Mit Russland und China reden: Hilft Diplomatie gegen politische Narrative?

Zartes Pflänzchen "Diplomatie" sucht seinen Weg durch agressive Sprechblasen

In einer Welt voller Spannungen ist Diplomatie wichtiger denn je. Dialog entscheidend für Vermeidung von Krieg. Doch hat Diplomatie noch eine Chance?

In einem Gastvortrag Mitte Juni in Singapur plädierte der ehemalige indonesische Außenminister Marty Natalegawa leidenschaftlich für Diplomatie und Dialog zur Vermeidung weiterer militärischer Auseinandersetzungen und die friedliche Beilegung von Interessenkonflikten.

Sein Stichwort "amity" steht für Freundschaft oder gutes Einvernehmen zwischen Staaten und ist für die zehn Asean-Mitglieder 1976 als Grundlage der gegenseitigen Beziehungen vertraglich vereinbart worden. Das Prinzip hat seitdem bewaffnete Konflikte verhindert und den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung der Region gefördert.

Davon können leider viele Länder in anderen Regionen nicht einmal träumen. In der militärisch aufgeladenen Situation der heute so stark fragmentierten Welt wären Dialog und Diplomatie deshalb dringend notwendig.

Das Recht des Stärkeren: Abrüstung war gestern

Der britisch-amerikanische Dichter W.H. Auden hat die politischen Alternativen in den folgenden Versen festgehalten:

When Statesmen gravely say, we must be realistic,
The chances are they're weak and, therefore, pacifistic,
But when they speak of Principles, look out: perhaps
Their generals are already poring over maps.

Die Kombination von "realistisch" und "pazifistisch" klingt ironisch, aber sie bestätigt nur das deutsche Sprichwort "Der Stärkere hat immer recht". Blickt man mit Nostalgie auf die Verhandlungen zur Begrenzung strategischer Waffen (Salt) in den 1970er-Jahren und den Vertrag über die Verringerung strategischer Waffen (Start) in den 1990er-Jahren zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zurück, so ist der derzeitige Zustand der Welt erschreckend.

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Nicht nur, dass im Jahr 2023 die größte Zahl gleichzeitiger bewaffneter Konflikte aller Zeiten konstatiert wurde, auch der verbreitete Drang nach noch mehr militärischer Aufrüstung ist beispiellos. Und während sich die Aufmerksamkeit der Medien auf die Ukraine und den Gazastreifen konzentriert, werden die Kriege im Sudan, im Jemen, in Haiti und an vielen anderen Orten vernachlässigt oder ignoriert.

Diplomatie oft erst um fünf nach zwölf

So sehr Diplomatie und Dialog nötig sind, sie kommen oft zu spät und wirken wie ein Reparaturinstrument oder eine Feuerwehr, wenn das Haus schon lichterloh brennt. Die hektische Pendeldiplomatie des amerikanischen Außenministers Antony Blinken zwischen Jerusalem, Kiew und Washington ist nur das jüngste Beispiel.

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Zu den Gründen gehört, dass das Potenzial der diplomatischen Dienste mit ihren Zehntausenden von erfahrenen Botschaftern und diplomatischen Mitarbeitern von den politischen Führern nicht immer ausreichend genutzt wird.

Politiker mögen zwar diplomatische Berichte lesen, aber sie neigen dazu, ihre Meinungen und Urteile auf der Grundlage von vielen weiteren Informationsquellen zu bilden, vorwiegend Medien, Geheimdienste, Umfragen, Publikationen der Thinktanks, also mit den vorherrschenden Narrativen, oft zusätzlich gefiltert durch Parteiprogramme und Ideologien.

Informationskrieg: Öffentliche Meinung, Thinktanks und Narrative

Wahrscheinlich unterschätzen wir die langfristige Wirkung akademischer Theorien als Informationsquelle für Politiker und die Öffentlichkeit. Ähnliches gilt für die wachsende Zahl von Thinktanks, Denkfabriken, die es in allen Formen, Größen und Zielsetzungen gibt.

Dies verdient besondere Aufmerksamkeit, da viele von ihnen objektiv klingende Titel tragen, mit Begriffen wie internationale Beziehungen, Politikforschung, öffentliche Politik, strategische Studien oder ähnlich. Viele werden jedoch mit einer klaren Agenda gegründet und finanziert, auch wenn sie einer Universität angegliedert sind und namhafte Akademiker zu ihren Mitarbeitern zählen.

Wikipedia listet allein in den USA 143 Thinktanks in der Kategorie "Politik und Wirtschaft" und 73 weitere für "Internationale Beziehungen und Sicherheit" auf. Weltweit gibt es zwischen 11.000 und 12.000 Thinktanks, von denen etwa die Hälfte einflussreich ist und regelmäßig Forschungspapiere, Bücher und Memoranden herausgibt sowie Konferenzen und Pressemitteilungen organisiert.

Zusammen mit den Beiträgen der Universitäten schafft diese Meinungsindustrie Narrative und trägt zur Gestaltung politischer Agenden und der öffentlichen Meinung bei.

Wie Diplomatie und Friedenspolitik ins Hintertreffen geraten

Die Gefahr besteht darin, dass Thinktanks, die Interessengruppen, politischen Parteien oder mächtigen Industrieunternehmen nahestehen oder von diesen finanziert werden, Narrative entwickeln, die nicht unbedingt im nationalen Interesse ihres Landes liegen.

Nicht überraschend sind sie oft genug noch weniger im Interesse des internationalen Friedens. Thinktanks und die Wissenschaft tragen zur Bildung von Diskurskoalitionen auf nationaler und globaler Ebene bei, die Wahrnehmungen und Meinungen beeinflussen und verstärken.

