Kataloniens neuer Präsidentschaftskandidat mit halbem Bein im Gefängnis
Zwar ist es Spanien nicht gelungen, den dritten Kandidaten der Unabhängigkeitsbewegung zu verhindern, doch nun verhinderte die linksradikale CUP seinen Amtsantritt
Es war wie ein Wettrennen in den letzten Tagen. Und es hat sich erneut deutlich gezeigt, dass man von einer unabhängigen Justiz in Spanien wirklich nicht sprechen kann, besonders wenn es um den Konflikt mit den Katalanen geht. Als der Name des ehemaligen Regierungssprechers Jordi Turull als Plan C für die Amtseinführung zum Präsident Kataloniens in dieser Woche in die Diskussion gerückt ist, wurde plötzlich der Richter am Obersten Gerichtshof Pablo Llarena wieder aktiv, um zu versuchen, auch die Amtseinführung von Jordi Turull zu torpedieren - und das könnte er nun auch noch schaffen, nachdem die linksradikale CUP Turull die Stimmen verweigert hat.
Zuvor hatte die spanische Regierung schon über Tricks am Verfassungsgericht:https://www.heise.de/3955081.html verhindert, dass der aus Spanien zwangsabgesetzte Carles Puigdemont erneut ins Amt gewählt werden konnte, nachdem die Unabhängigkeitsparteien die aus Madrid angesetzten Zwangswahlen erneut gewonnen haben. Lange hielt Puigdemont an seiner Kandidatur fest, doch in Madrid verzögerte das Verfassungsgericht eine Entscheidung. Bis heute ist noch nicht entschieden, ob die präventive Verfassungsbeschwerde überhaupt angenommen wird, für die sogar die Juristen des Staatsrats keine Basis sahen. Ohne Entscheidung über die Annahme verhängte das Verfassungsgericht aber vorsorgliche Maßnahmen, um darüber Puigdemonts zivilen und politischen Rechte in der Praxis auszuhebeln und seine Wahl zu verhindern.
Er trat dann aber zur Seite, um die Wahl eines Präsidenten nicht zu behindern. Denn ohne Präsident bleibt die Zwangsverwaltung aus Spanien weiter bestehen. Ob die Anwendung des dafür eingesetzten Paragraphen 155 überhaupt verfassungsgemäß ist, ist auch weiter unklar. Denn auch darüber hat das Verfassungsgericht bisher auch nicht entschieden. Es hat aber zwei Klagen gegen den 155 angenommen. Haben diese Richter ausreichend Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, wie viele Verfassungsrechtler und Juristen oder soll damit nur ein Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verzögert werden?
Was für die Türkei kritisiert wird, muss auch für Spanien gelten
Gerade wurde im Fall der Türkei kritisiert, dass stets der Rechtsweg im Herkunftsland erst vollständig ausgeschöpft sein muss, bevor Straßburg angerufen werden kann. Allerdings hatten in der Türkei die Verfassungsrichter den verfolgten Journalisten in Ausübung ihrer Unabhängigkeit von der Regierung sogar Recht gegeben. Einige Experten werfen dem EGMR vor, dass es sich damit auf einen formalistischen Standpunkt zurückzieht. Denn Rechtsmittel im Land seien nicht effektiv, weil die höheren Instanzen Rechtsbrüche tolerieren und Beschwerden nicht auf den Grund gingen.
Was für die Türkei kritisiert wird, muss auch für Spanien gelten, wo das Verfassungsgericht sogar vor Folter und Misshandlungen von Journalisten und anderer Verfassungsbrüche die Augen verschließt und deshalb immer wieder in Straßburg nachträglich verurteilt wird.
Der Schaden ist aber dann längst angerichtet. Das sieht man in Spanien. Ein Parlament kann aufgelöst, die Regierung geschasst und dann nach den Wahlen über die Justiz verhindert werden, dass der Wählerwillen umgesetzt wird. Alle schauen zu, auch der EGMR. Dass das Verfassungsgericht in Spanien wohl eher nur den Gang nach Straßburg verzögern will, zeigt sich daran, dass es keine vorsorglichen Maßnahmen verfügt hat, um weitere Schäden an der Demokratie zu verhindern und die zivilen und politischen Rechte der Katalanen zu schützen, auch die von Parlamentariern und Präsidentschaftskandidaten.
Doch zurück zur Amtseinführung und dem Versuch, nach der praktischen Verhinderung von Puigdemont schließlich Jordi Sànchez ins Amt zu bringen. Nun war es Richter Llarena, der dem Untersuchungsgefangenen gegen die bisher geltende Rechtsprechung mit fadenscheinigen Begründungen verweigerte, zur Verteidigung seiner Kandidatur ins Parlament zu gehen, womit auf diesem Weg die Amtseinführung verhindert wurde. Am Mittwoch trat dann auch Sànchez zur Seite und machte den Weg für Turull frei.
