Frankreich: Was macht überhaupt… die Linke?

Seite 4: Eine "Vorwahl", die keine wahre Wahl war

Unterdessen bemühte sich durch parteiungebundenen Aktivisten organisierte primaire populaire (sinngemäß: Bevölkerungs-Vorwahl), die vom 27. Januar bis 30. Januar abgehalten wurde, ebenfalls darum, eine parteienübergreifende Präsidentschaftskandidatur auf der Linken einzufädeln.

Dazu trugen sich derzeit 470.000 Stimmwillige in Verzeichnisse ein; es sollte zwischen sieben mehr oder weniger zur Linken gehörenden Bewerberinnen und Bewerbern entschieden werden.

Allerdings handelt es sich dabei nicht im Wortsinne um eine Wahl, also einen Prozess, in dessen Verlauf konkret für oder gegen eine bestimmte Person mit einem bestimmten Programm entschieden wird. Vielmehr ging es bei der primaire populaire um eine Art Notengebung, bei dem die Teilnehmenden etwa die Bündnisfähigkeit, die programmatische Innovation oder die Zukunftsfähigkeit durch Positionierung bei ökologischen Fragen bewerten konnten.

Zu jeder gestellten Einzelfrage durften Zensuren vergeben werden. Insgesamt sieben Präsidenschaftskandidaturen auf der Linken oder in der linken Mitte sollten so benotet werden; jene der französischen KP wurde nicht einbezogen, wohl aufgrund mangelnder ökologischer Sensibilität derselben (die Partei zählt bis heute zu den beinharten Verteidigern der Atomenergienutzung, mittlerweile mit einigen verbalen Abstrichen, aber ohne ernste Zweifel in der Sache.)

Eines der akuten und manifesten Probleme – neben der quasi völlig ausbleibenden Programmdebatte, das Ganze wurde eher wie ein "Ranking" zwischen Personen veranstaltet – dabei war, dass die Mehrzahl der sieben solcherart Bewerteten von dem Verfahren gar nichts wissen wollte. Vier der sieben erklärten bereits vorab, sich nicht an das Ergebnis halten zu wollen, jedenfalls in der Hinsicht, dass dieses einen bestgeeigneten Bewerber oder eine ebensolche Bewerberin bezeichnen würde.

Einige Anhänger/innen der primaire populaire traten deswegen gar zeitweilig in den Hungerstreik (sic!), um moralischen Druck dahingehend auszuüben, dass die unwilligen Kandidat/inn/en zur Teilnahme an dem Auswahlverfahren bewegt werden sollen. Acht Tage später setzten sie ihrem Hungern glücklicherweise wieder ein Ende.Unter anderem Mélenchon hatte ihre Vorgehensweise zuvor scharf kritisiert. Es ist auch irgendwo doof, deswegen ein Frühstück zu versäumen.

Am stärksten ließ sich die frühere Justizministerin Christiane Taubira auf den Prozess ein; sie lobte das Verfahren der primaire populaire und erklärte explizit, sich an ihr Resultat gebunden zu fühlen. Ihre Präsidentschaftskandidatur hatte sie am 15. Januar 22 von Lyon aus erklärt, pünktlich für das Stichdatum, das gesetzt worden war, um bei der primaire-Prozedur berücksichtigt zu werden. Taubira erhielt "die beste Note".

Anne Hidalgo wiederum machte zuvor einen Rückzieher, nachdem die französischen Grünen das ihnen von Hidalgo unterbreitete Angebot zu einer Einheitskandidatur ausschlugen und hielt sich ab da nicht mehr an die Abstimmung und ihre Ergebnisse gebunden.

Die Umweltpartei Europe Ecologie-Les Verts (EE-LV) hatte bei einer eigenen Urwahl ihrer Mitglieder und Sympathisanten im September 21 ihren Kandidaten, Yannick Jadot vom Realoflügel, mit knapper Mehrheit gegen die linksfeministische Gegenbewerberin Sandrine Rousseau nominiert. Jadot zeigte keinerlei Ambitionen, sich einer neuerlichen Urabstimmung etwa in Gestalt der primaire populaire zu unterziehen. (Roussereau wiederum näherte sich in jüngerer Zeit an Taubira an.)

Anne Hidalgo hingegen schien in Wirklichkeit vor allem daran gelegen, ihre eigene Partei zum Verzicht auf ihre Kandidatur zu bewegen, aber zugunsten eines exklusiven Bündnisses mit den Grünen. Das Manöver scheiterte jedoch, hauptsächlich daran, dass die französischen Grünen von späteren Rücksichtnahmen auf andere Parteien unabhängig bleiben wollten.

