Indien: Herdenimmunität in Delhi in Sicht

Seite 2: Der Druck der religiösen und nationalistischen Geister

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In Indien, wo die Bildung weiter privatisiert wird, weiß auch ein großer Teil der jungen indischen Bevölkerung nichts vom verlorenen Grenzkrieg gegen China 1962 - ganz zu schweigen von Gebieten wie Aksai Chin.

Peking kann der Vorwurf gemacht werden, dass es ausgerechnet jetzt in der Corona-Krise mit Nachdruck auf seine Gebietsansprüche hingewiesen hat. Aber unbestritten ist, dass die Straße, die Indiens großer Nachbar gerade in Aksai Chin baut, auf chinesischem Staatsterritorium liegt.

Mit Nepal hat Indien augenblicklich einen schweren Grenzkonflikt entfacht. Beim Streit mit dem kleinen nördlichen Nachbarn, ist es Indien, das eine Straße durch ein Gebiet baut, das auch von Nepal beansprucht wird. Seitdem erschießen indische Grenzsoldaten nepalesische Bürger und nepalesische Grenzsoldaten indische Zivilisten.

Ähnliches passiert an der Grenze mit Bangladesch, wo Indien einen Zaun baut, um sich vor Zuwanderern aus Bangladesch zu schützen, die mit dem Klimawandel kommen werden. Und seit Jahrzehnten kracht es überdies beinahe täglich an der Grenze zu Pakistan. Es fällt schwer, Indien in Schutz zu nehmen und der Argumentation zu folgen, nur die anderen hätten andauernd Schuld.

Seit fünf Jahren fördern zum Teil hohe Regierungsangehörige Unwissen und Aberglaube. Dazu hat die hindunationalistische Zentralregierung den Nationalismus in beängstigende Bereiche getrieben. Nun fordern auch die Oppositionsparteien Indiens im Nationalismus-Wettstreit um die Gunst des Wählers Sanktionen gegen China und Boykotte chinesischer Waren.

Narendra Modi ist nicht dumm. Er weiß, dass in Indien alles zusammenbrechen würde, kämen von heute auf morgen keine chinesischen Güter mehr ins Land. Nicht nur 72 Prozent der in Indien verkauften Smartphones sind chinesischen Ursprungs. Auch die indische Pharmaindustrie würde ohne Chemikalien aus China einen Totalschaden erleiden.

Es wird sich zeigen, wann und ob Modi dem Druck der religiösen und nationalistischen Geister, die ihn schufen, nachgeben muss.

Denn in Indien ist die nationale Büchse der Pandora seit fünf Jahren geöffnet. Selbst die Hoffnung der Liberalen schweigt: Delhis Chief Minister Arvind Kejriwal, in der Vergangenheit ein heftiger Modi-Kritiker. Bis heute hat er sich zu den Massakern Ende Februar in seinem Delhi nicht geäußert.

Die Ausschreitungen waren durch Mitglieder der Regierungspartei BJP angezettelten worden - 53 Menschen starben, vorwiegend Muslime. Die Polizei Delhis, die der Zentralregierung untersteht, schlug sich etliche Male auf die Seite der Hindus. In ihrem Untersuchungsbericht werden nun nicht die Täter angeklagt, sondern die Opfer.

Welche Schlüsse Deutschland und der Rest der Welt aus den Ergebnissen der jüngsten indischen Corona-Tests ziehen können, sollte Delhi in ein paar Wochen wirklich den Punkt der Herdenimmunität erreichen, überlasse ich anderen.

Was Indien angeht, schrieb ich Ende März an dieser Stelle: Es wird böse werden. Gewaltig böse, und das bezog sich nicht speziell auf Corona. Damals wurde auch dank eines an Telepolis geleakten Schriftstückes eines Regierungsvertreters klargestellt, dass es nicht die ausländischen Touristen waren, die Corona im Land "unter die Leute" brachten.

Diese Nachricht ließ die Zentralregierung verbreiten und glaubte ihr selber. Doch es waren mindestens 1,5 Millionen Auslandsinder, die ungetestet den Corona-Virus im Land unters Volk brachten. Aktuell, wie seit fünf Jahren, richtet die Modi-Regierung ihre Anstrengungen nur auf den schönen Schein einer Supermacht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat vom Wachstum vor allem vergiftete Flüsse, vergiftete Nahrung und vergiftete Luft. Dazu gibt es dank der Hindu-Fanatiker erneut böses Blut zwischen den Religionsgemeinschaften und den verschiedenen Hindukasten.

Dem einen oder anderen Leser mögen Artikel wie "In Indien ist es fünf vor Zwölf" zu düster erscheinen. Aber so sieht nun einmal die Realität der meisten Inder in den Großstädten aus. Und wer die Realität zur Kenntnis nimmt, den überrascht die Zukunft nicht: In Indien ist es böse geworden. Es wird noch viel böser werden und zwar gewaltig.