Irak, Syrien, Afghanistan, Ukraine: "Luftangriffe wurden fast nie strafrechtlich verfolgt"

Marktplatz von Kostjantyniwka nach dem Einschlag. Bild: National Police of Ukraine, CC BY 4.0 DEED

Bei einem Raketeneinschlag in der Ostukraine wurden viele Zivilisten getötet. Der Fall ist schwer zu untersuchen. Das liegt auch am Völkerrecht, erklärt Andreas Schüller.

Nach dem Einschlag einer Rakete auf dem Marktplatz der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka hieß es aus Kiew, der Zwischenfall solle untersucht werden. Was ist von solchen Ermittlungen in einer Kriegssituation zu erwarten?
Andreas Schüller: Es natürlich gut und wichtig, dass diese Sache untersucht wird. Das sollte am besten auch möglichst unabhängig und unparteiisch geschehen.
Die New York Times hatte eine Recherche veröffentlicht, die nahelegt, dass die Rakete von ukrainischer Seite kam. Kiew hat diese These vehement zurückgewiesen.
Andreas Schüller: Im Krieg geht es immer auch um Informationshoheit und darum, das Vertrauen der Unterstützer abzusichern. Die Ukraine wirbt um dieses Vertrauen. Ich denke, es wird daher viel von der Transparenz abhängen, mit der dort ermittelt und inwiefern den Untersuchungen der New York Times ebenfalls nachgegangen wird.
Was spricht dafür, was dagegen?
Andreas Schüller: Die Ukraine ermittelt zum einen zu einer Vielzahl von Vorfällen mit hohem Ressourcenaufwand und internationaler Unterstützung. Probleme sehen wir aber insofern, als sie bisher nicht bereit gewesen ist, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zu ratifizieren.
Das Rom-Statut ist bisher die Grundlage gewesen, auf der der internationale Strafgerichtshof Ermittlungen führen kann.
Andreas Schüller: Deswegen ist die Nicht-Ratifizierung durch die Ukraine problematisch. Sie wäre ja ein weiterer Schritt, Vertrauen zu gewinnen und auch für einen späteren EU-Beitritt erforderlich. Stattdessen hat sie die Zuständigkeit des Strafgerichtshofes nur in zwei sogenannten Ad-hoc-Erklärungen anerkannt, ohne sich also vollständig einer unabhängigen internationalen Strafverfolgung zu verpflichten. Die ukrainische Zivilgesellschaft fordert daher seit Langem die Ratifizierung und ein eindeutiges Bekenntnis zur unparteiischen Aufklärung aller Vorfälle.
Andreas Schüller ist Rechtsanwalt und Experte für Völkerstraftaten und Fragen rechtlicher Verantwortung.
Würde das nicht aber für internationale Ermittlungen sprechen, wie es auch in anderen Kriegssituationen stattgefunden haben?
Andreas Schüller: Die gibt es ja bereits. Die UN-Untersuchungskommission, die aus internationaler Sicht Fakten sammelt, könnte den Vorfall in den Blick nehmen. Aufgrund der Hinweise der New York Times, der zufolge es sich um eine technische Fehlleitung gehandelt haben könnte, geht es jetzt erst einmal, glaube ich, um Aufklärung und nicht unbedingt um strafrechtliche Ermittlungen. Das wäre ein anderer Schritt, wobei es sehr unwahrscheinlich ist, dass der behauptete technische Defekt einer ukrainischen Rakete überhaupt einen völkerstrafrechtlichen Verdacht begründen könnte.
Herr Schüller, das Auswärtige Amt (EAD) und auch der Europäische Auswärtige Dienst haben sich schnell festgelegt, und umgehend Russland verantwortlich gemacht. Der EAD legte sich intern, wie Telepolis berichtete, schon einen Tag später fest. Wie bewerten Sie das?
Andreas Schüller: Im Krieg kann es immer Fehlschläge geben. Insofern muss erst einmal so gut wie möglich aufgeklärt werden, wer verantwortlich ist oder zumindest zu einem gewissen Grad sein könnte.
Und hier gibt es natürlich eine Vorgeschichte: Es gab eine Vielzahl russischer Luftangriffe auf zivile Gebäude mit einer hohen Anzahl ziviler Opfer. Dennoch muss man in jedem Einzelfall sehr genau hinschauen, was getroffen wurde: War es militärische Ziele oder rein zivile Ziele? Wo kamen die Raketen her? Welcher Typ wurde verwendet? Aus welcher Richtung wurde geschossen?
Diese und andere Fragen müssen klar sein, bevor man Schlussfolgerungen zieht, wer verantwortlich ist. Natürlich gibt es Vermutungen und Mutmaßungen. Aber die müsste man dann auch als solche kennzeichnen.

