Lebende Bomben

Was geht in Selbstmordattentätern vor?

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Wie wird man ein Selbstmordattentäter? In den Medien wird viel darüber spekuliert und die Politik hält sich mit Behauptungen nicht gerade zurück, aber die Wissenschaft zeigt, dass die am häufigsten genannten Standardprofile schlicht falsch sind.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in den besetzten Gebieten in Palästina, im Irak oder sonst irgendwo auf der Welt, ein Selbstmordattentäter ein Blutbad anrichtet. Gerade erst fiel der Vorsitzende des irakischen Regierungsrats, Issedin Salim (Bislang unbekannte Killertruppe tötet irakisches Regierungsratmitglied), einem solchen Anschlag zum Opfer. Aber was treibt Menschen dazu, sich eine Bombe um den Bauch zu binden, um dann möglichst viele Leute mit in den Tod zu nehmen?

Der Begriff des Terrorismus stammt aus der französischen Revolution und seine genaue Definition ist bis heute umstritten (Was ist Internationaler Terrorismus?). Die kürzeste und prägnanteste Umschreibung stammt von Brian Jenkins, dem Terrorismusexperten der RAND Corporation: "Terrorism is violence for effect."

Die angehende Rechtsanwältin Hanadi Dschadarat aus Dschenin, die als Selbstmordattentäterin 20 Menschen in Haifa mit sich in den Tod riss

Letztlich wird die Frage, ob es sich um Freiheitskampf oder Terrorismus handelt, in den meisten Fällen ideologisch beantwortet. Für den Begriff des Selbstmordattentäters ist die Abgrenzung zur Selbstaufopferung als Kriegstaktik im Militär wichtig, obwohl dort auch Wurzeln des Phänomens zu finden sind: Der japanische Kamikaze-Flieger oder die deutschen Werwölfe im zweiten Weltkrieg gehorchten militärischen Befehlen, sie sollten bis zur Selbstaufopferung kämpfen und wenn sie starben, war das Teil ihres Auftrags, Teil der Kriegstaktik. Selbstmord war aber nicht das zentrale Element. Zudem griffen sie militärische Ziele an, keine Zivilisten.

Soldaten wurden in der Geschichte in militärisch auswegslosen und verzweifelten Situationen immer wieder auf Himmelfahrtkommandos geschickt. Ein besonders grausames Beispiel dafür sind die iranischen Jugendlichen, die mit einem Schlüssel um den Hals, der ihnen das Tor zum Paradies öffnen sollte, wie Schlachtlämmer im Krieg gegen den Irak in die Minenfelder geschickt wurden (Kilid).

Attentate und Selbstaufopferung

Die andere Seite ist die Geschichte der politischen Attentate (Chronik der Attentate in der Welt). Werke zum Terrorismus sehen die Ursprünge meist bei den jüdischen Zeloten, die gegen die römische Besatzung kämpften, wie die Sicarii, die ihre Opfer mit kurzen Dolchen in Menschenmengen ermordeten und lieber starben, als bei der Eroberung ihrer Festung Massada den Römern in die Hände zu fallen.

Als historische Vorbilder der heutigen Selbstmordattentäter werden auch immer wieder die mittelalterlichen Assassinen genannt (Die Assassinen sind wieder da!). Sie waren eine Sekte von Meuchelmördern und bei einem Attentat zu sterben, galt ihnen als ehrenhafter und direkter Weg ins Paradies. Sie ermordeten andere aber nicht durch ihren eigenen Tod.

Ebenso wenig taten dies die russischen Anarchisten, die bereits auf die "Philosophie der Bombe" setzten, um einen Umsturz zu erwirken (How Russia Shaped the Modern World). Eine besonders radikale Gruppe namens "Hölle" setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auf ein Abtauchen ihrer Mitglieder in den Untergrund, vor Anschlägen sollten die Sozialrevolutionäre sich selbst entstellen und sich anschließend vergiften, was sie aber letztlich nicht taten.

Selbstmordattentäter im 20. Jahrhundert

Der eigentliche Selbstmordattentäter, der einen politischen Anschlag mit Tötungsabsicht verübt, indem er oder sie sich selbst das Leben nimmt, taucht erst im 20. Jahrhundert auf. Im Mai 1972 schießen drei japanische Rotarmisten in palästinischem Auftrag wahllos in die Menge der Wartenden auf dem israelischen Flughafen Lod. Sie töten 26 Menschen und verletzten 80. Ihren eigenen Tod haben sie von vornherein eingeplant, einer wird erschossen, ein zweiter sprengt sich mit einer Handgranate selbst in die Luft, ein dritter wird gefangen genommen und verlangt vor Gericht die Todesstrafe für sich (er bekommt lebenslänglich - heute ist er politischer Asylant im Libanon).

