Reality Mining oder: Überwachung endet in der Erstarrung

Nach einer MIT-Forschungsgruppe für "Human Design" soll auch jede verbale Kommunikation von Angestellten erfasst werden, um die Effizienz eines Unternehmens zu steigern

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Das Evernet, mit dem jeder überall und zu jeder Zeit mit dem Netz verbunden ist, hat sicherlich einiges für sich. Manche haben daraus die positive Utopie eines globalen Gehirns, eines planetaren Superorganismus oder eines Kybionten abgeleitet, in dem die Individuen zu einzelnen Neuronen werden, die untereinander, aber auch mit künstlichen Wesen, Computern und allen smarten Dingen verbunden sind. Vernetzung aber heißt auch weniger Autonomie und steigende Überwachung und Kontrolle. Ein Beispiel ist der Übergang von "Data Mining" zu "Reality Mining", wie er von einer Arbeitsgruppe "Human Design" des MIT Media Lab angedacht wird (dt. Übersetzung: Data Mining in der echten Welt).

Media Lab research outlines a future where, mediated by technology as diverse as robotic assistants, artificial skin, and "viral" communications, innovation becomes the domain of all and is guided by human social, expressive, and intellectual activities.

Es gibt Forschungseinrichtungen wie das Media Lab des MIT, die aus Überlebensgründen permanent versuchen müssen, neue Technologien mit neuen Anwendungen zu erschließen. Dazu gehört natürlich auch, dass gelegentlich erst der Bedarf geschaffen werden muss, für den Technologien entwickelt werden. Was sich nicht durchsetzt, das wird einfach vom Markt aussortiert. Das Media Lab fördert, um die Innovation auch auf ungewöhnliche und überraschende Weise voranzubringen, vieles, was kaum je über anfängliche Entwicklungsphasen hinauskommt. Aber das gehört zum "Geschäft". Auf jeden Fall hat sich das Media Lab auf die Fahnen geschrieben, "die Lebensqualität im digitalen Zeitalter zu verbessern" und den Menschen zu helfen, "ihre eigenen Ausdrucksmittel zu schaffen". Das ist natürlich löblich, doch nicht immer ist das, was dem einen hilft, für den anderen auch eine Unterstützung, geschweige denn, dass es ihm gefallen müsste.

Schon jetzt kann ein Angestellter besser denn je überwacht werden. Mit dem Handy ist er immer ansprechbar und an der langen Leine, Überwachungskameras werden mehr und mehr gepaart mit (biometrischen) Zugangskontrollen, aber auch mit Sensoren bzw. Chips, um den jeweiligen Aufenthalt lokalisieren zu können. Am Computer kann nicht nur kontrolliert werden, welche Emails versendet oder empfangen, welche Websites besucht, sondern auch, welche Programme benutzt werden, wann und wie schnell gearbeitet wird, jeder Tastendruck ist erfassbar und auswertbar. Der Computernutzer wird zur Maus.

Das alles lässt sich in Form von Data Mining auswerten, was natürlich auch in Bezug auf das Aufspüren verdächtigen Verhaltens von potenziellen Terroristen derzeit hoch im Kurs steht. Es werden möglichst viele Daten erfasst, gesammelt, zusammen geführt und ausgewertet, was mit dem Fortschreiten der Digitalisierung und Vernetzung immer leichter wird, wobei ohne die richtigen Programme zur Auswertung allerdings auch Datenmüll entstehen kann. Zwar wurde angeblich aus humanitären Gründen die irakische Diktatur militärisch überrannt, aber offenbar scheint der kapitalistische Markt nach dem Ende der autoritären Staaten des Ostblocks durch den neuen Feind des Terrorismus verstärkt eben jene Werkzeuge der Überwachung und Kontrolle zu fabrizieren, die Diktaturen immer gerne gehabt hätten - und wohl immer noch wie beispielsweise im Fall von China gerne haben, um Störenfriede zu erkennen und zu bestrafen (Amnesty weist auf einen Anstieg der Internetrepression in China hin).

Rasterfahndung auch in Gesprächen

Wie auch immer, die Human-Design-Forschungsgruppe am MIT Media Lab hat nun die Idee entwickelt, wie man auf einfache Weise neue Daten zusätzlich sammeln könnte, um Informationen über die Mitarbeiter einer Firma zu erhalten. Natürlich alles nur zum guten Zweck, die Effizienz des Unternehmens zu steigern. Als "außerordentlich wertvolle Quelle zum Teamaufbau und zum Wissensmanagement" sollen nämlich alle sprachlichen Äußerungen der Mitarbeiter erfasst werden, wozu beispielsweise die Mikrofone von Handys und PDAs dienen könnten, die sowieso schon fast jeder besitzen würde.