Aufgrund der Prägnanz des Klimathemas, zu dem in den vergangenen drei Jahren Schülerstreiks und Demonstrationen stattfanden, glaubten die Grünen sich im Aufschwung. Schnitten sie doch bei den Europaparlamentswahlen 2019 vor diesem Hintergrund mit 13,5 Prozent der abgegebenen Stimmen relativ gut ab. Derzeit stagnieren sie dennoch im Wahlkampf und in den Vorwahlumfragen, auch aufgrund ihres mangelnden sozialen Profils, und drohen über fünf bis sechs Prozent nicht hinauszukommen.

Im Januar 21 schloss sich etwa der prominente Umwelt- und Tierschützer und Journalist Aymeric Cayron dem Kandidaten Mélenchon an, mit der Begründung, das ökologische Profil Yannick Jadots sei "fade", und es mangele ihm an der nötigen inhaltlichen Radikalität.

Retterinnenfigur Christiane Taubira?

Madame Taubira wird als Person in linken bis liberalen Kreisen weithin respektiert und eher wenig mit den sozial- und wirtschaftspolitischen Hinterlassenschaften der Hollande-Jahre assoziiert.

Dies liegt aber auch daran, dass sie zu sozio-ökonomischen Themen (anders als zur Justizpolitik) eher selten Stellung nimmt, und zum Teil auch schlicht keinen blassen Schimmer von ihnen zu haben scheint, wie ihr jüngster Auftritt bei gegen Wohnungsknappheit kämpfenden Sozialverbänden aufzeigt. Dort legte sie eine frappierende Ahnungslosigkeit zu den angesprochenen Themen an den Tag.

Christiane Taubira. Bild: Bruno Barral / CC-BY-SA-4.0

Taubira legte bis jetzt kein ausformuliertes Wahlprogramm vor, weshalb man davon ausgehen muss, dass ihre wahrgenommene Statur – einer in der Öffentlichkeit als integer geltenden politischen Figur – nicht mit inhaltlicher Programmstärke einhergeht.

2013 wurde die damalige Ministerin zum Opfer offen rassistischer verbaler Angriffe in der Öffentlichkeit; auch attackierten homophobe Kreise die Ministerin damals wegen ihrer Rolle bei der Ausarbeitung des Gesetzes von 2013 zur "Ehe für Alle". In diesen Zusammenhängen war es ebenso ehrbar wie absolut politisch notwendig, sie zu verteidigen.

Neben diesen bekannten Tatsachen weist Taubiras scheinbar lückenlos linksliberales Profil allerdings einige Widersprüche auf. So sprach sie zu Beginn ihrer politischen Karriere 1993 als Abgeordnete der damaligen rechtskonservativen Regierung unter Edouard Balladur zu ihrem Beginn das Vertrauen aus.

Zu Jahresende 2021 zeigte die Parlamentarier von Französisch-Guyana sich zunächst reichlich unkritisch zu den in Frankreichs "Überseegebieten" stark verbreiteten Impfgegner-Thesen, bevor sie infolge wachsender Kritik davon Abstand nahm; inzwischen befürwortet sie eine Impfpflicht.

Aussichten

Erweist sich die aktuelle Periode als schwierig für die staatstragende und als "regierungsfähig" geltende Linke, hält sie auch für die außerinstitutionelle und -parlamentarische radikale Linke keine guten Perspektiven bereit.

Die Bewerber der trotzkistisch inspirierten Parteien Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) und NPA (Neue Antikapitalistische Partei), Nathalie Arthaud und Philippe Poutou, sofern sie die formalen Voraussetzungen für eine Kandidatur in Gestalt von 500 Unterstützungsunterschriften von Mandatsträgern erfüllen können, dürfen zusammen derzeit mit maximal zwei Prozent zusammen rechnen.

Im April 2002 wurden für vergleichbare klassenkämpferische Kandidaturen (damals die von Arlette Laguiller und Olivier Besancenot) zusammen zehn Prozent der Stimmen bei der damaligen Präsidentschaftswahl abgegeben.

Das wichtigste Thema in den Augen der potenziellen Wählerinnen und ist derzeit, ausnahmslos allen Umfragen zufolge, die Kaufkraft, die durch knapp die Hälfte der Befragten genannt wird. Ihr folgen die Auswirkungen der Corona-Krise, Umwelt und Klima, die "Innere Sicherheit" und erst danach – von 25 Prozent der Befragten angeführt – "die Immigration", auch wenn mehrere Kandidaten diese ins Zentrum aller Debatten zu rücken versuchen.

In erster Linie der Rechtsextreme Eric Zemmour, während die Chefin des neofaschistischen Rassemblement National (RN), Marine Le Pen, dessen Konkurrenz auszuweichen versucht, indem sie die traditionellen Kernthemen ihrer Partei relativiert und stattdessen, noch stärker als früher, auf einen vermeintlich sozialen Diskurs setzt. Doch dazu vielleicht demnächst mehr…