"Hungerschlangen vermeiden"

Nahrungsmittelverteilung in La Negreta wird vorbereitet. Foto: Ralf Streck

In ganz Spanien explodieren Armut und Obdachlosigkeit, da mit der Coronakrise die Wirtschaft des Landes besonders stark abgestürzt ist, doch viele Basisinitiativen kämpfen gegen die Folgen an

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"So eine Schweinerei", hallt es durch die Altstadt Barcelonas. Ein Obdachloser wühlt in seinen Kartons, die sein Zuhause an der hinteren Seite der Kirche Santa Maria del Pi bilden. "Mein Schlafsack wurde geklaut", schreit er aus Frust über den kleinen Platz im "Barri Gòtic" (Gotischen Viertel). Der Platz liegt in der pittoresken "Ciutat Vella" (Altstadt) und war vor der Franco-Diktatur nach dem "Unbekannten Milizen" benannt. Er erinnert an die Verteidigung der Stadt und Kataloniens gegen Francos Putschtruppen.

Eine Inschrift tauchte erst 2004 bei der Renovierung der Kirche auf. Vermutlich hat den Schlafsack einer der vielen Obdachlosen gestohlen. Zwar scheint die Sonne meist noch, doch auch die Tage sind kühl und die Nächte auch hier am Mittelmeer nun richtig kalt.

Menschen wie den Bestohlenen trifft man nun in immer größerer Zahl in der katalanischen Metropole. Sie sind der deutlichste Ausdruck der explodierenden Armut. Denn die Wirtschaft in Spanien ist wie keine andere in Europa in der Coronakrise abgestürzt. Die EU-Kommission prognostiziert, dass die spanische Wirtschaft 2020 sogar um 12,4 % schrumpfen wird, so stark wie in keinem anderen Land in der Europäischen Union.

Denn sie hängt stark am Tourismus, der eingebrochen ist. Cafés, Bars und Restaurants zwar wieder geöffnet, doch wegen fehlender Gäste meist leer. So ist die Stimmung ist trübe. Und kommt es zu einer dritten Corona-Welle, vor der Experten schon warnen, ist mit einer Besserung auch im kommenden Frühjahr nicht zu rechnen.

Hotel Dalia Ramblas. Foto Ralf Streck

Sogar die Promenade Ramblas, wo sich sonst Touristen drängeln, ist leer. Hier stolpert man nun sogar tagsüber auf in Decken gewickelte schlafende Obdachlose. Improvisierte Nachtlager finden sich in allen Ecken. Biegt man von der Promenade, die die Altstadt vom Armenviertel Raval abtrennt, in Richtung des Viertels ab, nimmt die Zahl zu. "Steht auf, steht auf", treiben Stadtpolizisten der "Guàrdia Urbana" drei Obdachlose aus Kartons und Schlafsäcken, die den Eingangsbereich des geschlossenen Hotels Dalia Ramblas als Unterschlupf nutzen. Da es nun bisweilen auch regnet, sind Arkaden, wie am fast ausgestorbenen Plaça Reial (Königlicher Platz), und andere Überdachungen beliebt.

Fast vier Millionen Arbeitslose

Am Plaça del Pedro im Raval versammeln sich derweil Aktivisten. Nervös blicken Wachleute und Bedienstete des Sozialdienstes auf die größer werdende Schar. Sie befürchten eine Besetzung ihrer Einrichtung. Eine Verantwortliche sucht aber das Gespräch und wird beruhigt: "Nein, hier wird nichts passieren", erklären die Aktivisten. Sie scharen sich um "Juanita" und ihren Mann. Denn der Protest richtet sich gegen deren geplante Zwangsräumung, die am 14. September zunächst verhindert wurde, aber nun erneut angesetzt ist.

Leere Terrassen der wieder geöffneten Kneipen. Foto: Ralf Streck

An diesem Tag begannen nach dem Corona-Moratorium Räumungen auch wieder in Barcelona. "Jeden Tag sind allein in der Altstadt und im Raval etwa zehn angesetzt", sagt Ana Moreno. "Es scheint, die verlorenen Monate sollen aufgeholt werden", meint die Sprecherin von "Raval Rebel". Die Organisation, wie das "Sindicat de Llogaters i Llogateres" (MieterInnengewerkschaft - siehe Mietenstreik wegen Coronavirus in Spanien) und Anwohnerorganisationen unterstützen mit anderen hier im "Barri" Menschen wie Juanita.