Für Joseph Croitoru, den Autor der Buches "Der Märtyrer als Waffe" (München: Hanser 2003) beginnt damit eine neue Epoche:

"In Lod waren zum ersten Mal die Taktik des Selbstmordangriffs - sprich die Selbstmordattacke mit Handgranaten - die bis dahin nur im Krieg und gegen militärische Ziele zum Einsatz gekommen war - und ein terroristischer Akt eine verheerende Verbindung eingegangen."

Das eigene Leben wird zur Waffe, der Angriffselbstmord zum terroristischen Instrument, der vor allem bei den Palästinensern immer beliebter wird. Aber auch die tamilischen Tiger auf Sri Lanka setzten immer wieder auf dieses Strategie (Die Tamil Tigers sind die erfolgreichste Widerstandsbewegung der Welt). Der 11. September in New York markiert den traurigen Höhepunkt, was die Anzahl der Opfer angeht (Aufkündigung der Zivilisation).

Seit 1980, so berichtet das Wissenschaftsmagazin New Scientist in seiner aktuellen Ausgabe, wurden weltweit mehr als 500 Selbstmordanschläge durchgeführt. Der hunderste allein in Israel wurde bereits 2001 registriert (Ein fatales Jubiläum). Aber auch in Kaschmir, Tschetschenien oder durch Kurden in der Türkei wurde diese Strategie genutzt.

Wie wird man Selbstmordattentäter?

Was qualifiziert einen Menschen, sich in eine lebende Waffe zu verwandeln? Schon Walter Laqueur hat in seinem Grundlagenwerk "Terrorismus" (Kronberg: Athenäum 1977) geschrieben: "Die Suche nach einer 'terroristischen Persönlichkeit' , so haben wir festgestellt, ist vergeblich." Dennoch wird immer wieder darüber spekuliert und speziell zu den Selbstmordattentätern gibt es einige populäre Stereotypen, die von Medien oder Politikern gerne verwendet werden. So heißt es immer wieder, es handle sich um Geisteskranke, die unbedingt töten oder sich selbst töten wollen. Oder sie seien besonders arm und ohne echte Zukunftsperspektive. Eine These lautet, sie würden durch unerträgliche politische Unterdrückung zu ihrer Tat getrieben oder sie seien schlicht religiöse, speziell islamistische Fanatiker.

Das einzige, was daran stimmt, ist die Tatsache, dass Selbstmordattentäter ausnahmslos Unterdrückung erlebt haben, bevor sie zur Tat schreiten. Sie stammen beispielsweise aus besetzten Gebieten wie die Palästinenser und es ist ihnen klar, dass sie einen militärischen Kampf nicht gewinnen können. Sie sind unterlegen und sie sind verzweifelt, das ist die Grundlage, auf der ein Selbsttötungs-Märtyrerkult gedeihen kann. Oder wie der Hisbollah-Führer Scheich Nasrallah es formulierte:

"Märtyrerakte sind die einzige Waffe, eine Waffe von Gott, die uns niemand nehmen kann. Panzer, Raketen und Flugzeuge können diese Waffe zerstören, aber unsere Liebe zu Gott und unsere Bereitschaft zum Märtyrertod - all das kann niemand zerstören."

Sie schaffen sich eingebettet in Organisationen eine eigene Logik, ausgehend von dem Gefühl, im Grunde nichts mehr zu verlieren zu haben. Der Journalist und Islamwissenschaftler Christoph Reuter erklärt:

Das Schlimmste was der Staat aufzubieten hatte, war, jemanden umzubringen. Das schlimmste, was Gott aufzubieten hatte, war, jemanden das Leben zu nehmen. Der Selbstmordattentäter setzt diese Logik außer Kraft und sagt: "Ihr könnt mir nichts mehr tun."

Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter. Gütersloh: C. Bertelsmann, 2002.