Die Erfassung des Gesagten sei schon deswegen wichtig, weil Studien über das Verhalten im Büro gezeigt hätten, wie Alex Pentland, Gründer und Direktor der Human Design-Forschungsgruppe, schreibt, "dass bis zu 80 Prozent der Arbeitszeit aus Gesprächen bestehen und dass entscheidende Informationen sich eher mündlich verbreiten". Es wäre interessant zu erfahren, in welchen Unternehmen welche Angestellten nur 20 Prozent ihrer Arbeitszeit nicht redend verbringen, da sich die Studien sicherlich nicht allein auf Call-Center und ähnliche Einrichtungen beziehen. Zutreffen wird vermutlich schon, dass "entscheidende Informationen" sozusagen von Mund zu Mund, auch in Form von Tratsch und Gerüchten, sich verbreiten.

Überwacht werden soll, wer was macht und wer was mit wem spricht. So lassen sich Profile von einzelnen, Gruppen und sozialen Beziehungen anlegen

Das neue Reality Mining erlaubt das Anlegen von Profilen, die sich aus Gesprächen, E-Mails, Bewegungsdaten und Web-Benutzung speisen.

Nur unter dem Aspekt der besseren Organisation des "Humankapitals" formuliert Pentland dann Rasterfahndungsvorstellungen, die alle düsteren Ahnungen von der schönen, neuen Welt der allseitigen Überwachung bestätigen:

Auch das Wissensmanagement könnte durch die Erfassung persönlicher Informationen vorangetrieben werden. Dies wäre beispielsweise durch tragbare und nicht störende Sensoren möglich, die Dinge wie den Tonfall oder die Körpersprache aufzeichnen. Das Resultat zeigt Managern, wer mit wem zusammenarbeitet und wie die Beziehungen zwischen Kollegen sind. Eine Datenbank mit Arbeitnehmerprofilen zeigt dann schnell Veränderungen im Verhalten bei der E-Mail- und Sprachkommunikation.

Für Pentland könne man mit den so gewonnen Daten beispielsweise soziale Netzwerke simulieren, um so vorauszusehen, was passiert, wenn zwei Gruppen fusioniert werden sollen. Wenn also, so ließe sich auch auslegen, verschlankt wird, lassen sich die Problemindividuen schon einmal herauspicken, um einen effizienteren Teamaufbau herzustellen: Reality Mining also als Social Engineering.

Überwachung führt eher zu Erstarrung als zur angezielten Effizienzsteigerung

Ganz kurz erwähnt Pentland sogar, dass man dabei "aber auch die Privatsphäre" sicherstellen müsse. Die Angestellten sollten "immer die Kontrolle über ihre Daten behalten", wie das geschehen soll, wenn das Management eben diese Daten benutzen will, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Seine Lösung ist womöglich, dass er vorschlägt. dass auch die "die Interaktionen der Manager Teil des Systems sein" müssen: "Wenn ein Angestellter dem Verhalten seines Chefs auf den Zahn fühlen kann, hat er auch weniger Probleme damit, sein eigenes Verhalten offen zu legen." Das mag vielleicht in einer kleinen Forschungsgruppe, die weitgehend ohne Hierarchie auskommt, auch nur vielleicht möglich sein, ist aber doch wohl allgemein wohlwollend als Naivität, realistisch eher als Beruhigungstaktik angesichts des innerbetrieblichen Geheimdienstes zu verstehen. Zumindest müsste neben der gleichen Transparenz auch die Gleichberechtigung stehen. Das aber ginge Portland wohl doch zu weit, der sein künftiges System wahrscheinlich nicht an die einzelnen Angestellten, sondern an die Unternehmen verkaufen will.

Vielleicht aber sollten sich Alex Pentland und Human Design-Forschungsgruppe auch einmal fragen, ob eine grenzenlose Überwachung, wie sie Diktaturen immer gerne gehabt hätten, tatsächlich "das Funktionieren einer Organisation" entscheidend verbessert (geschichtliche Beispiele legen eher das Gegenteil nahe, nämlich dass Überwachung zur Erstarrung führt). Zunehmende Überwachung wird vermutlich die Heimlichtuerei, die Unehrlichkeit, das Spiel auf der Bühne, das Simulieren dessen, von dem man erwartet, dass es gut ankommt, noch sehr viel stärker als in den bislang existierenden Organisationsstrukturen hervorbringen und persönliche Kommunikation und Verständigung weitgehend reduzieren - es sei denn, die Big-Brother-Generation sieht die Transparenz gerade als Chance, durch forcierte Aufmerksamkeit das große Los ziehen zu können.

Was Pentland und die Seinen wahrscheinlich aufzeichnen wollen, das spontane, nicht stets auf Bewertung schielende Gerede in Gruppen "unter sich", das Leben jenseits der Öffentlichkeit und der Beobachtung durch die Chefs, wird schnell erlöschen und so die Überwachung als kontraproduktiv erweisen, zumindest wenn sie nicht im Gefängnishof stattfindet. Trotz aller noch bestehenden technischen Schwierigkeiten, das angedachte "Reality Mining" auch wirklich realisieren zu können, so sind solche Technologien einfacher zu entwickeln - und vielleicht auch zu verkaufen - als Modelle kreativer Gruppen von freien Individuen, die etwas leisten wollen. So wird die Propagierung von fortgeschrittenen Technologien gleichzeitig zu der von wahrhaft reaktionären Strukturen