Sie wurden hier schon vor der Krise oft fadenscheinigen Gründen aus der Wohnung geworfen, um Mieten drastisch erhöhen zu können. Derzeit stehen oft, wegen Arbeitslosigkeit, nicht bezahlte Mieten im Hintergrund. Offiziell sind nun wieder nahezu fast vier Millionen Menschen arbeitslos, das entspricht einer Quote von mehr als 16 %. Real liegt sie noch deutlich höher, da allein 750.000 Kurzarbeiter nicht erfasst werden.

Bitte um Nahrungsmittelspende für La Negreta. foto: Ralf Streck

Allerdings, so fügt Moreno an, werden die wenigsten Räumungen tatsächlich umgesetzt. Viele Familien gingen "freiwillig". In einigen Fällen werde über eine Mediation eine Lösung gefunden, andere würden von den Anwohnern verhindert. Juanita, die ihren echten Namen aus Angst nicht nennen will, sei zudem ein ganz besonderer Fall, erklärt Moreno. Denn es handelt sich um eine 25-jährige Transsexuelle, die aus Marokko geflüchtet war, da sie wegen ihr sexuellen Orientierung verfolgt wurde. Sie ist, anders als ihr Partner, zwar als Flüchtling anerkannt.

Das Paar gehört aber zu denen, die von dem gemeinsamen Einkommen (600 Euro) die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Eine billigere Wohnung finden sie nicht. Homophobie oder Rassismus seien die Gründe, erklären sie. "Wir wurden bei Besuchen sogar schon tätlich angegriffen", berichtet Juanita.

Der Vermieter wird in diesem Fall nicht verantwortlich gemacht. Es ist kein Spekulant, sondern selbst in der Krise dringend auf die Mieteinnahme angewiesen. Die Aktivisten greifen deshalb vor allem Stadtverwaltung an, die das Paar nicht als "verletzlich" anerkennt, um auf eine Liste mit dringenden Fällen für einen Ersatzwohnraum zu setzen. Über die "Regierung des Wandels" ist man besonders empört.

Schließlich steht der Mieterinnen-Gewerkschaft Ada Colau als Bürgermeisterin vor, die in der Finanzkrise die Bewegung gegen Zwangsräumungen angeführt hatte, die nun aber die Augen verschließe. Sie hat in den letzten fünf Jahren weder das Mietenproblem noch die Obdachlosigkeit in den Griff bekommen. Dass sie sich im vergangenen Jahr mit Stimmen der Rechten gegen den Wahlsieger der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) erneut auf den Posten heben ließ, hat ihr weitere Unterstützung in Basisinitiativen gekostet.

"Hier ist der Trans-Widerstand"

Das Ziel der Aktivisten ist das schicke LGBTI-Zentrum im angrenzenden Stadtteil Sant Antoni, wo man sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen und Intersexuellen kümmern will. Das Zentrum wird besetzt, da auch hier die Verantwortlichen bisher das Problem ignoriert und sich nicht auf Gespräche eingelassen hatten. "Hier ist der Trans-Widerstand", skandieren lautstark etwa drei Dutzend Aktivisten. Auf einer Pressekonferenz im Eingang wird das Verhalten des Zentrums und der Stadtverwaltung kritisiert und Hilfe für das Paar eingefordert, "das mehreren Diskriminierungsformen ausgesetzt ist".

Besetzung des LGBTI-Zentrums. Foto: Ralf Streck

Nach einer Stunde beginnen schließlich doch noch Verhandlungen. Zwischenzeitlich verpflichten sich die Verantwortlichen des Zentrums, nach Rücksprache mit der Stadtverwaltung, eine Lösung für Juanita zu finden. Nach drei Stunden beendet Raval Rebel die Besetzung. Der Druck hat sich gelohnt. Dem Paar wurde inzwischen ein Zimmer zugewiesen, die Räumung abgesagt. Gesucht wird nun nach einer Wohnung, da in dem Zimmer nicht gekocht werden kann. Zudem sollen Maßnahmen zur Integration, wie Sprachkurse und Arbeitssuche eingeleitet werden, berichtet Moreno.