Aufgrund ihrer Aura akademischer Autorität kann ihr Einfluss auf die Medien kaum überschätzt werden. In einer Zeit zunehmender Unzuverlässigkeit von Informations- und Desinformationsquellen ist die Manipulation von Verbrauchern, Bürgern und Wählern gefährlich.

Und politische Parteilichkeit und Propaganda spalten zunehmend die nationalen Gesellschaften und die Welt als Ganzes. Mit dem raschen Zerfall der liberalen oder regelbasierten Weltordnung der Nachkriegszeit verschärfen sich die politischen Rivalitäten und der wirtschaftliche Wettbewerb. Am sichtbarsten und wahrscheinlich am gefährlichsten ist die wachsende Rivalität zwischen den USA und China.

Schlafwandelnd in den Krieg

Das ist der Titel eines Artikels des Yale-Professors Odd Arne Westad, der am 13. Juni in Foreign Affairs veröffentlicht wurde. 1

Westad beginnt mit der Analyse des Historikers Paul Kennedy über die wachsende Feindschaft zwischen Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.

Nach der deutschen Einigung von 1871 und der raschen Industrialisierung und kolonialen Expansion des Kaiserreichs sah Großbritannien die deutsche Konkurrenz als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit an, zumal Deutschland mit dem Flottenbau die Vorherrschaft der Royal Navy infrage zu stellen begann.

Infolgedessen warfen britische Politiker und Kommentatoren Deutschland "unfaire Handelspraktiken" vor. Im Jahr 2024 klingt das mehr als vertraut.

Konfrontation mit China

Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der technologische Vorsprung und die Preisvorteile chinesischer E-Autos bedrohen die europäischen Autohersteller in ihrer Existenz. Da deren Verkäufe auf dem chinesischen Automarkt einen wesentlichen Teil ihrer Gewinne ausmachen, wäre ein direkter Konfrontationskurs zu riskant.

Doch die neuen Einfuhrzölle versprechen keinen Kompromiss, der einen ausgewachsenen Handelskrieg verhindern könnte.

Das Narrativ vom unfairen Handel ist nicht nur alt, sondern auch heuchlerisch, denn es widerspricht den Freihandels- und Markt-Mantras der industrialisierten Welt. So wie Deutschland vor 150 Jahren mit Großbritannien gleichgezogen hat, übertrifft China jetzt die traditionellen Muster der Wirtschaftsentwicklung an Geschwindigkeit und Tiefe.

Die Verbesserung aller Art von Produkten und die Entwicklung von Marktführerschaften für diese Produkte wecken in Europa und den USA die Angst, überholt zu werden.

Neben dem wirtschaftlichen Wettbewerb hat sich auch das militärische Ungleichgewicht zwischen den USA und China rasch verändert. Chinas Ausbau der Marine- und Luftstreitkräfte wird in den USA zunehmend als direkte Bedrohung empfunden, während China gegenüber der amerikanischen Dominanz im asiatisch-pazifischen Raum selbstbewusster auftritt, zumal es seit dem Zweiten Weltkrieg von zahlreichen US-Stützpunkten umgeben ist.

Das Wettrüsten geht deshalb weiter, ungeachtet des Atomwaffenarsenals auf beiden Seiten, das einst als Garantie gegen Überraschungsangriffe galt. Ende Mai veröffentlichte der republikanische Senator Roger Wicker in der New York Times ein leidenschaftliches Plädoyer für eine massive Aufstockung des Militärbudgets Amerikas.2 Ein Schlüsselsatz darin lautet:

We can avoid war by preparing for it.

Leider galt und gilt dieses altrömische Axiom nur für eine dominante Macht, aber nicht mehr für die zunehmend asymmetrische Kriegsführung der Gegenwart. Wie die europäische Reaktion auf den Krieg in der Ukraine seit 2022 gezeigt hat, scheint die Kriegsrhetorik als mächtiges Narrativ ansteckend zu sein.

Krieg zwischen USA und China: Self-fulfilling prophecy?

Spezielle Narrative wie die Theorie der "Thukydides-Falle", die der Harvard-Politologe Graham Allison 2012 aufgestellt hat, sind verführerisch und gefährlich zugleich. Sie besagt, dass ein Krieg zwischen China und den USA so unvermeidlich ist wie die Kriege zwischen Athen und Sparta vor 2500 Jahren.

Wenn ein solches Narrativ nicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird, kreiert es doch alle möglichen politischen Forderungen und Prioritäten, insbesondere bei der Rüstungsbeschaffung und der Entwicklung fortgeschrittener Waffensysteme.

Noch gefährlicher als akademische und publizistische Narrative sind die weaponised narratives oder Narrativwaffen geheimer staatlicher Akteure, die Informations- und Kommunikationstechnologien und -dienste nutzen, um mit Narrativen die Institutionen und die Identität des Gegners zu untergraben.

Die jüngsten Enthüllungen der Nachrichtenagentur Reuters im Zusammenhang mit Covid und China sind dafür ein Beispiel.

Für viele Länder des Südens kann eine einseitige Parteinahme für China oder die USA keine vernünftige Lösung sein. Änderungen oder Anpassungen der bisherigen Weltordnung kommen auf uns zu.

Deshalb wird es eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit sein, ob sich aggressive politische Narrative durch Dialog und eine präventive Diplomatie entschärfen lassen. Militärische Konfrontation kann oder besser darf nicht die Alternative sein.