Rechtliche Manöver und vollmundige Versprechungen
US-Regierung unterläuft mögliches Urteil des Supreme Court
Weltweit hat die frühere US-Regierung unter George W. Bush Menschen verschleppt und als „feindliche Kämpfer“ an zumeist geheimen Orten ohne Anklage festgehalten und unter Folter verhört, darunter auch US-Bürger und legale Bewohner der USA. Im Wahlkampf hatte US-Präsident Barack Obama versprochen, diese illegale und kriminelle Praxis seines Vorgängers zu beenden. Nun versucht seine Regierung in einem durchsichtigen Manöver, eine Verurteilung dieser Politik durch das höchste amerikanische Gericht, den US Supreme Court, zu verhindern. Das steht in offenkundigem Widerspruch zur offiziellen Anordnung des Präsidenten, „alle militärischen Inhaftierungen weltweit umfassend zu überprüfen“
.
Um das Risiko einer ungünstigen Entscheidung des höchsten US-Gerichts auszuschließen, das den Präsidenten möglicherweise in seiner Machtausübung behindern könnte, ergriff das US-Justizministerium im Fall des letzten in den USA inhaftierten "feindlichen Kämpfers" Ali Saleh Kahlah Al-Marri nun die Initiative. Vor einem Bundesgericht in Peoria, Illinois beschuldigten zwei Bundesankläger Al-Marri am 27. Februar, die Terrororganisation Al-Qaida materiell unterstützt und sich zu diesem Zweck mit anderen verschworen zu haben, was beides mit Gefängnis von jeweils 15 Jahren bestraft werden kann. Die zweiseitige Anklageschrift präsentierte allerdings keinerlei Beweise, die diese Anschuldigungen erhärtet hätten.
Noch am gleichen Tag beantragte der bevollmächtigte Vertreter des Justizministers, Edwin Kneedler beim US Supreme Court, das Verfahren im Fall Al-Marri einzustellen. Da die US-Regierung gegen Al-Marri Anklage in einem Strafverfahren erhoben habe, so seine Begründung, sei die strittige Frage, ob der Präsident das verfassungsmäßige Recht habe, Menschen in den USA unbegrenzt und ohne Anklage gefangen zu halten, hinfällig geworden.
Al-Marri, ein aus Katar stammender Student und im Besitz eines legalen Studenten-Visas für die USA, war im Dezember 2001 in seiner Wohnung in Peoria, Illinois, festgenommen worden. Er wurde als wichtiger Zeuge im Rahmen der Ermittlungen zu den Terroranschlägen vom 11. September festgehalten und in der Folge vor einem Zivilgericht verschiedener Verbrechen bezichtigt, darunter Scheckkartenbetrug und falscher Angaben gegenüber der Bundespolizei FBI. Er dementierte all diese Beschuldigungen vehement. Der Verdacht, er gehöre zu Schläferzellen der Terrororganisation Al-Qaida konnte niemals erhärtet werden. Im Juni 2003 – einen Monat vor dem Beginn seines Strafverfahrens – erklärte ihn George W. Bush plötzlich zum „feindlichen Kämpfer“ und wies das US-Militär an, Al-Marri den zivilen Behörden abzunehmen und in Militär-Gewahrsam zu überführen (Ausländer in den USA können zu feindlichen Kämpfern erklärt werden).
Seither sitzt der Mann aus Katar in Haft in einem Militärgefängnis in Charleston, South Carolina, in Einzelhaft, ohne dass die US-Regierung Anklage gegen ihn erhoben und ihm die Gelegenheit eingeräumt hätte, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen. Während dieser Zeit wurde Al-Marri Folter und anderen Misshandlungen unterworfen, annährend sechs Jahre lang wurde ihm nicht gestattet, seine Frau und seine Kinder zu sehen und sein einziger Kontakt zur Außenwelt bestand in den Gesprächen mit seinen Anwälten.
Im Juli 2008 hatte ein US-Berufungsgericht („Fourth Circuit Court of Appeals“) mit der knappen Mehrheit von 5:4 Stimmen der US-Regierung das Recht zugestanden, dass es Al-Marri ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf unbegrenzte Zeit festhalten darf. Zur Überprüfung dieser Entscheidung, die dem US-Präsidenten quasi-diktatorische Vollmachten einräumt, hatten Al-Marris Anwälte daraufhin den US Supreme Court angerufen.