Positive Momente, die die Krise freisetzt

Das sind positive Momente, die die Krise freisetzt und Menschen zum starken solidarischen Handeln bringt, da auf die Institutionen keinen Verlass ist. Im Raval, wo Menschen aus vielen Ländern und Kulturen leben, findet sich auch die Stiftung Surt. Seit 1993 setzt sie sich für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Frauen ein, um die Diskriminierung zu beseitigen. Betrieben wird vor allem das "Empowerment von Frauen", um sie zu persönlich und ökonomisch über Kurse und Initiativen zu stärken, erklärt Angels Pujol.

Doch derzeit bezieht die Stiftung wegen der steigenden Energiearmut in diesem Bereich auch Männer ein. Aber vor allem Frauen sollen Perspektiven aufzeigt werden, um sich Selbstständig zu machen oder um ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern. Denn letztlich geht es darum, ihre Eigenständigkeit zu fördern. Alleinstehende Frauen mit Kindern sind in Spanien besonders armutsgefährdet, schlechter war auch vor der neuen Krise die Lage nur in der EU nur in Litauen und Malta.

Die Corona-Krise geht auch an Surt nicht vorbei. Viele Frauen, die hier betreut werden, kamen im Lockdown in existenzielle Nöte: "Wir mussten im März eine Lebensmittel-Nothilfe schaffen, weil Kurs-Teilnehmerinnen und ihre Familien plötzlich oft nicht mehr genug zum Essen hatten", erklärt Pujol, die die Surt-Lebensmittelhilfe koordiniert.

Die "Nahrungsmittelbank"

Insgesamt habe man 195 Frauen, insgesamt 550 Personen, unterstützt, "Das waren nur Surt-Frauen, niemand von außen", zeigt sie auf, wie hart die Krise eingeschlagen hat. Die Lage habe sich etwas verbessert, da die überlasteten Behörden nun meist Kurzarbeitergeld auszahlen, einigen Frauen auch Sozialgeld zugestanden worden sei.

Ana Moreno von Raval Rebel verhandelt während Protest gegen Zwangsräumung im Hintergrund Juanita. Foto: Ralf Streck

Zudem könne nun in Hotels, Cafés und Kneipen wieder gearbeitet werden. "Die Frauen verzichten dann sofort auf die Hilfe, damit sie eine noch bedürftigere Person erhalten kann." Mit Zuwendungen der "Nahrungsmittelbank" werden von Surt aber noch immer 460 Personen unterstützt. Die Begünstigten würden zu verschiedensten Zeiten bestellt. Es sollen "Hungerschlangen" vermieden werden, wie sie sich zum Teil vor Verteilungsstellen der Caritas im ganzen Land bilden.

Die Coronakrise hat die steigende Armut in Spanien aber nur weiter zugespitzt, denn sie ist längst chronisch. Kürzlich teilte die europäische Statistikbehörde Eurostat mit, dass in Spanien selbst während einer Wachstumsphase bis Ende 2018 schon 26,1 % der Bevölkerung arm oder von Armut bedroht waren. Katalonien liegt hier sogar mit 18,9% noch deutlich unter dem Durchschnitt.

Die steigende Armut auch damit zu tun, dass neun von zehn Arbeitsverträgen nur noch befristet geschlossen werden, oft ungewollt nur in Teilzeit. Die Bezahlung ist schlecht ist, doch die Ausgaben - vor allem Mieten - sind massiv gestiegen. Deshalb waren 2018 schon 21,5 Prozent der Bevölkerung von einkommensbedingter Armut bedroht, also Armut trotz Arbeit. Nur in einigen Ländern Osteuropas, allen voran Rumänien (23,5 Prozent), war die Lage diesbezüglich noch schlechter.

Über die Ramblas hinweg führt der Weg mit Raval Rebel ins Sozialzentrum des Gòtic "La Negreta". Hier, wo sich die Rebellinnen treffen, wird ein etwas anderen Ansatz als in der Stiftung verfolgt. Benannt ist das Zentrum nach Josepa Vilaret, die "Die Schwarze" genannt wurde und vor 231 Jahren einen Brotaufstand anführte.