Populäre Irrtümer

Tatsächlich sind Selbstmordattentäter nicht geistig verwirrter, weniger gebildet, ärmer oder religiöser als der Durchschnitt der Bevölkerung. Letztlich gibt es kein wirkliches Profil. "Sie sind wie du oder ich", meint Rohan Gunaratna, Terrorismusforscher am Institute of Defence and Strategic Studies in Singapur und Autor des Buches "Inside Al Qaeda: Global Network of Terror" (Columbia University Press 2002).

Seit Jahren erforschen Wissenschaftler die Hintergründe des Terrorismus und ihre Resultate zeigen, dass die meisten Stereotypen schlicht falsch sind. Claude Berrebi von der Princeton University hat sich vergangenes Jahr mit den Selbstmordattentätern der letzten 15 Jahre von Hamas und Dschihad auseinander setzt. Er fand heraus, dass lediglich 13 Prozent von ihnen aus armen Familien stammten, also deutlich weniger als der allgemeine Armutsanteil von 32 Prozent in der palästinensischen Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Selbstmordattentäter hatte eine höhere Schule besucht, im Durchschnitt schaffen das nur 15 Prozent der Palästinenser (Poverty Doesn't Create Terrorists).

Zu ähnlichen Resultaten war bereit 2002 eine Studie über die Zusammenhänge zwischen Armut, Bildung und politischer Gewalt gekommen (Armut ist keine Ursache für den Terrorismus). Forschungen verdeutlichen auch, dass Selbstmordattentäter nicht suizidal veranlagt sind. Der Psychologe Ariel Merari von der Universität Tel Aviv hat in einer Langzeitstudie die Psychogramme von mehr als 50 Selbstmordbombern untersucht und kam zu dem Schluss, dass der Gruppendruck eine entscheidende Rolle spiele:

"Bei der Mehrheit findet sich keiner der Risikofaktoren, wie Geistesstörungen oder Schizophrenie, Abhängigkeit von Drogen oder eine Vorgeschichte mit Selbstmordversuchen, die mit Suizid verbunden sind."

Und wie ist es mit der Religion? Sind nicht alle lebenden Bomben religiöse Fanatiker? Nein, sagt Robert Pape, ein Politologe von der Universität Chicago. Er untersuchte alle Selbstmordattacken von 1983 bis 2001 (The strategic logic of suicide terrorism). Ein gutes Beispiel dafür sind die tamilischen Tiger, denn es handelt sich um eine kommunistische Gruppe, deren Mitglieder zwar aus Hindu-Familien stammen, die aber Religion ablehnen. In der Neuen Zürcher Zeitung schrieb Pape:

"Im Kern geht es selten um Religion, auch wenn die Religion oft als Instrument zur Rekrutierung und bei der Verfolgung breiter strategischer Ziele benutzt wird."

Die stärkste Waffe des Terrors

Merari zeigte in seiner Untersuchung dass 22 der insgesamt 32 Selbstmordanschläge im Libanon von nicht-religiösen Organisationen durchgeführt wurde. Heimat- und Hoffnunglosigkeit sind wichtige Beweggründe, um für die Befreiung sterben zu wollen (Sterben für den Dschihad und Das Leben als Kampf).

Seine Religion in strenger Auslegung zu leben, scheint öfter eher die Folge der politischen Radikalisierung als ihre Ursache. Das gilt für die Attentäter des 9. September ebenso wie für junge Usbekinnen (Wie junge Usbekinnen zu Terroristinnen wurden).

Effektivste Form des Terrorismus

Für das wichtigste Moment halten die Wissenschaftler neben der Atmosphäre der Unterdrückung die jeweilige Organisation, die Anhänger rekrutiert. Sie plant die Anschläge, wirbt Freiwillige an, motiviert sie und bildet sie aus. "Selbstmordterrorismus ist ein organisatorisches Problem," meint Merari, "Eine Organisation entscheidet darüber, wie vorgegangen wird." Pape ist überzeugt, dass durch die Attentate strategische Ziele verfolgt werden und sie richten sich in fast allen Fällen gegen eine Demokratie:

"Selbstmordanschläge sind Teil organisierter Kampagnen und keine isolierten oder zufälligen Ereignisse." Meist geht es um Destabilisierung, mit dem Ziel der Unabhängigkeit oder des Rückzugs eines Staates aus einem bestimmten Territorium. Öffentliche Aufmerksamkeit soll erregt werden, die Medien spielen eine wichtige Rolle"

Bomben und Explosionen sind medienästhetisch kaum zu überbieten

"Selbstmordanschläge sind die weitaus effektivste Form des Terrorismus", sagt Pape, denn obwohl sie zwischen 1980 und 2001 nur drei Prozent aller Terrorangriffe ausmachten, verursachten sie - selbst ohne die vielen Toten des 11. September - fast die Hälfte aller Terroropfer.