Damit ging der Wettlauf in den Endspurt. Llarena zitierte, angesichts des sich abzeichnenden neuen Kandidaten, den Regierungssprecher für Freitag mit anderen bedeutsamen angeschuldigten ehemaligen Regierungsmitgliedern vor seinen Gerichtshof in Madrid. Dabei ist die Generalsekretärin der Republikanischen Linken, Marta Rovira, oder die ehemalige Parlamentspräsidentin Carme Forcadell, die sich auf eine Inhaftierung einstellen müssen. Letztere wurde ohnehin lange zur Staatsfeindin Nummer 1 aufgebaut.
Es ist angesichts des bisherigen Verhaltens des Richters nicht sonderlich schwer, sich auszumalen, dass er den früheren Regierungssprecher nun auch wieder inhaftieren will. Denn auch Turull saß schon im November in Untersuchungshaft, erhielt aber mit einigen Ex-Ministern Haftverschonung. Welcher Logik der Richter dabei gefolgt ist, der Sànchez und Jordi Cuixart weiter inhaftiert hält, obwohl ihre Anschuldigungen deutlich schwächer sind, kann sich auch das ehemalige CUP-Aushängeschild Anna Gabriel nicht erklären. Während sich Puigdemont und andere in die Schweiz abgesetzt hatten, rettete sich Gabriel vor der Kriminalisierung ihrer politischen Arbeit in die Schweiz, um die internationale Öffentlichkeit auf die Vorgänge hinzuweisen.
Angesichts der Vorladung für Freitag hatte Parlamentspräsident Roger Torrent sich noch am späten Mittwoch mit den Parteien per Telefon abgestimmt und am späten Mittwoch die Parlamentssitzung zur Amtseinführung von Turull für Donnerstag um 17 Uhr angesetzt. Die spanischen Unionisten haben auch das wieder zu verhindern versucht. Doch dieses Vorgehen ist von den Statuten gedeckt, eine Entscheidung des Parlamentspräsidiums, die sie gefordert hatten, ist nicht nötig.
Wie bedeutsam der Schachzug von Torrent war und in Madrid überraschte, zeigt sich am Verhalten des spanischen Ministerpräsidenten. Mariano Rajoy hat eine geplante Reise nach Angola wegen der neuen Lage in Katalonien am Freitag abgesagt. Eine weitere Reaktion war, dass der ehemalige Innenminister Forn nicht wie angekündigt freigelassen wurde, was sogar die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Damit hat der Oberste Gerichtshof erneut eine bisher geltende Doktrin geschleift.
Zwist unter den Unabhängigkeitsparteien
Letztlich begann die Parlamentssitzung pünktlich. Allerdings lastete über ihr schon das Damoklesschwert der linksradikalen CUP. Denn die CUP hatte schon zur geplanten Amtseinführung von Sànchez angekündigt, ihn nicht zu unterstützen. Es sei ein Eingehen auf die spanische Repression. Die CUP fordert ein weiteres einseitiges Vorgehen und Ungehorsam zum Aufbau der Republik. Vor der Sitzung hatte die CUP nach einer Führungssitzung erneut erklärt, weiter an ihrer Enthaltung festhalten zu wollen. Damit hat Turull die nötige absolute Mehrheit gefehlt. Der CUP-Sprecher Carles Riera erklärte sogar die Allianz mit den übrigen Unabhängigkeitsparteien für beendet. Die Antikapitalisten wollen in die Opposition gehen. Er kritisierte eine Rückkehr zum "Autonomismo", dabei sei die einzige Lösung, die "Republik aufzubauen", warf er den beiden übrigen Parteien eine fehlende Verpflichtung zum bisher gemeinsam getragenen Projekt vor.
Die CUP hat es nun in die Hand der spanischen Repression gelegt, ob es überhaupt einen zweiten Wahlgang am Samstag geben kann, in dem Turull auch zur Not mit der Mehrheit der Parlamentarier von Puigdemonts "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat) und der Republikanischen Linken (ERC) gewählt werden kann. Dafür müssten aber zuvor Puigdemont und der mit ihm in Brüssel exilierte Toni Comín auf ihre Mandate verzichten, was Comín bisher ausgeschlossen hat. Zudem ist fraglich, ob das zeitlich noch reicht. Erst dann hätten beide Parteien am Samstag eine Mehrheit ohne die vier Stimmen der CUP. Rovira, Forcadell und Dolors Bassa sind vorsorglich von ihren Sitzen zurückgetreten, um die Chance zu wahren, falls sie morgen inhaftiert werden und damit der Richter die Mehrheiten weiter verfälscht.