Schlafen auf der Prachtpromenade Ramblas. Foto: Ralf Streck

Das Wirken von La Negreta ist hier weiter Programm. Zwar werden auch hier Nahrungsmittel verteilt, aber sie gehen an alle Bedürftigen, die sich einbringen wollen. Hier wird auf Hilfe zur Selbsthilfe gesetzt. Die Betroffenen werden in die Organisation eingebunden, berichtet die junge Griechin Danai. Sie greift den - zumeist Frauen - bei der Verteilung "nur unter die Arme".

Es soll "Selbstorganisation" gefördert werden, zumal ehrenamtliche Aktivisten in der ersten Coronawelle schnell an ihre Grenzen stießen. "Wir begleiten die Leute nur, die mit Einkaufswagen am Samstag vor Supermärkten im Stadtteil die Menschen um Nahrungsmittelspenden bitten". Frischware käme als Spende zu einem sehr günstigen Preis von Bauern. Die Lebensmittel werden hier jeden Donnerstag verteilt.

Ungewöhnliche Lösungen

Zu solidarischen und ungewöhnlichen Lösungen greifen auch Selbstständige wie Nil Roca. "Da hier niemand Kohle hat, haben wir den Tauschhandel eingeführt", erklärt der junge Mann. In einer Vereinigung, die ein Netz in ganz Katalonien gebildet hat, beteiligen sich nun mehr als 250 Selbstständige.

Von Zeit zu Zeit gibt es Versammlungen von Vertretern der verschiedenen Lokalgruppen, "dann tauscht man Wein gegen Fleisch, Honig, Käse, Gemüse oder auch Werkzeuge, da auch Schmiede dabei sind". Zur Selbstversorgung hat er neben seinem noch improvisierten Weinkeller auch einen Gemüsegarten angelegt und Hühner angeschafft.

Roca stammt allerdings ebenfalls aus der Altstadt Barcelonas, doch er ist inzwischen Weinbauer in Girona. Da er seinen beliebten ökologisch erzeugten "Follaraïms" vor allem an Restaurants verkauft, brach sein Umsatz mit dem Lockdown im Frühjahr fast komplett ein. Im Alarmzustand erhielt er, wie andere Selbstständige auch, eine staatliche Unterstützung von 660 Euro im Monat und musste den Sozialversicherungsbeitrag von 300 Euro im Monat nicht bezahlen. Er musste dabei aber nicht zu Tricks wie andere "Autonomos" greifen, denn seine Umsätze brachen real und nachvollziehbar um mehr als 75 % ein.

Die Hilfen waren mit dem Ende des Alarmzustands im Juni Geschichte, als voreilig vor dem Tourismussommer die wirtschaftliche Aktivität wieder voll hochgefahren wurde, um die Saison zu retten und die Wirtschaft anzukurbeln. Und nun trifft es vor allem Kleinbetriebe heftig, die wie Bars und Kneipen zeitweise wieder schließen mussten, aber nun trotz Kurzarbeit der Beschäftigten deren Sozialversicherungsbeiträge bezahlen müssen. Zahllose kleine Unternehmen stehen vor Aus, wenn die nicht schnell Unterstützung kommt, wofür sie massiv auf die Straße gehen.

Nil Roca am Weinberg. Foto: Ralf Streck

Als Solo-Unternehmer schlägt sich Roca durch und versucht irgendwie das nötige Geld aufzutreiben, um den Sozialversicherungsbeitrag bezahlen zu können. Aus dem intensiven Austausch mit anderen ist nun die Idee entstanden, im Weinkeller auch Bier zu brauen. "Ein Freund macht das und von der Miete kann ich meinen Beitrag bezahlen." Damit hat der junge Mann ein Problem zunächst gelöst.

Seine Lage wird sich auch deshalb mittelfristig nicht verbessern, da seine Reben wegen des feuchten Frühjahrs von einem Pilz befallen waren und er durch den Mehltau einen guten Teil der Ernte eingebüßt hat. Leute wie er fallen in Spanien fast durch alle Raster, aber der ideenreiche junge Mann, der vom spanischen Staat ohnehin nichts mehr erwartet, hat viele Ideen und ist kreativ. Deshalb macht er, der einst in der Empörten-Bewegung an Platzbesetzungen teilgenommen hat, sich um seine Zukunft kaum Sorgen.