Nano-Ethik

Die Welt des Winzigen: Milliardenmarkt und große Risiken. Die ethischen und sozialen Implikationen der Nanotechnologie

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Die Nanotechnologie wird weltweit als die nächste industrielle Revolution gefeiert. Längst sind die erste Produkte im Handel – obwohl die Risiken bisher nicht wirklich abgeschätzt werden können. Verkleinert man Materialien zu winzigen Partikeln, so verändern sich ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften. In der Zwergenwelt (griechisch nanos = Zwerg) gelten ganz spezielle Gesetze, ganz harmlose Stoffe werden z.B. plötzlich giftig (vgl. Je kleiner, desto giftiger).

Die Veränderung der Größe in winzigste Bruchstücke führt dazu, dass die Partikel ein im Verhältnis zu ihrem Volumen extrem große Oberfläche haben. Ein beliebtes Beispiel verdeutlicht in was für winzigen Bereichen die Nano-Welt stattfindet: Ein Meter verhält sich zu einem Nanometer, wie der Durchmesser unseres Erdballs zu dem einer Haselnuss (ein Nanometer entspricht einem Milliardstel Meter bzw. 0,000001 mm.

Lotuseffekt einer Oberfläche durch Nanobeschichtung, hier blaue Wassertropfen auf Holz, das mit einem wasserabweisenden Spray behandelt wurde (Bild: BASF)

Die viel beschworene Nano-Revolution ist noch reine Utopie. Als zukunftsweisende Technologie des 21. Jahrhunderts soll sie künftig völlig neue, sehr leichte und ultraharte Materialien liefern, die unter anderem im Fahrzeug- und Flugzeugbau eingesetzt werden sollen. Die Welt des Winzigen wird diesen Visionen zufolge sowohl die Kommunikations- und Informationstechnik revolutionieren, als auch die Optik und Sensorik. Das Militär forscht intensiv und stellte bereits vor Jahren erste Prototypen schussfester Kampfanzüge aus papierdünnem Stoff vor – der Traum der Unverwundbarkeit (vgl. Nanotechnologie für das Militär).

In der Medizin sollen künftig Molekularmaschinen im Körper selbst Diagnosen erstellen und anschließend sofort eingreifen, z.B. um erkannte Ablagerungen in den Arterien zu entfernen, Knochen zu kitten oder Gewebe gezielt wiederaufzubauen. Krebszellen werden dann dazu gebracht, sich selbst zu zerstören (vgl. Mit Nano gegen Krebs).

Während die Wissenschaft und die Industrie von einer umfassenden technologischen Revolution träumen, wird schon längst eine Vielzahl von einzelnen Produkten mit Nanopartikeln hergestellt und verkauft. Das Spektrum reicht von Sportgeräten wie Tennis- oder Golfschlägern, über Kosmetik und Reinigungsmittel, bis zu Farben oder Luftfilterungssystemen. Die große Vision von winzigsten Robotern oder Werkstoffen, die sich selbst reproduzieren, die sogenannten Nano-Assembler, bleibt umstritten, möglicherweise ist und bleibt sie reine Science-Fiction (vgl. Riesenstreit im Zwergenland).

Dennoch macht die Nanotechnologie vielen Menschen Angst – und das nicht erst seit dem Bestseller von Michael Crichton über sich zu einem bösartigen Schwarm vereinigende Nanopartikel (vgl. Die Angst des Lesers vor der Nanotechnologie). Wissenschaftliche Studien bestätigten mehrfach die potenziell gesundheitsschädliche Wirkung der winzigen Teilchen und es wird lebhaft darüber diskutiert, wie die Risiken abgeschätzt und gehandhabt werden könnten (vgl. Es mangelt an der Nano-Hygiene).

Verständlicherweise ist die Industrie nicht über die kritische Debatte erfreut, ein negatives Image schadet den Umsätzen gewaltig. Aber auch viele Wissenschaftler halten die artikulierten Ängste und Forderungen nach umfassenden Nachhaltigkeitsstudien für überzogen und wollen sich in ihrem Forschungseifer nicht ausbremsen lassen. Gerne weisen sie dann darauf hin, dass historisch jede neue Technik eine Menge Befürchtungen ausgelöst hat und zitieren aus entsprechenden, alten Artikeln über die Eisenbahn, das Automobil oder das Telefon.

