Halbe Wahrheiten, ganzes Problem: Journalismus auf dem Prüfstand
Olaf Scholz behauptet: Irreguläre Migration deutlich gesenkt. Ungleichbehandlung von Parteien bei Tagesschau. Sexismus in Kritik um Correctiv-Recherche. Medienkritik.
In der Diskussion um die Qualität journalistischer Beiträge spielt die Vollständigkeit eine untergeordnete Rolle. Dabei ist sie für den Auftrag, Orientierung anzubieten, elementar. Halbe Wahrheiten sind schließlich gar keine.
Unvollständigkeit von Nachrichten
Welche Details, Hintergründe und Querverbindungen im Einzelfall notwendig sind, um einen Artikel oder Sendungsbeitrag als vollständig anzusehen, lässt sich daran ermessen, ob mit zusätzlichen Informationen beim Rezipienten ein deutlich anderes Bild von der Lage entstehen wird.
In den letzten Tagen erschienen zahlreiche Beiträge zu zwei Ereignissen, die überwiegend nicht miteinander verknüpft wurden – obwohl dann ein deutlich anderes Bild entsteht.
Am Dienstag, 20. August, legte das Bundeskriminalamt (BKA) sein "Bundeslagebild Schleusungskriminalität 2023" vor.
Am folgenden Tag gab es eine Pressemitteilung dazu, deren Kernaussagen sich in einem Bericht der dpa dazu wiederfinden, zu lesen beim ZDF oder t-online.
Demnach gab es 2023 "erneut eine deutliche Zunahme der illegalen Migration nach Europa (...), wobei sich Deutschland als Hauptzielstaat in der Europäischen Union (EU) erwies".
In Deutschland seien 266.224 Tatverdächtige wegen unerlaubter Einreise und unerlaubten Aufenthalts registriert worden, was im Vergleich zum Jahr 2022 einen Anstieg um 33,4 Prozent bedeute.
Im Bereich der sogenannten "Behältnisschleusungen", vom BKA definiert als der "menschenunwürdige Transport von Personen in Fahrzeugen mit einem hohen Lebensrisiko durch Sauerstoffmangel, Dehydrierung, Unterkühlung oder erhöhter Verletzungsgefahr bei Unfällen", haben sich die Fälle gegenüber dem Vorjahr verdoppelt, die Zahl der dabei eingeschleusten Personen hat sich laut BKA nahezu verfünffacht.
Das andere Ereignis: Einen Tag zuvor, am Montag, 19. August 2024, besuchte Olaf Scholz (SPD) das Volksfest "Stoppelmarkt" im niedersächsischen Vechta. Dort sprach der Kanzler in seiner Rede auch über "irreguläre Migration" (Video).
In der regional zuständigen Nordwest-Zeitung (NWZ) heißt es dazu:
Die großen Themen wie Klimawandel, Ukraine-Krieg und Migration schnitt Scholz nur kurz an und versuchte, die Zeltgäste zu motivieren.
Lasse Deppe, NWZ, 19. August 2024
Doch im Hinblick auf den BKA-Bericht ist folgende Passage aus Scholz' Rede beachtenswert:
In den vergangenen Jahren haben wir die irreguläre Migration schon deutlich gesenkt, übrigens zusammen mit Ländern und Kommunen. Das ist ein großer Erfolg und zeigt, es geht. Solche Antworten in der Sache brauchen wir und keine Debatten über offene Grenzen für alle oder Extremisten, die in Potsdamer Villen ihre Vertreibungspläne schmieden.
Olaf Scholz
Die Relevanz dieser Behauptung mag an jenem Tag noch nicht offensichtlich gewesen sein. Doch spätestens bei der Berichterstattung zum neuen "Bundeslagebild Schleusungskriminalität" war eine Verknüpfung dringend geboten.
Die Frage lautet: Auf welche Fakten stützt sich Scholz, wenn er von einer deutlich gesenkten illegalen Migration spricht?
Rechtspopulisten – Meinung statt Recherche
In den Nachrichten mancher Medien sind Kommentierungen so gegenwärtig, dass man sie nur noch bemerkt, wenn man mal den Kanal wechselt.
In einem Text-Bericht der Tagesschau zur Vorstellung des Wahlprogramms der FPÖ wird der Parteiname zweimal durch "Rechtspopulisten" ersetzt, nachdem sie schon bei der ersten Erwähnung als "Rechtsaußen-Partei" bezeichnet wurde.
