"Länder sollen die Möglichkeit erhalten, in eine Währung parallel zum Euro zu wechseln"

Ulrike Müller (Freie Wähler) zur Europawahl

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Deutschland treten am 25. Mai zweiunddreißig politische Gruppierungen zur Europawahl an. Telepolis hat bekannten Kandidaten der sieben wichtigsten davon einige Fragen gestellt. Mit der Spitzenkandidatin der Freien Wähler, Ulrike Müller sprach Reinhard Jellen über die Eurokrise, die Politik der Euro-Rettungsschirme und direkte Demokratie.

Frau Müller, steht mit der Eurokrise die demokratische Legitimation der EU auf schwachen Füßen und falls ja: Was sind die konkret die Gründe hierfür?
Ulrike Müller: Ja. Das geltende EU-Recht, nach dem jedes Land für seine Schulden selbst haftet, wurde durch die außervertragliche Vereinbarung zur Einführung des ESM gebeugt. Die fehlende parlamentarische Debatte im Bundestag, geheime Verhandlungen im Europäischen Rat und mangelnder Einbezug der Zivilgesellschaft in das Krisen-Management führen zu einem nicht tolerablen Demokratiedefizit. Die direkt gewählten Europaparlamentarier spielen hingegen bei der Euro-Rettung nur eine Nebenrolle.
Zudem kritisiere ich die Ausgestaltung des ESM-Vertrags, der weder transparente Strukturen besitzt, noch eine klare Zurechenbarkeit politischer Verantwortung ermöglicht. Eine öffentliche Finanzkontrolle des ESM gibt es ebenso wenig wie eine Ausstiegs-Klausel aus dem ESM-Vertrag.

"Durch flexible Auf- und Abwertungen wieder wettbewerbsfähig"

Was kritisieren Sie an der Einsetzung von EU-Rettungsschirmen als Mittel gegen die Währungskrise?
Ulrike Müller: Die bisherige EU-Rettungsschirmpolitik widerspricht den in Maastricht vereinbarten Grundsätzen, nach denen jedes Land für seine Schulden selbst haftet. Mit den Schirmsummen geht der deutsche Bundesbürger zu Lasten der nachkommenden Generationen Verbindlichkeiten ein, die bei Fälligkeit durch unseren Staatshaushalt nicht mehr getragen werden können.
Zudem ist die plötzliche hohe Staatsverschuldung einiger EU-Mitgliedstaaten vor allem auf die Rettung ihrer inländischen Banken zurückzuführen, denen durch Spekulationen im Vorfeld der Krise die Pleite drohte. Anstatt die deutschen Steuerzahler für das Versagen von Banken anderer Euro-Länder bürgen zu lassen, fordern wir eine geregelte Abwicklung, wie sie mit anderen insolventen Staaten außerhalb der EU praktiziert wird: Gewährung von Kredithilfen ausschließlich durch den IWF, Umschuldungsverhandlungen im Pariser und Londoner Club sowie einen Schutz der Gemeinschaftswährung durch die Wechselmöglichkeit in eine Parallelwährung.
Euro-Länder, die nicht mehr die wirtschaftlichen Kriterien für die Gemeinschaftswährung erfüllen, sollen die Möglichkeit erhalten, in eine ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Währung parallel zum Euro zu wechseln. Hierdurch wird es Ländern wie Griechenland möglich, sich durch flexible Auf- und Abwertungen wieder wettbewerbsfähig zu machen.

"Die Landwirtschaft als solche gibt es nicht"

Wie beurteilen Sie generell die EU-Wirtschaftspolitik? Was muss hier dringend geändert werden?
Ulrike Müller: Die Europäische Union muss aufhören, Konzernen und deren Lobbyisten die Gestaltung ihrer Wirtschaftspolitik zu überlassen. Stattdessen müssen wir wieder den Menschen in den Mittelpunkt rücken. So dürfen wir beispielsweise unsere bewährte Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand, wie die Trinkwasserversorgung, nicht den profitsuchenden Investoren überlassen.
Ebenso gilt es , entgegen den Bestrebungen der Europäischen Union bewährte und sich über lange Zeiträume heraus gebildete Strukturen in Deutschland zu erhalten. Hierzu zählt die Institution des deutschen Handwerksmeister-Titels, aber auch die bewährte Drei-Säulen-Struktur unseres Bankensystems mit starken Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
Wir Freie Wähler sehen uns auch als Allianz des europäischen Mittelstands und der bäuerlichen, familiengeführten Landwirtschaft: Mir ist es ein großes Anliegen, im Europaparlament das Rückgrat unserer Gesellschaft gegenüber der Großindustrie und multinationalen Konzernen zu stärken.
Im Bereich des Außenhandels fordern wir mehr Transparenz, insbesondere wenn es um die Verhandlung von Abkommen wie TTIP oder TISA geht. Die Europäische Union trägt aber auch als Bund wohlhabender Industrienationen besondere Verantwortung: Menschenrechtskriterien müssen grundsätzlicher Bestandteil von Abkommen mit Schwellen- und Drittweltländern werden. Im Bereich der Außenwirtschaftspolitik werde ich mich aber vor allem dafür stark machen, statt bilateraler Handelsabkommen zwischen der EU und einzelnen Drittstaaten auf einen neuen, großen WTO-Abschluss hinzuarbeiten.
Ulrike Müller.
Wie müsste sich die Landwirtschaft verändern und politisch unterstützt werden, damit sie ökonomisch wieder auf einen grünen Zweig kommt?
Ulrike Müller: Die Landwirtschaft als solches gibt es nicht. Auf guten Standorten ist bei der derzeitigen Marktlage und dem aktuellen Preisniveau in vielen Bereichen durchaus eine wirtschaftliche Erzeugung möglich. Jedoch sind für die Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe und für die Bewirtschaftung auch von ertragsärmeren Regionen eine gezielte Förderpolitik (sowie Ausgleichszahlungen) von elementarer Bedeutung.

