Meinungsfreiheit und das "Hausrecht" im Zeitalter des Internets

Seite 4: Einladung verpflichtet

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Wie dem auch sei: Für unsere Ausgangsfrage ist relevant, dass man auch im Privatrecht nicht erst alle zur Teilnahme einladen und dann willkürlich Menschen ausschließen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn es um eine gesellschaftlich relevante Aktivität geht.

Ob das gleich bei jedem Blog gilt, darf man wohl bezweifeln. Besser wäre es aber auch dort, klare Hausregeln aufzustellen und sich im Konfliktfall darauf zu berufen. Wenn man an eine Plattform wie Facebook denkt, dann liegt die soziale Relevanz meiner Meinung nach aber auf der Hand.

Gegen Facebook vor Gericht

Tatsächlich berief sich das Oberlandesgericht München (OLG) erst kürzlich in seiner Entscheidung vom 24. August 2018 auf die Grundrechte und deren "mittelbare Drittwirkung" im Privatrecht: In diesem Fall hatte eine Frau gegen das Löschen eines Kommentars und die Sperrung ihres Accounts auf Facebook geklagt. Ihr Kommentar stand im Zusammenhang mit einem Spiegel-Online-Artikel über Grenzkontrollen in Österreich und richtete sich an eine andere Nutzerin:

[Name der anderen Nutzerin] Gar sehr verzwickt ist diese Welt, mich wundert's daß sie wem gefällt. Wilhelm Busch (1832-1908)

Wusste bereits Wilhelm Busch 1832 zu sagen:-D Ich kann mich argumentativ leider nicht mehr mit Ihnen messen, Sie sind unbewaffnet und das wäre nicht besonders fair von mir.

18 W 1294/18

Die Richter diskutieren erst einige Fachfragen. So war die Klägerin am 14. August 2018 mit ihrem Antrag in erster Instanz beim Landgericht München gescheitert. Und auch die Frage, ob man für Facebook mit seinem Sitz in Irland zuständig sei, wird diskutiert - und mit Verweis aufs Europarecht bejaht.

Einseitige Richtlinien

Bei der Diskussion der Frage, ob Facebook den Kommentar löschen durfte, bringen die Richter nun tatsächlich das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5, Absatz 1 GG ins Spiel, obwohl der Vertrag zwischen dem Internetkonzern und der Nutzerin privatrechtlicher Natur ist. In diesem Zusammenhang diskutieren sie Punkt 5.2. aus Facebooks "Erklärung der Rechte und Pflichten", in dem es heißt: "Wir können sämtliche Inhalte und Informationen, die du auf Facebook postest, entfernen, wenn wir der Ansicht sind, dass diese gegen die Erklärung oder unsere Richtlinien verstoßen."

Diese Klausel halten die Richter für unwirksam, weil sie nur die Interessen des Internetkonzerns gelten lasse. Aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch ergebe sich aber die Pflicht, auch die Interessen der Gegenpartei zu berücksichtigen (§ 241, Absatz 2). Anschließend fahren sie - mit Verweis auf das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 10. August 2017 - fort, dass es sich bei Facebook tatsächlich um eine Art "öffentlichen Marktplatz" handle, auf dem die Grundrechte mittelbar gelten würden (siehe auch diesen ähnlichen Fall: Facebooks Quasi-Monopol schränkt Definitionsmöglichkeiten von "Hassrede" ein).

In der näheren Begründung wird auch das gerade besprochene Stadionverbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Konkret führen die Richter aus:

Im vorliegenden Fall bildet die Vorschrift des § 241 Abs. 2 BGB die konkretisierungsbedürftige Generalklausel, bei deren Auslegung dem von der Antragstellerin geltend gemachten Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) Rechnung zu tragen ist. Mit dem gebotenen Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz wäre es unvereinbar, wenn die Antragsgegnerin [also Facebook, d. A.] gestützt auf ein "virtuelles Hausrecht" (vgl. LG Bonn, Urteil vom 16.11.1999 - 10 O 457/99, NJW 2000, 961) auf der von ihr bereitgestellten Social-Media-Plattform den Beitrag eines Nutzers, in dem sie einen Verstoß gegen ihre Richtlinien erblickt, auch dann löschen dürfte, wenn der Beitrag die Grenzen zulässiger Meinungsäußerung nicht überschreitet.

18 W 1294/18, Rn. 28'

Mit anderen Worten: Wenn Facebook den Beitrag unter Berufung auf sein Hausrecht löscht, dann darf dieser nicht von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt sein. Die Richter überprüfen dann, ob es sich bei dem Kommentar von der Nutzerin um eine "Hassbotschaft" handelt. Dazu interpretieren sie ihn im Kontext der Online-Diskussion.

Richterliche Interpretationsarbeit

Diese Interpretationsarbeit aus der Hand der Richter ist sicher nicht unintelligent, liest sich aus Laiensicht aber äußerst unterhaltsam, einschließlich der Erklärung der Bedeutung des Smileys ":-D". Deswegen möchte ich die drei Absätze aus dem Urteil hier vollständig zitieren:

Die Antwort der Antragstellerin an [die andere Frau] wird mit der Wiedergabe eines kurzen - als solches kenntlich gemachten - Zitats von Wilhelm Busch in Versform eingeleitet, in dem dieser seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringt, dass diese "gar sehr verzwickt(e)" Welt jemandem gefallen könne. Dem Zitat liegt offensichtlich ein pessimistisches Weltbild zugrunde. Der maßgebliche Leser erkennt, dass Wilhelm Busch mit der geäußerten Verwunderung darüber, dass es Menschen gibt, denen die Welt trotz ihrer "Verzwicktheit" gefällt, den Vertretern einer positiveren Weltsicht letztlich ein ausreichendes Urteilsvermögen abspricht, weil diese nicht in der Lage seien, die Komplexität und Unvollkommenheit der tatsächlich existierenden Welt zu erkennen.

