Indien: Herdenimmunität in Delhi in Sicht

Ein gespenstisches Jahr für Delhi - Massendemonstrationen, ein Massaker, dann Corona und Ausgangssperren. Nun vielleicht Herdenimmunität. Der Wachstumswahn ist dauerpräsent. Foto: Gilbert Kolonoko

In der Hauptstadt Indiens wurden bei 23 Prozent der Getesteten Antikörper des Corona-Virus gefunden

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Offiziell sind in Delhi bei 830.000 Tests 125.000 Menschen positiv auf den Corona-Virus getestet worden. Doch eine Studie, die am Dienstag vom Gesundheitsministerium veröffentlicht wurde, scheint zu bestätigen, was viele schon lange sagen: Indiens offizielle Corona-Zahlen sind eine Farce.

Laut der Tests, die vom 27. Juni bis zum 5. Juli durchgeführt wurden, liegt die Zahl von Hauptstädtern, die sich mit dem Corona-Virus infiziert haben, 35 Mal höher: So wären es also 4,5 Millionen Einwohner Delhis von 20 Millionen, die sich mit dem Virus infiziert haben und hatten.

Der Epidemiologe Jayaprakash Muliyil geht davon aus, dass in ein paar Wochen die Hälfte der Bevölkerung Delhis mit dem Virus infiziert sein könnte und damit die Herdenimmunität eintritt. Dass es jedoch noch keine sicheren Erkenntnisse gibt, wie lange sich die Antikörper halten, erwähnte er selbstverständlich auch.

Das Ergebnis der Studie aus Delhi ist nicht überraschend vom Himmel gefallen. Dies zeigen Zahlen aus der Hauptstadt des Bundesstaates West-Bengalen: In Kolkata wurden bei Tests des Indian Council of Medical Research (ICMR) bei 14 Prozent der Untersuchten Antikörper des Corona-Virus gefunden. Das Ergebnis wurde am 26. Juni veröffentlicht. Offiziell haben sich in Kolkata "nur" 5402 von 4,6 Millionen Bewohnern infiziert.

Als Narendra Modi am 24. März einen landesweiten lockdown aussprach, mit nur vier Stunden Vorbereitungszeit für die 1,4 Milliarden Einwohner Indiens, schlug jeder langjährige Indienkenner vor Erschrecken die Hände über dem Kopf zusammen. Das waren - wenig überraschend - kaum Journalisten, sondern vorwiegend Indienreisende. Etwa 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Indiens sind im informellen Arbeitssektor tätig.

Und die meisten von ihnen sind ohne jegliche soziale Absicherungen auf den täglichen oder wöchentlichen Lohn angewiesen. Schon vor dem landesweiten lockdown irrten Zehntausende entlassene Wanderarbeiter im Süden des Landes umher. Dann prügelte die Polizei die Menschen in die Häuser oder pferchte die Wanderarbeiter in überfüllte Massenunterkünfte. Dabei kam es auch zu Toten, wie beispielsweise jenen jungen Mann in Uttar Pradesh, der sich während des lockdowns heimlich Kekse kaufen wollte und dann von Polizisten totgeschlagen wurde.

Hundertausende Wanderarbeiter und viele Krankheiten

Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Kessel überkochen würde, denn die meisten Wanderarbeiter, die in den Städten eingeschlossen waren, erreichte keine Hilfe der Regierung. Vier Wochen nach dem ersten lockdown, der mehrmals verlängert wurde, gingen die Bilder von indischen Wanderarbeitern um die Welt.

Zu Hunderttausenden machten sie sich auf den Autobahnen und Gleisen in ihre Dörfer auf. Viele starben dabei, weil sie vor Erschöpfung zusammenbrachen und von Lastern überrollt oder, auf Gleisen schlafend, von Zügen erfasst wurden.

Für die westliche Welt mag Corona eine Pandemie sein, die einen Teil der Bevölkerung empfindlich trifft. In Indien ist der Corona-Virus bis jetzt "nur" eine Krankheit von vielen - außer für die indische Oberklasse. Laut einer Studie, die im letzten Dezember 2019 im Lancet Global Health veröffentlicht wurde, sterben in Indien jeden Tag mehr als 4.500 Menschen an folgenden Krankheiten: 938 an einer Infektion der Atemwege (nicht COVID-19); 1421 Menschen an Durchfall; 928 an Fieber unbekannter Herkunft; 1.026 an Tuberkulose; und 508 Menschen jeden Tag an Malaria.

