegen die der Gegenseite aufzubieten. Das gehört sich nicht. Und weil man so fast unweigerlich in ein falsches Fahrwasser gerät, sollte der "Respekt vor den Opfern" nur dann bemüht werden, wenn er Teil eines umfassenderen Gedankengebäudes ist und nicht das einzige (Totschlag-)Argument. Das gebietet die intellektuelle Redlichkeit und müsste auch für bayerische Ministerien gelten. Wir werden noch erleben, ob die zuständigen Minister selbst den Kopf hinhalten, falls es wegen der Neuauflage von Mein Kampf Kritik hagelt, oder ob sie sich hinter den Juden, Sinti und Roma verstecken, mit denen gesprochen wurde.

Auf die Vorbehaltsfilme bezogen: Wenn es kein anderes Argument gibt als Jud Süß, soll man sie freigeben (sehr gern sachkundig kommentiert). Von mehreren problematischen Möglichkeiten ist das die beste. Wir befinden uns im Jahr 67 nach dem Ende des Dritten Reichs. Wie wäre es mit einer Rücknahme der bisher praktizierten, in einem Rechtsstaat so eigentlich nicht üblichen Beweisumkehr? Statt uns, die "mündigen Bürger" (oder sind wir doch alle Sitzkinder, egal ob mit Computer oder ohne?), unter Generalverdacht zu stellen und sich auf die gute alte Autoritätsgläubigkeit der Deutschen zu verlassen, erbringen die Institutionen, die Verbotslisten führen oder zum Schutz der Jugend Hakenkreuze aus Filmen schneiden, den Beweis, dass wir in Gefahr geraten, wenn wir Sachen sehen, die vor einem Dreivierteljahrhundert zur Indoktrinierung des damaligen Publikums angefertigt wurden. Wenn das nicht möglich ist: Bitte freigeben und zugänglich machen, damit Leute, die sich für die ungeschminkte Vergangenheit ihres Landes interessieren, nicht mehr auf die trüben Kanäle angewiesen sind, über die man die Vorbehaltsfilme derzeit beziehen kann, zumeist in miserabler Qualität. Das hatten wir lange genug.

Demnächst also ein letztes Mal Arthur Maria Rabenalt: Fronttheater mit einem Gastauftritt von Heinz Rühmann, dem Aushängeschild des unpolitischen Unterhaltungsfilms in Deutschland.

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