"Den Bürgern reicht es nicht mehr, alle paar Jahre ein Kreuz zu machen"

Welche politischen Schritte werden die Freien Wähler unternehmen, um in Brüssel für mehr Transparenz zu sorgen und den Einfluss von Lobbyorganisationen zurückzu- drängen?
Ulrike Müller: Wir Freien Wähler werden uns dafür stark machen, dass das Europaparlament nicht länger Anwalt einzelner starker Lobbys, sondern Interessenvertreter der Bürger ist. Wir fordern dabei ein schärferes Lobby-Register, das Veröffentlichungspflichten der Personennamen, der Mitarbeiterzahl, der Klienten, für die die Lobbyisten tätig sind und die Höhe der finanziellen Aufwendungen für Lobbyarbeit offenlegt. Lobby-Arbeit findet im Europaparlament zunehmend in sogenannten "Intergroups" statt, in denen EU-Abgeordnete gemeinsam mit Interessenvertretern zusammenkommen. Auch in diesen Gremien fordern wir höchste Transparenz mit weitgehenden Veröffentlichungspflichten der Teilnehmer und ihrer Aktivitäten.
Wir setzen uns aus Gründen der Transparenz aber auch der Rechtssicherheit für die Bürger für ein einfaches und leicht verständliches EU- Recht ein. Politische Entscheidungen, Drucksachen und weitere Informationen der Europäischen Institutionen müssen zudem leicht abrufbar sein und durchwegs auch in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Zudem wollen wir unser Abstimmungsverhalten im Europaparlament ausnahmslos begründen und den Bürgern mitteilen.

"Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass der Bürger als Souverän alle politischen Entscheidungen auf gewählte Repräsentanten delegiert"

Die Freien Wähler setzen sich für die direkte Demokratie ein. Was sind deren Vorteile gegenüber der repräsentativen Demokratie?
Ulrike Müller: Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass der Bürger als Souverän alle politischen Entscheidungen auf gewählte Repräsentanten delegiert. In der heutigen Informationsgesellschaft sind die Kommunikationswege kurz geworden und die Bürgerinnen und Bürger sind aufgrund der breiten Informationsmöglichkeiten mehr als in der Lage, viele Entscheidungen selbst zu treffen.
Wir sehen zudem eine zunehmende Abnahme der Wahlbeteiligung, obwohl andere Formen der politischen Partizipation, wie die Proteste um Stuttgart21 oder aktuell die Bürgerinitiativen gegen die Hochspannungsleitung aus Sachsen-Anhalt, spürbar zunehmen. Den Bürgern reicht es heute eben nicht mehr, alle paar Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel zu machen.
Zugleich erleben wir, dass Koalitionsverträge und Regierungshandeln nicht unbedingt zu politischen Ergebnissen führen, die sich die Wähler zuvor gewünscht hätten. So hat die neu gewählte Bundesregierung durch ihre Enthaltung zur Zulassung des Genmais 1507 im EU-Ministerrat der von über 80 Prozent der Deutschen abgelehnten Gentechnik den Weg auf deutsche Äcker geebnet. Die Bürger hätten hier im Gegensatz zum Bundeskabinett nicht so zaghaft eine eindeutige gute Entscheidung getroffen. Mehr direkte Demokratie im Sinne von Volksabstimmungen ist meines Erachtens die richtige Antwort, um Politik wieder bürgernäher und menschlicher zu machen. Politische Entscheidungen, die direkt vom Volk getroffen werden, verfügen über die größtmögliche politische Legitimation und sind für uns Grundlage einer starken Demokratie der Zukunft.

"Die Stärkung der Regionen bedeutet nicht die Schaffung neuer Kleinstaaten"

Sie treten für ein Europa der Regionen ein. Kommen Ihnen da die Entwicklungen in Schottland und Katalonien zupass?
Ulrike Müller: Wir Freien Wähler wollen die Regionen und Kommunen in Europa stärken. Das, was vor Ort entschieden werden kann, muss auch Aufgabe der Regionen sein. Die Europäische Integration als Entwicklung, die uns Friede, Freiheit, Wohlstand, Mobilität und Raum zur Selbstverwirklichung gebracht hat, kann meines Erachtens für die Zukunft nur Bestand haben, wenn es uns gelingt, kulturelle Vielfalt und das Gefühl von Heimat in Zeiten der Globalisierung zu bewahren.
Unser Ziel ist es daher, den Ausschuss der Regionen zur dritten Kammer neben Ministerrat und EU-Parlament zu entwickeln, um eine gleichberechtigte Mitsprache der Vertreter vor Ort über Richtlinien und Verordnungen zu ermöglichen und den Tendenzen eines weiteren Zentralismus hierüber Einhalt zu gebieten.
Wir brauchen zudem dringend eine Diskussion darüber, welche Zuständigkeiten auf welcher politischen Ebene angesiedelt werden sollen. Die Stärkung der Regionen bedeutet für uns dabei nicht die Schaffung neuer Kleinstaaten. Wir respektieren die Unabhängigkeitsbestrebungen in vielen europäischen Regionen, wenn diese auf demokratischen und verfassungskonformen Verfahren beruhen. Doch baut unser Leitbild anstelle der Sezession einzelner Regionen von einem Staat auf die Stärkung der Entscheidungsbefugnisse vor Ort innerhalb unserer nationalstaatlichen Ordnung und der EU als Staatenverbund.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.