Alleine an den Folgen der Luftverschmutzung sterben in Indien jedes Jahr etwa 1,2 Millionen Menschen - es gibt Schätzungen, die von doppelt so vielen Todesopfern und mehr ausgehen. Darüber hinaus weisen Studien nach, dass die Kinder Delhis wegen der belasteten Luft mit kleineren Lungen aufwachsen als ihre Altersgenossen in der westlichen Welt.

Dass es in dieser Zeit auch positive Nachrichten gab, lag nicht an Narendra Modi. Im Gegenteil: Die Erfolge der "kommunistischen" Bundesregierung Keralas bei der Eindämmung des Virus hätte der "Heilsbringer" beinahe zunichte gemacht. Mehrmals wurde auf Telepolis darauf hingewiesen, dass Modi ab 2018 versuchte, dem südlichen Bundesstaat "seine" Krankenversicherung aufzudrücken.

Modis Krankenversicherung

Diese wird vom Großindustriellen und Modi-Freund Anil Ambani betrieben - dem Herrscher des Reliance-Konzerns. Seit Modi und seine Hindu-Nationalisten das Land regieren, baut Reliance plötzlich Kampflugzeuge für den Staat, obwohl der Konzern zuvor keinerlei Bezug zur Rüstungsbranche hatte. Da kann er natürlich noch eine Krankenversicherung verkaufen, ohne jegliche Erfahrungen in diesem Bereich.

Doch die Verantwortlichen Keralas weigerten sich die "Modi-Ambani"-Krankenversicherung einzuführen. Die Begründung könnte nicht klarer sein: Schon 2018 waren 4,1 Millionen Bürger Keralas Teil der staatlichen Krankenversicherung, während es unter "Modis" geplanter Arogya Yoojana (AB-PMJAY) nur 1,85 Millionen Menschen Keralas gewesen wären.

Doch trotz der beachtlichen Erfolge im Süden Indiens, ist die Zukunft von Keralas Gesundheitsmodell nicht gesichert, denn auch diesem Bundesstaat geht wegen der Corona-Krise das Geld aus - während die Zentralregierung und ihr privater "Staatskonzern" Reliance am Geldhahn sitzen.

Was Modi in Kerala vorhatte, steht beispielhaft für die Politik seiner hindu-nationalistischen Regierung: Regierungsfreundliche Konzerne sollen gefördert werden, selbst wenn es der Bevölkerung keinen Mehrwert bringt. Auch hat die Zentralregierung in der aktuellen Krise mit Gesetzesveränderungen den Weg frei gemacht, für einen Manchesterkapitalismus alter Schule: Arbeitnehmerrechte wurden außer Kraft gesetzt, stattdessen wurde erlaubt, dass Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt auch offiziell 12 Stunden am Tag arbeiten dürfen.

Fallen Umweltauflagen weg, wächst der Profit

Zugleich wird die Umweltzerstörung vorangetrieben, indem Umweltgesetze immer weiter aufgeweicht werden zugunsten der Wirtschaft. Fallen Umweltauflagen weg, wächst der Profit. Regelmässig wird bei Unglücken in Industrieanlagen die Natur durch auslaufendes Öl verseucht, oder es entweicht unkontrolliert Gas. Dorfbewohner nehmen sich das Leben, weil sie für die Folgen nicht entschädigt werden, selbst wenn ihre Häuser bei einer Gasexplosion wie im Juni in Assam zerstört werden - dort entweicht bis heute noch Gas und macht viele Dorfbewohner der Gegend krank.

Als Dank werden den Konzernen wie der staatlichen Oil India Limited (OIL), die das Gasleck in Assam zu verantworten hat, neue Gebiete zum Bohren erteilt, selbst wenn diese in Naturschutzgebieten liegen - ach ja: Dank der Modi-Regierung muss erst nochmal geprüft werden, ob es wirklich schützenwerte Gebiete sind, so lange kann erst einmal gebohrt werden.

