Frankreich: Störfälle in Atomkraftwerk vertuscht
Untersuchungen einer Spezialeinheit der Gendarmerie im AKW Tricastin und Büros der Atomaufsicht decken auf, dass es bei Sicherheitsvorkehrungen nicht zum Besten steht. Es geht um Funktionsstörungen von "gravierender Bedeutung".
Die französische Internet-Zeitung Mediapart hat aufgedeckt, dass im September das südfranzösische Atomkraftwerk Tricastin durchsucht wurde und dazu auch Büros der französischen Atomaufsicht (ASN) in Lyon.
Durchgeführt hat sie nach Informationen der Publikation die Spezialeinheit der Gendarmerie für "Verbrechen gegen die öffentliche Gesundheit und die Umwelt" (OCLAESP) im Auftrag der Staatsanwaltschaft. Die Durchsuchungen fanden am 27. und 28. September 2022 statt, wie erst jetzt bekannt wurde. Die Vorgänge verweisen auf eine weit verbreitete Geheimniskrämerei. Sie wurden inzwischen von verschiedenen Quellen auch gegenüber anderen Medien bestätigt.
Die Ermittlungen gehen unter anderem auf die Angaben eines Whistleblowers zurück.
Victor und Hugo und hochgefährliche Vorgänge
Bei dem Whistleblower handelt es sich um einen leitenden Angestellten, der "Hugo" genannt wird, um seine Anonymität in der Öffentlichkeit zu wahren. Den Behörden ist seine Identität genauso bekannt wie seinem Arbeitgeber EDF.
Offiziell arbeitet Hugo nach einer langen Krankschreibung noch immer in dem Kraftwerk, er wartet seit dem vergangenen Jahr auf Angebote der EDF, die ihm bisher nur "Besenkammer-Arbeiten" angeboten habe.
Den Ausschlag dafür, dass die OCLAESP wohl endlich Beweissicherung für hochgefährliche Vorgänge in einem der ältesten französischen Atomkraftwerke betreibt, könnte die Tatsache gegeben haben, dass auch ein zweiter leitender Angestellter schwere Vorwürfe gegen den Kraftwerksbetreiber EDF erhoben hat.
Der firmiert unter dem Namen "Victor". Er hat nun über seinen Anwalt beantragt, als Nebenkläger in dem Verfahren aufzutreten. Nach Angaben des 51-Jährigen sei es "unbestreitbar", dass die Verantwortlichen des Kraftwerks im Juli 2018 "alles getan haben, um die Inspektionsarbeit zu behindern".
Victor war als Ingenieur in der internen Inspektionsabteilung der EDF tätig. Nach Angaben seines Anwalts ist er nach mehreren Selbstmordversuchen krankgeschrieben, er sei "Mobbing" ausgesetzt gewesen, "im ausdrücklichen Auftrag der Kraftwerksleitung".
Störfälle vertuscht oder heruntergespielt
Es geht bei den Ermittlungen unter anderem um die Vorwürfe von Hugo, wonach allgemeine Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten würden oder Störfälle in dem Atomkraftwerk vertuscht oder heruntergespielt worden seien. Da er sich geweigert habe, an der Verschleierung mitzuwirken, sei auch er gemobbt worden.
Unter anderem habe man ihn im Rang zurückgestuft. Es sei ihm zum Beispiel der Umfang einer Leckage im Jahr 2018 genauso verschwiegen worden wie eine Überschwemmung oder andere sicherheitsrelevante Vorgänge.
Hugo, der weder der "EDF Schaden zufügen" will noch etwas gegen die "Kernkraftsparte hat", zeigte "gravierende Funktionsstörungen" an. Er hofft, dass nun die Justiz die Vorfälle untersucht, da seine Warnungen gegenüber der Regierung und der ASN "erfolglos" gewesen seien.
Dass Inspekteure bei ihrer Arbeit eingeschüchtert wurden, hat auch Victor bestätigt. Nach Angaben von Hugo, habe die Kraftwerksleitung versucht, Victor aus einem Prüfvorgang auszuschließen. Der Leitung hätten die Ergebnisse einer seiner vorherigen Inspektionen aus dem Jahr 2015 missfallen.
Laufzeitverlängerung
Dahinter habe nicht mehr und nicht weniger als die Frage einer Laufzeitverlängerung um zehn auf 50 Jahre für das altersschwache Atomkraftwerk gestanden.
Immer wieder hatte zum Beispiel Greenpeace darauf hingewiesen, dass auch in den Reaktoren in Tricastin "wesentliche Sicherheitsdefizite von gravierender Bedeutung bestehen", die unter praktischen Gesichtspunkten auch "durch Nachrüstung nicht behebbar sind".
Offensichtlich gehen die Ermittler davon aus, dass die Atomaufsicht in die Vorgänge verwickelt ist, denn gleichzeitig wurden auch ASN-Büros durchsucht. Wie interne Dokumente zeigten, die Mediapart eingesehen hat, habe die ASN gegenüber EDF eine besonders entgegenkommende Haltung eingenommen.
Dabei hatte Hugo auch die ASN auf Verstöße gegen Sicherheitsregeln und Verstöße gegen das Arbeitsrecht aufmerksam gemacht.
Atomaufsicht
Dass die Atomaufsicht in Frankreich sehr nachsichtig ist, hat Telepolis an verschiedenen Atomkraftwerken schon aufgezeigt. So wurde einem Meiler in Fessenheim trotz eines fehlerhaften Dampferzeugers erneut eine Betriebsgenehmigung erteilt, dessen Sicherheitszertifikate gefälscht worden waren.
Dem "neuen" EPR-Reaktor in Flamanville wurde ebenfalls eine Betriebsgenehmigung erteilt, obwohl auch der ASN die Sicherheitsprobleme am Reaktorbehälter bekannt sind.
Für Tricastin kam die ASN schon im Oktober 2002 in einem Bericht zum Ergebnis, dass die Reaktorkühlung bei einem Erdbeben nicht sichergestellt werden könne. Auch für die vier Reaktoren hatte die Regierung 2020 eine Laufzeitverlängerung um weitere zehn Jahre angekündigt. Diese wurde von der ASN schließlich 2021 genehmigt. Es ist klar, warum.
Frankreich verfügt wegen der verfehlten Atompolitik über eine enorme Stromlücke und steuert auf einen Blackout zu, da altersschwache und von Korrosion betroffenen Reaktoren ausfallen. Sicherheitsfragen werden aber immer stärker vernachlässigt, um zu versuchen, die Stromversorgung auch im Winter sicherzustellen.
So hatte die Regierung die EDF kürzlich "verpflichtet", alle Atomkraftwerke bis zu diesem Winter wieder in Betrieb zu nehmen.