Physik und Tod und deutscher Taumel

Seite 3: Die deutsche Antwort auf "Oppenheimer"

Wenn wir uns in einem Grand Hotel in der Schweiz in verschneiter Berglandschaft aufhalten, darf man durchaus an den Zauberberg denken.

Man könnte hier von der Wiederverzauberung des Zauberbergs sprechen – auch weil viele von uns tatsächlich in einem Kino in den letzten Monaten schon einen Vorbereitungsfilm auf diesen deutschen Film gesehen haben.

Nämlich "Oppenheimer" von Christopher Nolan. Denn darin geht es ja nicht nur um den Bau der Atombombe, sondern auch um Kernphysik und Quantenmechanik und Kernspaltung, so wie hier.

Der angekündigte Vortrag über die Theorie von Allem meint natürlich mindestens den Glauben, dass man mit der Quantenmechanik so etwas wie die Weltformel gefunden hat.

Menschen, die daran glauben und daran forschen, sind vielleicht Genies. Vielleicht sind sie aber auch ein bisschen wahnsinnig. Und genau auf dieser Schwelle zwischen Genie und Wahnsinn bewegt sich der Film.

"Die Theorie von Allem" erscheint nicht weniger, als die deutsche Antwort auf Christopher Nolans "Oppenheimer" zu sein. Und der "Nolan-neskere" der beiden Filme. Weil ja Christopher Nolan tatsächlich die Methode hat, die Chronologie konsequent zu stören und aus dieser Störung heraus vollkommen neue Erzählweisen zu entwickeln.

Sein "Oppenheimer" ist allerdings ein ziemlich linearer Film, während der Film von Tim Kröger tatsächlich nicht so linear ist.

Beide handeln von der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte, Atomphysik und der Situation des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu Nolans Film erzählt Kröger aber nicht gradlinig, sondern verschachtelt, ambivalent, auf mehreren Ebenen – und zeigt eben damit die einmalige Macht des Kinos.

Die Leinwand gibt auch kompliziertesten physikalischen Formeln unmittelbar sinnliche Gestalt, sie hält Widersprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Überzeugungskraft.

Die Quantenmechanik ist die Theorie von Allem.

Einflüsse

Filmhistorisch und stilistisch ist "Die Theorie von Allem" eine Fundgrube für Filmkenner, die ihre soghafte Wirkung auch dadurch entfaltet, dass Zitate und Anspielungen integraler Teil des Bildertextes sind. Dies ist ein Paranoia-Thriller mit Mysteryelementen, stark vom Kino der 1940er- und 1950er-Jahre beeinflusst.

Namentlich von Carol Reeds "Der dritte Mann" und "Nachtzug nach München", ebenso wie von anderen Film-Noirs, sowie von polnischen Filmen des Kalten Kriegs (etwa Jerzy Kawalerowicz' "Pociaq" ("Nachtzug")). Kameramann Roland Stuprich gelingt ein prachtvolles Schwarzweiß, das Erinnerungen an den Film-Expressionismus wachruft.

Einflüsse von Hitchcock sind auch über die Verwendung bestimmter Musik-Stücke von Bernard Herman erkennbar, der Einfluss von Reitz' "Zweiter Heimat" ist so offensichtlich wie die der Filme von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, aber auch jener von David Lynch.

Viele andere Bezüge wird man ebenfalls finden. Die Charaktere, die diesen Film bevölkern, sind aber weniger Archetypen als moderne Menschen.

In der besonderen Sensibilität für wie dem Einsatz von Musik, als auch in den Verbindungen klassisch-zeitloser wie moderner Stil-Elemente zeigt sich bereits im zweiten Spielfilm Timm Krögers die unverwechselbare Handschrift dieses Regisseurs, der mit diesen beiden Filmen zu allen Hoffnungen Anlass gibt.

Das liegt daran, dass dieser Regisseur, aber keiner Schule oder erkennbaren Gruppe angehört, sein Filmemachen offensichtlich ernst meint, viel ernster als einige andere deutsche Kollegen.

Wege der Welterzeugung

Wie jedes gute Kino stellt dieser Film Sinnfragen. Er versucht in unterhaltsamer Form die Wirklichkeit zu begreifen und uns Auskünfte über sie zu vermitteln. Und er versucht, die Vergangenheit zu verstehen. Kröger, der diesen Film schon vor Jahren als zweiten einer Trilogie zum deutschen 20. Jahrhundert beschrieben hatte, holt geschichtsphilosophisch weit aus.

Er lässt vergangene Zeiten im Kino wiederauferstehen, aber als soghafte sinnliche Erfahrung, nicht nur historisch bebildert.

Es ist die Logik des Traums, die hier dominiert und die aus Leitmotiven ein immersives Gesamtbild komponiert.

Am Ende von "Die Theorie von allem" schreibt sich Kröger dann auf sehr originelle Weise in die deutsche Kinogeschichte ein, wie in die des europäischen Autorenfilms.

Das Publikum hört dann einen Off-Text, der die Geschichte des Protagonisten in einer möglichen Weise weitererzählt und der von dem Regisseur Dominik Graf gesprochen wird. Eine Art Nouvelle-Vague-Moment, ein Truffaut-Echo, zugleich in einer spezifisch deutschen Version.

Es lohnt sich übrigens unbedingt, diesen Film mehr als einmal zu sehen – man wird immer wieder einen neuen Film entdecken eben die Vielweltentheorie –, Timm Kröger betreibt Filmemachen als das, was Nelson Goodman die "Weisen der Welterzeugung" nannte; er ist ein Welterzeuger, ein Weltenbauer.