Da nun eine Amtseinführung vorliegt, läuft die Zweimonatsfrist. Damit steigen die Chancen für die Unionisten, die Amtseinführung eines Kandidaten der Unabhängigkeitsbewegung definitiv zu torpedieren. Sollte es aber zu Neuwahlen kommen, wird die CUP das deutlich zu spüren bekommen. Sie hatte im Dezember schon deutlich Stimmen verloren und es ist klar, dass die Verhinderung von Turull schwer auf ihr lasten wird. An der Basis, so konnte Telepolis in Erfahrung bringen, verstehen viele das Vorgehen nicht. Die Basis fordert die Einheit der drei Parteien. Sie erinnern sich gut daran, als die CUP den Prozess wegen einiger Millionen im Haushalt in Gefahr und die Formation an den Rand der Spaltung gebracht hatte.
"Wir sind gegen niemanden"
Angesichts der Ankündigung der CUP war schon die Rede von Turull zur Amtseinführung von einer gewissen Resignation geprägt, da er vor Augen hatte, dass er nicht gewählt werden würde. Er sagte, mit Blick auf Puigdemont: "Ich bin nicht der, der heute hier stehen sollte." Er sieht sich als Teil einer "Lösung" und will sein "Sandkorn" dazu beitragen. "Ich bevorzuge das Risiko einzugehen, Opfer einer Ungerechtigkeit zu werden, als mich vor der aktuellen Situation zu drücken", erklärte er seinen Versuch, der ihn vermutlich am Freitag in den Knast bringt.
Während er das im Parlament erklärt hat, hat die Guardia Civil, die mit größter Gewalt gegen Teilnehmer einer demokratischen Abstimmung über die Unabhängigkeit vorgegangen ist, plötzlich gleichzeitig dem Richter Llarena einen Bericht geschickt, in dem 50 Personen aufgeführt werden. Der ehemalige Regierungssprecher steht nun dort an oberster Stelle der Verantwortlichen und soll "außerordentlich bedeutsam" für den Unabhängigkeitsprozess gewesen sein. Man darf gespannt sein, ob Llarena ihn nach diesem gut geschmierten Zusammenspiel nicht inhaftiert oder ob er ihm sogar verweigert, zur zweiten Abstimmung am Samstag ins Parlament zu gehen, die das Parlament durchführen muss.
Turull hat sich in seiner Rede, teilweise in spanischer Sprache, auch direkt an die spanische Gesellschaft gewandt. Wie Puigdemont früher, hat auch er Spanien erneut einen Dialog zur Lösung des Konflikts angeboten, den Spanien seit Jahren verweigert. "Wir sind gegen niemanden und uns bewegt der Durst nach Gerechtigkeit und Frieden." Er stellte fest, dass es viele Verflechtungen gibt: "Wir wissen, dass viele verstehen, dass wir nur unsere Demokratie ausüben", unterschied er zwischen dem Vorgehen der Regierung und der Bevölkerung. In ganz Spanien habe man stets friedliche Proteste in Katalonien gesehen, allerdings haben "wir uns nie vorstellen können, dass es so viel Gewalt gegen Wahlurnen geben könnte".
Die Oppositionsführerin der Ciudadanos (Bürger) kündigte an, nachdem auch sie alles dafür getan haben, die Kandidaten zu verhindern, dass auch Turull nicht Präsident werden wird. Auch sie nahm seine Inhaftierung durch den Richter der Unionisten vorweg. Ines Arrimadas warf der Unabhängigkeitsbewegung einen "Zirkus" und eine "Fiktion einer katalanischen Republik" vor. Im Vorgriff auf Turulls neuen Gefängnisaufenthalt erklärte sie: "Niemand wird ihnen die Idee abkaufen, dass sie eine politischer Gefangener sind." Mehrfach hat sie sich in ihrer Erwiderung an "Herrn Puigdemont" gewendet und diese Fehler versucht zu überspielen.
Nun liegt es also in der Hand des Richters, ob er erneut Rechtsbeugung begeht, wie es renommierte Verfassungsrechtler und Juristen erklären, Turull inhaftiert und auch seinen Gang am Samstag im Parlament verbietet. Dazu hängt es von einer Meinungsänderung der CUP - die sehr unwahrscheinlich ist - oder dem Verzicht von Puigdemont und Comín ab, ob Katalonien am Samstag nach drei Monaten wieder einen Präsidenten bekommt.
Die spanische Regierung hatte allerdings vorsorglich schon einmal angekündigt, bei dessen Wahl die Zwangsverwaltung aufrechterhalten zu wollen, womit sie sich noch weiter ins Unrecht setzen würde. Das schert sie offensichtlich nicht sonderlich, da man in Brüssel, Straßburg und Berlin zu den gravierenden Vorgängen schweigt und sich damit hinter das Unrecht stellt.