Demokratieabbau

Den Demokratieabbau treibt die hindu-nationalistische Modi-Regierung ebenso voran. Natürlich muß angemerkt werden, dass in diesem Bereich auch bei den Vorgängerregierungen des Indien Kongress (INC) vieles im Argen lag: Doch selbst in der Corona-Krise ließ die Zentralregierung mehr als 800 unliebsame Studenten und Aktivisten verhaften.

Das Besondere daran: Es war die Modi-Regierung, die in der Corona-Krise die Einheit beschwor, und vier Monate hielten sich alle anderen daran: die Oppositionsparteien; die Aktivisten; die Studenten. Und auch die Demonstranten, die noch bis März dieses Jahres zu Hundertausenden gegen ein neues Einbürgerungsgesetz auf die Straßen gegangen waren, blieben zu Hause.

Wirtschaftlich war Indien schon vor Corona auf dem absteigenden Ast: Arbeitslosenzahlen in Rekordhöhe und ein Wirtschaftswachstum, das so gering ausfiel wie seit elf Jahren nicht mehr. Selbst The Hindu - eine Zeitung, die in den letzten Jahren immer regierungsfreundlicher wurde - bescheinigt der Modi-Regierung in Sachen Wirtschaft völlige Ahnungslosigkeit.

Warum trotzdem immer noch ein großer Teil der Inder zu Modi hält, hat mehrere Gründe: Das Segment der Medien, wo am wachsamsten Kritik geübt wird - die Printmedien, steckt wegen Corona und des lockdowns in einer schlimmen Krise: Wochenlang wurden keine Zeitungen ausgeliefert, und die Werbeeinnahmen sind weggebrochen. Dazu beziehen 70 Prozent der Inder ihre News über WhatsApp. Während der Wahlen 2019 galt die Nachrichtenplattform als Ursprung von Falschnachrichten.

Zudem sind die größten Fernsehsender in den Händen von Modi-Unterstützern. So etwa Wion TV, dessen Programm aus der Tiefsinnigkeit von RTL besteht und dann noch mit Hindunationalismus garniert ist. Dessen Verantwortliche logen auch, als sie behaupteten, sie seien eine offizielle Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle eingegangen, da deren Berichterstattung in Indien einen sehr guten Ruf hat. Dazu wird bei WION TV auch gehetzt, dauerhaft und nachweisbar.

Die Kritik an Modi hält sich auch deshalb in Grenzen, weil viele Menschen in Indien auf Landesebene keine politische Alternative sehen. Zu tief sitzt die Enttäuschung über die etablierten Parteien wie der indischen Kongress-Partei (INC), die sich aktuell mal wieder im Bundestaat Rajasthan blamiert: Das eigene Personal hackt sich in aller Öffentlichkeit gegenseitig die Augen aus.

Da kann Rahul Gandhi, die junge Hoffnung der Partei, noch so vieles Richtige fordern, wie z. B. ein Grundeinkommen für die Ärmsten des Landes: Die Kongress-Partei ist bis in die tiefste Spalte vermodert und nicht reformierbar.

Doch Narendra Modi jagen mittlerweile die Geister, die ihn schufen, und das wurde auch bei den aktuellen Grenzstreitigkeiten mit China deutlich. Mitte Juni waren 20 indische Soldaten bei einer Schlägerei mit chinesischen Armeeangehörigen getötet worden. Peking gab zu, dass auch seine Armee Opfer zu beklagen hatten, nannte aber keine Zahlen.

Der Vorfall ereignete sich in der abgelegenen Berggegend Aksai Chin. Empört forderten selbst die indischen Oppositionsparteien harte Vergeltungsmaßnahmen, weil China angeblich auf indisches Territorium vorgedrungen sei. Kleinlaut ließ Narendra Modi kurz nach dem militärischen Scharmützel verlauten, dass China eben das nicht getan habe.

Der Druck der religiösen und nationalistischen Geister

In Indien, wo die Bildung weiter privatisiert wird, weiß auch ein großer Teil der jungen indischen Bevölkerung nichts vom verlorenen Grenzkrieg gegen China 1962 - ganz zu schweigen von Gebieten wie Aksai Chin.

Peking kann der Vorwurf gemacht werden, dass es ausgerechnet jetzt in der Corona-Krise mit Nachdruck auf seine Gebietsansprüche hingewiesen hat. Aber unbestritten ist, dass die Straße, die Indiens großer Nachbar gerade in Aksai Chin baut, auf chinesischem Staatsterritorium liegt.