Milliardenmarkt und die Notwendigkeit ethischer Grundlagen

Die Dimensionen sind winzig, die Chancen riesig: In absehbarer Zeit soll eine gewaltige Menge Geld mit den Produkten der Zwergenwelt verdient werden. Anlässlich der Eröffnung des EuroNanoForums 2007 im Juni diesen Jahres in Düsseldorf erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel:

Das Marktpotenzial der Nanotechnologie ist gewaltig. Europa ist in der Nanotechnologie weltweit mit an der Spitze. Wir müssen alles dafür tun, unsere Position zu sichern und weiter auszubauen. Nanotechnologie ist ein wichtiger Innovationstreiber. Sie stärkt die Wirtschaftskraft Europas und hilft, unseren künftigen Wohlstand zu sichern.

Die Experten schätzen, dass weltweit im Jahr 2015 mit Nanotechnologie-Produkten bis zu 1 Billion Euro umgesetzt werden. Entsprechend wird kräftig Geld in die Entwicklung gepumpt.

Die Bundesregierung hat im Rahmen der Hightech-Strategie die Nano-Initiative-Aktionsplan 2010 gestartet. Bis zum Jahr 2009 fördert die Regierung diese Zukunftstechnologie mit insgesamt 640 Millionen Euro. Die Europäische Kommission hat in der aktuellen Auflage des EU-Forschungsrahmenprogramms bis zum Jahr 2013 für die Nanotechnologie insgesamt 1,5 Milliarden Euro vorgesehen.

Schon seit Jahren machen sich Wissenschaftler fundierte Gedanken zu den Risiken und es gibt eine Vielzahl von kritischen Studien. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte vor allem die Dokumentation der "Action Group on Erosion, Technology and Concentration“ (ETC-Group), die nachdrücklich darauf hinwies, dass die Konsequenzen des Nano-Booms nie systematisch abgeschätzt wurden.

Die winzigen Teilchen können durch Einatmen, über den Verdauungstrakt und durch die Haut in den menschlichen Organismus gelangen. Tierstudien weisen daraufhin, dass sie dort unter anderem Lungenschäden verursachen oder sich im Gehirn ablagern. In der Umwelt bleibt unklar, wie Nanoteilchen langfristig wirken, wie – und ob überhaupt – sie sich z.B. mit der Zeit zersetzen (vgl. Heftige Diskussion um Nanotechnologie).

Ständig kommen neue Nano-Produkte auf den Markt

Kein Wunder, dass sich auch die Versicherungen mit der Problematik befassen – Risikoabschätzung ist ihr Geschäft und die enormen Kosten von Fehlern der Vergangenheit wie z.B. durch Asbest, sollen vermieden werden. Entsprechend veröffentlichte die Schweizer Rückversicherung Swiss Re eine kritische Untersuchung (vgl. Nanotechnologie. Kleine Teile - grosse Zukunft?) und die Allianz tat sich mit der OECD zusammen, um eine Studie zu erstellen (vgl. Opportunities and risks of Nanotechnologies).

Ständig kommen neue Nano-Produkte auf den Markt (vgl. Datenbank der Nanoprodukte:A Nanotechnology Consumer Products Inventory) und auch in den Laboren reiht sich Erfolg an Erfolg (vgl. News bei Techportal Nanotechnologie). Die Kritiker und Skeptiker sehen sich zunehmend unter Druck, sich Gehör zu verschaffen. Gerade rief die ETC-Gruppe zusammen mit anderen erneut dazu auf, die Nanotechnologie intensiv ins Visier zu nehmen und den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen:

Die Herstellung von Produkten mittels Nanotechnologie (…) ist in den letzten Jahren explodiert. Hunderte von Konsumprodukten, die heute auf dem Markt sind, beinhalten Nanomaterialien, dazu gehören Kosmetika, Sonnenschutzmittel, Sportartikel, Bekleidung, elektronische Geräte, Baby- und Kinderprodukte, sowie Nahrungsmittel und Verpackungsmaterialien in diesem Bereich. Aber es gibt Belege dafür, dass gängige Nanomaterialien signifikante Risiken für die Gesundheit, die Betriebssicherheit und die Umwelt darstellen könnten. Zusätzlich müssen die profunden sozialen, ökonomischen und ethischen Herausforderungen, die sich durch die Technologie auf Nanobasis stellen, erst noch benannt werden.