Der Westen und der Materialismus

Im Westen gab es bisher keine Terrororganisationen, die Selbstmordanschläge durchführt. In Europa treffen viele Charakteristika des Gefühls der Ohnmacht und der Besatzung sowohl auf die IRA wie auf die ETA zu (Die europäische Liste der Terroristen). Aber obwohl beide Gruppen bombten, sprengte sich nie eines ihrer Mitglieder selbst in die Luft.

Über die Gründe ist viel spekuliert worden. Sicher ist die fehlende Akzeptanz in der europäischen Bevölkerung wesentlich. Im Gaza-Streifen oder im nördlichen Sri Lanka sind die Selbstmordattentäter verehrte Helden, deren Bilder überall hängen und deren Taten in Liedern besungen werden. Rohan Gunaratna, der auch Gespräche mit John Walker Lindh (Poor Boy Walker) führte, ist überzeugt, dass der amerikanische Taliban keinen Selbstmordanschlag ausführen wollte, weil er aus dem Westen ist:

"Die westliche Denkweise ist sehr materialistisch. Sie haben nicht dasselbe Begehren, die gleiche Kultur der Aufopferung. Vielleicht liegt das daran, dass der Westen materiell so viel erreicht hat. Wenn man materialistisch ist, wird man nie ein guter Selbstmordterrorist."

Andere Forscher haben Zweifel, sie gehen eher davon aus, dass Organisationen diese Selbsttötungs-Taktik nutzen, wenn sich andere Formen bereits abgenutzt haben, wenn viel Gewalt von der Gegenseite ausgeht oder eine starke Rivalität zwischen verschiedenen Terrorgruppen herrscht.

Gut organisiert

Der Selbstmordattentäter sollte in seinem Bevölkerungsteil wie ein Fisch im Wasser schwimmen und sich sicher sein, dass er durch seinen Tod ein allgemein verehrter Märtyrer wird. Die Organisation, der er angehört, sorgt dafür, dass er bei der Stange gehalten wird und sich möglichst nicht zurückziehen kann. Eine schriftliches Testament oder ein Bekenntnis-Videoband wird erstellt, die kleine eingeschworene Gemeinschaft wird zur Einbahnstraße.

Der Anthropologe und Psychologe Scott Atran vom CNRS-Institut Jean Nicod hat sich mit den Verhaltensmustern und Motivationen von Selbstmordattentätern beschäftigt. Für ihn baut sich die Gesellschaft um eine Gemeinschaft der Verwandtschaft und der Religion als Gemeinschaftsform auf (Genesis of Suicide Terrorism). Atran erläutert:

"Wenn man in einer kleinen Zelle von Selbstmordterroristen ist und sie sterben alle einer nach dem anderen, und man hat diese Verpflichtungserklärung auf ein Video gesprochen, der Familie und allen anderen Lebewohl gesagt, ist die psychologische Investition bereits so groß, dass es fast unmöglich demütigend wäre, sich noch zurückzuziehen."

Und natürlich tun die Verantwortlichen der Organisationen das ihre dazu, um die Kandidaten immer wieder zu motivieren. Ein Hamas-Mitglied erklärte Nasra Hassan, die im Auftrag der UNO 250 erfolglose Selbstmordattentäter und ihre Angehörigen in Gaza befragte:

"Wir richten seine Aufmerksamkeit auf das Paradies, darauf den Propheten Mohammed zu treffen – und auf den Kampf gegen die israelische Besetzung..."

Kommen äußere Unterdrückung beispielsweise in einem besetzten Land, ein entsprechendes gesellschaftliches Wertesystem, straffe terroristische Organisationen und ein Umfeld, das Selbstmordattentate zum Kult verklärtzusammen, können die verschiedensten Menschen zu lebenden Bomben werden. Die individuelle Psychologie spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Und Selbstmordattentäter sind weder geisteskrank, noch besonders arm, noch ohne Zukunftsperspektive. Nicht in allen Fällen sind sie herausragende religiöse Fanatiker - und wenn sie es sind, wurden sie oft von den Organisationen, die sie angeworben haben, dazu gemacht. Sie sind die Waffen dieser Organisationen, ihre Werkzeuge.