Aufgrund dieser Interpretation des Zitats erschließt sich dem verständigen und unvoreingenommenen Leser auch, dass die Antragstellerin mit der Verwendung des Zitats ihrer Kritikerin mangelndes Urteilsvermögen vorwirft. In dieser Interpretation sieht er sich durch den weiteren Inhalt der streitgegenständlichen Äußerung bestätigt: Die Aussage "Wusste bereits Wilhelm Busch 1832 zu sagen" und die anschließende Zeichenkombination ":-D", welche, nach den Gepflogenheiten der Internet-Kommunikation ein laut - aber nicht unbedingt freundlich - lachendes Gesicht symbolisiert, erkennt der Leser als Übertragung der allgemeinen Aussage des Zitats auf die Person der Kritikerin.

Letzte Zweifel werden durch den abschließenden Satz der streitgegenständlichen Äußerung "ich kann mich argumentativ leider nicht mehr mit ihnen messen, Sie sind unbewaffnet und das wäre nicht besonders fair von mir." ausgeräumt. Damit bringt die Antragstellerin aus Sicht des maßgeblichen Lesers zum Ausdruck, dass sie auf die Eröffnung einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit [der anderen Frau] verzichtet, weil sie ihre Kritikerin nicht für "intellektuell satisfaktionsfähig" hält. Diese sei "unbewaffnet", was der Leser im Kontext dahin versteht, dass die Kritikerin ihre gegenteilige Auffassung nicht auf tragfähige Argumente stützen könne. Die abschließende Bemerkung, dass die Fortsetzung der Diskussion "nicht besonders fair" wäre, erkennt der Leser als Betonung ihrer eigenen intellektuellen Überlegenheit durch die Antragstellerin.

18 W 1294/18, Rn. 35-37

Keine Hassbotschaft

Die Richter stellen anschließend fest, dass es sich bei dem fraglichen Kommentar daher nicht um eine "Hassbotschaft" im Sinne der Definition von Facebook handelt, da kein "direkter Angriff auf Personen wegen ihrer Rasse, Ethnizität" und so weiter vorliege. Auch das neue Netzwerkdurchsetzungsgesetz böte keine Rechtsgrundlage dafür, den Beitrag der Nutzerin zu löschen.

So wird Facebook unter Androhung von einem Ordnungsgeld in Höhe von bis zu € 250.000 oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten dazu verurteilt, den fraglichen Kommentar wieder einzustellen und auch die Sperre der Nutzerin aufzuheben. Es handelt sich jedoch nur um eine einstweilige Verfügung und die Sache muss noch im Hauptverfahren behandelt werden. Für die Antragstellerin ist das aber sicher schon ein großer Erfolg gegen den Internet-Goliath.

Am Rande sei noch erwähnt, dass der Streitwert des Verfahrens auf sage und schreibe € 10.000 festgesetzt wurde und das Landgericht München den Antrag der Frau in erster Instanz auch aus dem Grund abgelehnt hatte, weil sie sich erst nach vier Tagen ans Gericht gewandt hätte. Letzteres hielten die Richter des Oberlandesgerichts aber für übertrieben.

Grundrechte im Privatbereich

Meine am Anfang aufgestellten allgemeinen Überlegungen und die hier diskutierten Gerichtsurteile zeigen auf, dass Grundrechte in den privatrechtlichen Bereich wirken können. Insbesondere muss ein willkürlicher Ausschluss vermieden werden, nachdem man erst alle Menschen zur Teilnahme eingeladen hat. Wichtig war auch, dass die angebotenen Dienste von gesellschaftlicher Bedeutung sind.

Ab wann das auf einen Blog oder die Nachrichtenseite eines Verlags übertragbar ist, bleibt eine offene Frage. Hier könnte man vielleicht argumentieren, dass man leicht auf eine andere Plattform ausweichen und dort seine Meinungsfreiheit ausüben könne. Das ist bei den (Quasi-)Monopolisten der Fußballspiele oder sozialen Netzwerke nicht möglich. Wenn eines Tages aber alle Nachrichtenmedien Kommentare verbieten würden, dann wäre das aber womöglich eine zu weitgehende Einschränkung der Meinungsfreiheit.

In jedem Fall scheint es aber angemessen, deutliche Hausregeln aufzustellen, um Willkür zu vermeiden. Einen Beitrag zu löschen, bloß weil er einem nicht gefällt, dürfte unzureichend sein. Wenn Beiträge aber themenfremd sind oder endlose Wiederholungen die Funktion eines Diskussionsforums torpedieren, dann wird man sie wohl löschen beziehungsweise die Autoren ausschließen dürfen. "In meinem Wohnzimmer mache ich, was ich will", scheint jedoch als Begründung unzureichend sein, wenn man die Wohnzimmertür sperrangelweit offen lässt.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.