"Rechtspopulisten" ist eine persönliche Wertung, die in Nachrichten nichts zu suchen hat – insbesondere in öffentlich-rechtlichen. Denn was sollte der allgemeingültige Maßstab für "Populismus" sein? Etwas zu vertreten, was viele gerne hören wollen? Einfache Lösungsvorschläge für komplizierte Fragen? Das dürfte auf praktisch alle Wahlkampfslogan zutreffen, vom Frieden über die "soziale Gerechtigkeit" bis hin zum "lebenswerten" Land.
Der Meinungscharakter wird besonders deutlich, wenn man sich die Beschreibung anderer Parteien anschaut. Die SPÖ erhält im selben Beitrag das Attribut "sozialdemokratisch", was schlicht ihrem Namen entspricht. Die ÖVP wird als "konservativ" etikettiert. Das ist wenigstens eine Verkürzung. In ihrem Grundsatzprogramm heißt es:
Wir verstehen uns als moderne christdemokratisch geprägte Volkspartei. Wir haben christlich-soziale, konservative und liberale Wurzeln. Aus ihrer ideengeschichtlichen Relevanz und Vielfalt leiten wir den Anspruch ab, erfolgreiche Politik für eine pluralistische Gesellschaft entwickeln und gestalten zu können.
ÖVP-Grundsatzprogramm 2015
"Konservativ" taucht in diesem Programm kein zweites Mal auf, dafür fünfzigmal irgendwas mit "entwickeln" oder "Entwicklung".
Und nun der Blick in ein österreichisches Medium, die Tageszeitung Standard. Auch sie berichtet ausführlich von der Vorstellung des FPÖ-Wahlprogramms.
Doch die Zuschreibung "Rechtspopulisten" findet sich im Artikel nicht. Stattdessen, wie in Österreich üblich und analog zur "sozialdemokratischen SPD" der Tagesschau, wird von den "Freiheitlichen" gesprochen, stehen die drei Buchstaben doch für "Freiheitliche Partei Österreichs".
Orientierung bietend ist die nachrichtlich getarnte Kommentierung der Tagesschau nicht. Hilfreicher wäre da gewesen, mehr aus dem Programm zu nennen. Im österreichischen Standard etwa ist zu lesen, die FPÖ verspreche eine 5.000-Euro Prämie für jeden, der eine Lehre mache und zur Prüfung antrete.
Aber vielleicht hat bei der Tagesschau auch niemand ins Wahlprogramm geschaut, obwohl es im eigenen Beitrag verlinkt ist. Denn warum sonst sollte man schreiben:
Wie der öffentlich-rechtliche ORF berichtete, soll per Verfassungsbestimmung festgeschrieben werden, dass es nur zwei Geschlechter gibt.
Tagesschau, 21.08.2024
Auf Seite 58 des FPÖ-Programms kann man fündig werden – ganz ohne Berufung auf die Kollegen vom Österreichischen Rundfunk (ORF).
Weniger ist mehr: Nix mehr auf X
Nach etwas Abwarten nach der Übernahme durch Elon Musk haben sich inzwischen einige Medien von X (ehemals Twitter) verabschiedet. Ein Text von Joachim Huber war im Tagesspiegel dazu überschrieben mit: "Der Deutschlandfunk lässt seine 314.000 Follower im Stich".
Eine gute Begründung ließen insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen in der Tat vermissen. Denn nicht mehr zu bändigende Diskussionen unter Kurzbeiträgen kann man komplett unterbinden, der Arbeitsaufwand für das Ausspielen ist marginal, und wohl die meisten (großen) Medien reagieren ohnehin nicht auf Nutzerkommentare.
Twitter war für sie immer schon ein RSS-Ersatz, ein reiner Sendekanal ohne Dialog, wie ungezählte Fehlerhinweise von Usern zeigen, die ohne jegliche Reaktion bleiben.
Das Deutschlandradio hat im Zuge seiner strategischen Neuausrichtung nicht nur die X-Kanäle geschlossen, sondern auch die Textabbildung von Hörfunkbeiträgen reduziert. Selbst was fix und fertig als Manuskript vorliegt, wird nun nicht mehr in jedem Fall auch online angeboten, sondern nach individueller Entscheidung der Online-Redaktion.
Dass ein Radiosender Hör-Angebote macht, ist selbstverständlich. Allerdings gab es schon lange vor Zeiten des Internets einen Manuskript-Service, über den man per Post gegen Einsendung eines frankierten Rückumschlags die Textfassung zu vielen Sendungen bekommen konnte.
Beliebiges Nochmal-Hören war damals natürlich auch noch nicht möglich, aber Menschen mit Hörbeeinträchtigungen gab es schon immer.