Als die Bundeswehr angeklagt wurde: Vergleich mit der "Bombennacht von Kundus"

Aber ist der Nachweis nicht unglaublich schwer zu erbringen? Zum einen müsste Russland freien Zugang zu Informationen geben. Zum anderen gibt es im Fall der Ukraine immer wieder Hinweise darauf, dass zivilen Liegenschaften militärisch genutzt werden. Wie ist das rechtlich zu bewerten?
Andreas Schüller: Luftangriffe sind deswegen oft eben nicht rechtswidrig oder strafrechtlich verfolgbar, weil das Recht, das Luftangriffe regelt, relativ schwach ist und den Angreifer begünstigt, anstatt Zivilisten zu schützen.
Das haben wir auch bei den Drohnenangriffe der USA oder anderer Staaten gesehen, die sich diese Rechtslage zu Nutze gemacht haben.
Es kommt nach dem humanitären Völkerrecht darauf an, welches Ziel der befehlshabende Kommandeur angreifen wollte und mit welcher Intention. Mitunter kann es sogar sein, dass sich die Lage im Nachhinein anders darstellt, als der Befehlshaber das vorhergesehen hat ...
… wie im Fall der Bombennacht von Kundus Anfang September 2009 ist ein Beispiel dafür.
Andreas Schüller: Ja, dabei hat der damalige Oberst Georg Klein eine Menschenmenge angreifen lassen, weil er gedacht hat, das sind alles irgendwie Taliban, angeblich auf Basis der Angaben eines Informanten.
Tag darauf stellte sich heraus, dass der Angriff knapp 100 Zivilisten das Leben gekostet hat. Aber das ist von den Gerichten nicht für rechtswidrig befunden worden, weil er ja gedacht und im guten Glauben gehandelt haben soll, der Kriegsgegner, also ein militärisches Ziel, würde mit einem geeigneten Mittel angegriffen.
Dass so etwas nicht für rechtswidrig erklärt wurde, das kommt Russland jetzt zugute. Bis heute hat man eine sehr hohe Beweislast und muss nachweisen, dass der angreifende Befehlshaber entweder gezielt Zivilisten angreifen wollte – den Beweis wird man in vielen Fällen nur schwer führen können –, oder er zwar ein militärisches Ziel angreifen wollte, aber der zu erwartende zivile Schaden den militärischen Nutzen überwiegen würde.
Und diesen Beweis zu führen, vor allem strafrechtlich, das ist in der Tat extrem schwierig. Das hat sich ja auch in der Vergangenheit gezeigt: Luftangriffe wurden fast nie strafrechtlich verfolgt. Egal von welcher Partei, sei es von Russland, auch in Syrien, sei es von Deutschland oder anderen in Afghanistan, seien es Drohnenangriffe der USA weltweit oder von Israel in Gaza.
Ein Sprecher des Europäischen Auswärtigen Dienstes sagte gegenüber Telepolis, ich zitiere: "Es ist notwendig daran zu erinnern, dass keiner der Angriffe und Zerstörungen ohne den Beginn von Putins Aggression gegen die Ukraine stattgefunden hätte." Entbindet das die Ukraine von ihrer Verantwortung bei der Beachtung des humanitären Völkerrechtes?
Andreas Schüller: Dieser Punkt wird interessant, wenn es künftig zu Entschädigungen für unmittelbar Betroffene und ihre Angehörigen kommen sollte.
Auf dieser Ebene könnte es dann relevant werden, dass Russland für einen Angriffskrieg entschädigen muss und nicht die Ukraine für den Fall, dass eine Abwehrmaßnahme eigene Landsleute geschädigt haben könnte, was ja auch erst einmal entsprechend ermittelt und festgestellt werden müsste.
Herr Schüller, die Europäische Union ist recht aktiv beim Zusammentragen von Informationen über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Was für eine Perspektive hat das denn ohne die Kooperation Moskaus, die ja kaum zu erwarten ist?
Andreas Schüller: Ich habe eben geschildert, dass gerade Untersuchungen von Luftangriffen sehr schwierig sind. Aber es kann natürlich auch sein, dass Funksprüche oder Ähnliches abgehört werden, was natürlich auch aus dem Ausland heraus geschehen kann. Solche Protokolle wären wichtige Beweismittel.
Aber es wird natürlich alles untersucht und wenn es um Erschießungen geht oder auch um die Entführung von Kindern durch Russland, was der Internationale Strafgerichtshof ja angeklagt hat, das sind das Tatbestände, die leichter zu ermitteln sind.
Im laufenden Ukraine-Krieg gibt es eine ganze Palette von Völkerstraftaten, die mutmaßlich begangen worden sind. Und deswegen sind auch die Ermittlungen so breit.
Was bringt das alles dann?
Andreas Schüller: Ich glaube, viele Staaten bereiten sich darauf vor, künftig tätig zu werden. Wenn selbst in 20 oder 30 Jahren ein russischer Tatverdächtiger irgendwo auftaucht oder einreist, dann könnten die Behörden in Drittstaaten tätig werden. Solange sich die Verhältnisse in Russland nicht ändern, wird aber wohl niemand ausgeliefert werden.
Dennoch ist es wichtig, Beweise zu sammeln, um dann gegebenenfalls Verfahren führen zu können. Das fordern wir auch mit Blick auf andere Konflikte, Staaten und Fälle, zu denen auch in Deutschland und anderswo Beweise gesammelt werden könnten. Und geschieht leider nur sehr eingeschränkt und einseitig.

Andreas Schüller ist Rechtsanwalt und leitet beim ECCHR den Programmbereich Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung. Er hat Rechtswissenschaften in Trier und Orleans (Frankreich) studiert und hält einen LL.M. (adv.) Abschluss der Universität Leiden. Seine Schwerpunkte sind das US-Folterprogramm, der Drohnenkrieg der USA, Folter durch britische Soldaten im Irak sowie Kriegsverbrechen unter anderem in Sri Lanka und Syrien. In Publikationen und Vorträgen widmet er sich dem Internationalen Strafrecht und dem Menschenrechtsschutz.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.