Mit Nepal hat Indien augenblicklich einen schweren Grenzkonflikt entfacht. Beim Streit mit dem kleinen nördlichen Nachbarn, ist es Indien, das eine Straße durch ein Gebiet baut, das auch von Nepal beansprucht wird. Seitdem erschießen indische Grenzsoldaten nepalesische Bürger und nepalesische Grenzsoldaten indische Zivilisten.

Ähnliches passiert an der Grenze mit Bangladesch, wo Indien einen Zaun baut, um sich vor Zuwanderern aus Bangladesch zu schützen, die mit dem Klimawandel kommen werden. Und seit Jahrzehnten kracht es überdies beinahe täglich an der Grenze zu Pakistan. Es fällt schwer, Indien in Schutz zu nehmen und der Argumentation zu folgen, nur die anderen hätten andauernd Schuld.

Seit fünf Jahren fördern zum Teil hohe Regierungsangehörige Unwissen und Aberglaube. Dazu hat die hindunationalistische Zentralregierung den Nationalismus in beängstigende Bereiche getrieben. Nun fordern auch die Oppositionsparteien Indiens im Nationalismus-Wettstreit um die Gunst des Wählers Sanktionen gegen China und Boykotte chinesischer Waren.

Narendra Modi ist nicht dumm. Er weiß, dass in Indien alles zusammenbrechen würde, kämen von heute auf morgen keine chinesischen Güter mehr ins Land. Nicht nur 72 Prozent der in Indien verkauften Smartphones sind chinesischen Ursprungs. Auch die indische Pharmaindustrie würde ohne Chemikalien aus China einen Totalschaden erleiden.

Es wird sich zeigen, wann und ob Modi dem Druck der religiösen und nationalistischen Geister, die ihn schufen, nachgeben muss.

Denn in Indien ist die nationale Büchse der Pandora seit fünf Jahren geöffnet. Selbst die Hoffnung der Liberalen schweigt: Delhis Chief Minister Arvind Kejriwal, in der Vergangenheit ein heftiger Modi-Kritiker. Bis heute hat er sich zu den Massakern Ende Februar in seinem Delhi nicht geäußert.

Die Ausschreitungen waren durch Mitglieder der Regierungspartei BJP angezettelten worden - 53 Menschen starben, vorwiegend Muslime. Die Polizei Delhis, die der Zentralregierung untersteht, schlug sich etliche Male auf die Seite der Hindus. In ihrem Untersuchungsbericht werden nun nicht die Täter angeklagt, sondern die Opfer.

Welche Schlüsse Deutschland und der Rest der Welt aus den Ergebnissen der jüngsten indischen Corona-Tests ziehen können, sollte Delhi in ein paar Wochen wirklich den Punkt der Herdenimmunität erreichen, überlasse ich anderen.

Was Indien angeht, schrieb ich Ende März an dieser Stelle: Es wird böse werden. Gewaltig böse, und das bezog sich nicht speziell auf Corona. Damals wurde auch dank eines an Telepolis geleakten Schriftstückes eines Regierungsvertreters klargestellt, dass es nicht die ausländischen Touristen waren, die Corona im Land "unter die Leute" brachten.

Diese Nachricht ließ die Zentralregierung verbreiten und glaubte ihr selber. Doch es waren mindestens 1,5 Millionen Auslandsinder, die ungetestet den Corona-Virus im Land unters Volk brachten. Aktuell, wie seit fünf Jahren, richtet die Modi-Regierung ihre Anstrengungen nur auf den schönen Schein einer Supermacht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat vom Wachstum vor allem vergiftete Flüsse, vergiftete Nahrung und vergiftete Luft. Dazu gibt es dank der Hindu-Fanatiker erneut böses Blut zwischen den Religionsgemeinschaften und den verschiedenen Hindukasten.

Dem einen oder anderen Leser mögen Artikel wie "In Indien ist es fünf vor Zwölf" zu düster erscheinen. Aber so sieht nun einmal die Realität der meisten Inder in den Großstädten aus. Und wer die Realität zur Kenntnis nimmt, den überrascht die Zukunft nicht: In Indien ist es böse geworden. Es wird noch viel böser werden und zwar gewaltig.