Zu dieser Strategie befragt, antwortete der Sender u.a.:
Insgesamt bildet Audio den Schwerpunkt unseres Schaffens: Im Rahmen unserer Digitalstrategie wollen wir noch mehr als bisher auf unsere Stärke und Kernkompetenz Audio im Digitalen setzen. Daher haben wir im Online-Bereich Ressourcen weg von der Textproduktion hin zur Produktion und Distribution von Audios und Podcasts verschoben.
Wenn es um die Nutzung von Audios geht, hören die Nutzerinnen und Nutzer vor allem auf den Audio- und Streamingplattformen. Deswegen haben wir unter anderem auch unsere Bemühungen intensiviert, die Deutschlandfunk-App zu verbessern. (...)
Die Webseiten spielen bei der Nutzung von Audios eine untergeordnete Rolle für die Hörerinnen und Hörer. Statt vieler unterschiedlicher Texte zu ein und demselben Thema, versuchen wir nun, wenige umfassendere Texte zu veröffentlichen, die die unterschiedlichen Facetten eines Themas beleuchten – und die auch die wichtigsten Audios zum Thema verlinken.
Diese Texte sind deutlich stärker suchmaschinenoptimiert als die frühere Abbildung von Sendemanuskripten. So hoffen wir, dass uns auch vermehrt neue Nutzerinnen und Nutzer über Suchmaschinen, wie etwa die Google-Suche, finden. Das Erreichen von neuem Publikum gehört zu unserem Auftrag.
Vor allem aus Gründen der Barrierefreiheit wollen wir in Zukunft verstärkt Interviews zum Nachlesen anbieten. Dafür wollen wir automatische Spracherkennungssysteme einsetzen. Die Umsetzung wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Xenia Sircar, Pressestelle Deutschlandradio
Gegen neue Formate werden nur wenige etwas einwenden. Aber das schon Vorhandene nicht in jeder sinnvollen Form anzubieten, überzeugt nach dieser Argumentation nicht.
In den sozialen Medien und sicherlich auch in privaten Messanger-Diensten werden allenfalls kurze Audio-Snippets verbreitet, viel eher jedoch Texte, die sich auch schnell mal überfliegen lassen.
Die derzeitige Strategie hat jedenfalls schon dazu geführt, dass engagierte Hörer selbst Radiotexte abgetippt haben, damit sie online zur Verfügung stehen können – obwohl sie ja längst vorliegen, nur eben nicht veröffentlicht werden.
"Penisfechten" um Correctiv-Text
Die von Übermedien erhoffte Debatte um den gesellschaftsrelevanten Correctiv-Text "Geheimplan gegen Deutschland" ist nicht zustande gekommen.
Es war nun wohl einfach zu spät dafür.
Aber auf eine Resonanz soll hier noch hingewiesen werden. In ihrer Zusammenfassung der Kritik von Übermedien am Correctiv-Text, den Reaktionen der verschiedenen Protagonisten und ihrer eigenen Kritik an dem ganzen Geschehen, schreibt taz-Redakteurin Carolina Schwarz einen Satz, der – entsprechend auf weibliche Akteure gewendet – wohl einen Sexismus-Aufschrei ausgelöst hätte.
Denn zur öffentlichen Auseinandersetzung der drei vom Namen her männlich gelesenen Übermedien-Autoren und deren entsprechenden Kontrahenten auf Correctiv-Seite schreibt Schwarz:
Von außen wirkt das nicht wie seriöse Medienkritik, sondern wie ein peinliches Penisfechten unter Journalisten.
Carolina Schwarz, Peinliches Penisfechten, taz
Wenn das in Ordnung geht, wie sähe dann eine sozial-adäquate Beschreibung einer Auseinandersetzung unter Journalistinnen aus? "Stutenbissigkeit" hat Wikipedia bereits zu einem "Geschlechterrollen-Stereotyp" erklärt – scheidet also aus.
Problematisch am Vorwurf des "Penisfechtens" ist nicht nur der wohl inhärente Sexismus, sondern auch die Schiefe des Bildes insgesamt. Denn "Penisfechten" hat bei Affen gerade nichts mit einer Auseinandersetzung zu tun hat, es dient vielmehr der Beziehungspflege.
Es wäre auch reichlich riskant, ausgerechnet für den Kampf mit einem Rivalen ein besonders schwaches und empfindliches Körperteil einzusetzen.
Rivalen oder Gruppenfremden zeigen Affen-Kerle ihr Gemächt lieber auf Abstand, simpel "Genitalpräsentation" genannt. Der insbesondere unter Teenagern allgegenwärtige Trivialbegriff dazu findet sich auch gelegentlich in den Medien, ebenfalls noch ohne zulässige Entsprechung für Frauen.