Horrorszenarien und Heilsversprechen

Die breite Koalition von Institutionen (inklusive der ETC) aus aller Welt fordert die Berücksichtigung von acht grundlegenden Prinzipien für die Risikoabschätzung der Nanotechnologie – der Katalog reicht von der Beweislast über die Ungefährlichkeit von Nanoprodukten bei den Herstellern, über Analysen zum Umweltschutz, die klare Kennzeichnung der Produkte bis zur Abklärung der möglichen sozialen und ethischen Auswirkungen (vgl. Principles for the Oversight of Nanotechnologies and Nanomaterials).

Und auch die Nanoethic Group meldet sich aktuell wieder zu Wort. Sie gibt gerade die erste Anthologie zum Thema heraus, die 40 Artikel verschiedenster Experten aus verschiedenen Nationen vereinigt (vgl. Naonoethics Anthology).

Im Vorwort umreißt der Forschungsdirektor der Gruppe, Patrick Lin, die Gründe für die Notwendigkeit einer Nanoethik. Auf der einen Seite steht eine Öffentlichkeit, deren Bild der Nanotechnologie nur allzu oft von Science-Fiction Horrorszenarien aus Romanen geprägt ist: Nanopartikel greifen als Schwarm Menschen an oder zerlegen ihre Umgebung komplett in grauen Schlamm (vgl. Grey goo.

Auf der anderen Seite stehen die Heilsversprechen und Visionen der Wissenschaftler und der Industrie, die künftige Nanobots prophezeien, die Umweltschäden bereinigen, uns vom Krebs heilen, oder wie die Replikatoren in der Fernsehserie Raumschiff Enterprise jedes gewünschte Produkt sofort für uns herstellen.

Sicherlich wird die viel beschworene kommende industrielle Revolution durch die Zwergentechnik unser Leben und unsere Realität nachhaltig verändern. Neue Chancen werden sich genauso ergeben wie ganz neue Gefahren. Deshalb macht es Sinn, verschiedene Szenarien zu entwerfen, wie eine Nano-Zukunft aussehen könnte und welche neuen Herausforderungen sie uns potenziell stellen wird. Einiges dabei ist Spekulation und wird es wahrscheinlich immer bleiben – anderes wird eintreten und uns genauso belästigen wie heute die vielen Spam-Mails oder ernsthaft bedrohen wie das einst als neue Wunderfaser gefeierte Asbest oder das wirkungsvolle Insektizid DDT.

Die letzte Revolution unseres Alltags brachte der Computer, keine Frage – aber er brachte auch ganz neue Probleme wie virtuelle Viren, Trojaner und Internet-Kriminalität, sowie ganz neue Fragestellungen in Sachen Urheberrecht. Nur einige Beispiele, aber sie verdeutlichen, warum es viel Sinn macht, sich jetzt Gedanken über die möglichen Folgen einer neuen Technologie zu machen.

Patrick Lin betont, dass die Konsequenzen neuer Technik in der Vergangenheit immer wieder unterschätzt oder völlig übertrieben wurden. Letztlich ergab sich dann stets vorab Ungeahntes, aber:

Die Zukunft nicht wirklich vorhersagen zu können, befreit uns nicht von der moralischen Verpflichtung die Sachverhalte zu untersuchen, die uns entweder plausibel oder besonders relevant erscheinen. Durch das enorme Tempo, in dem neue Technologien in unser Leben traten, können wir einschätzen, dass derartige Technologien gesellschaftliche Auswirkungen haben werden – gute und schlechte. Wenn wir aus der Geschichte lernen, dann gilt es nun zu verstehen, dass wir dafür verantwortlich sind, diese Szenarien vorab zu berücksichtigen, um Schäden zu begrenzen oder sogar die Vorteile zu maximieren. Der Diskurs über ethische und soziale Dimensionen der Nanotechnologie – die sogenannte Nanoethik – ist deshalb entscheidend, um die Entwicklung der Nanotechnologie zu lenken.