Das Verhalten der Obama-Regierung im Fall Al-Marri gleicht demjenigen der Bush-Administration im Fall von Jose Padilla, des US-Bürgers, der im Mai 2002 auf dem Internationalen Flughafen O’ Hare von Chicago nach seinem Rückflug aus Pakistan festgenommen worden war. Padilla wurde öffentlichkeitswirksam beschuldigt, in Pläne zum Anschlag mit einer „schmutzigen Bombe“ verwickelt zu sein (Endlich ein Erfolg für US-Justizministerium, CIA und FBI). Auch Padilla wurde als wichtiger Zeuge der Terroranschläge vom 11. September festgehalten. Als Padilla über seinen Anwalt seine Inhaftierung anfocht, erklärte ihn Bush kurzerhand zum „feindlichen Kämpfer“ (Das Recht auf Willkür im Krieg). Er wurde dreieinhalb Jahre ohne Anklage im selben Militärgefängnis festgehalten wie Al-Marri.
Fortsetzung der Politik der Bush-Regierung
Im September 2005 hatte ein aus drei Richtern bestehendes Gremium desselben Berufungsgerichts wie im Fall Al-Marri entschieden, der Präsident habe die Autorität, auch US-Bürger auf amerikanischem Grund und Boden zu arretieren und sie für unbegrenzte Zeit ohne Anklage wegsperren zu lassen. Der US Supreme Court weigerte sich nur deshalb, diese Entscheidung des Berufungsgerichts zu überprüfen, weil die US-Regierung Padilla nach dreieinhalb Jahren ungesetzlicher Haft schließlich doch eines Verbrechens anklagte.
Drei höchste Richter allerdings, Stephen Breyer, Ruth Bader Ginsburg und David Souter, befanden, das höchste US-Gericht hätte Padillas Fall dennoch verhandeln müssen. Es „betrifft eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung für die Nation“, sagte Ginsburg.
Während Al-Marris Anwalt Jonathan Hafetz die Anklage gegen seinen Mandanten als „wichtigen Schritt zur Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts (rule of law)“ begrüßte, bezeichnete Jonathan M. Freimann, Padillas Rechtsanwalt in New Haven, Al-Marris Überstellung vor ein ziviles Gericht „einen kalkulierten politischen Schritt zur Vermeidung einer Stellungnahme“ der US-Regierung vor dem höchsten Gericht. Was die Bush-Administration mit Padilla getan hat, versucht die Obama-Regierung nun auch mit Al-Marri zu tun. Die Verlegung Al-Marris aus einem Militärgefängnis ist richtig. Der Versuch, den Fall vor dem US Supreme Court niederzuschlagen, ist es nicht“, sagte er.
Wie seinerzeit die Bush-Administration will auch die Obama-Regierung offenbar ein Urteil des höchsten US-Gerichts verhindern, das feststellt, der US-Präsident habe nicht die Macht, Bürger und legale Bewohner der Vereinigten Staaten für unbegrenzte Zeit ins Gefängnis zu werfen und ihnen das Recht auf einen ordentlichen Prozess zu verweigern. Beobachter in den USA halten es für wahrscheinlich, dass die der politischen Rechten zuzuordnende Mehrheit des Supreme Court im Fall Al-Marri die gleiche Position einnehmen wird wie seinerzeit im Fall Padilla: dass sich das höchste US-Gericht also auf den von der US-Regierung angestrebten juristischen Kuhhandel einlassen und das von dieser nachträglich eingeleitete Strafverfahren als hinreichendes Argument akzeptieren wird, um über den zuvor erfolgten massiven Verfassungsbruch nonchalant hinwegzusehen.
Die Position des Justizministeriums unter Präsident Barack Obama im Fall Al-Marri ist nur ein Glied in einer Kette ähnlicher Aktionen, mit denen die neue US-Regierung die Politik der Bush-Administration vor einer Überprüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch die US-Gerichtsbarkeit schützt. So hat die Regierung im Februar vollständig die Position der Bush-Administration übernommen, als sie die Klage von vier Personen erwiderte, die man sechs Jahre lang ohne Anklage im US-Gefängnis auf der Militärbasis Bagram in Afghanistan gefangengehalten hatte. Wie die Vorgängerregierung argumentierte nun auch die Obama-Administration, die Gefangenen hätten kein Recht, gegen ihre Inhaftierung vor US-Gerichten zu klagen (Gitmo: Alles bestens, Bagram-Gefängnis: Keine Änderungen).
Zweimal benutzte das Justizministerium im vergangenen Monat angebliche „Staatsgeheimnisse“ als Vorwand, um Anklagen abweisen zu lassen. Der erste Fall betraf das „extraordinary rendition“-Programm der CIA (Obama will Verschleppungen weiter zulassen), der zweite die illegalen Abhöroperationen der National Security Agency (NSA). In diesem zweiten Fall, in dem es um die ungesetzliche Verwanzung von zwei US-Rechtsanwälten und eine islamische Wohltätigkeitsorganisation ging, hat ein Bundesgericht in San Francisco diese Argumentation der Regierung zurückgewiesen. Der 9th US Circuit of Appeals entschied, dass den Anwälten unter Sicherheitsbedingungen Zugang zu als geheim eingestuften Dokumenten gewährt werden muss. Die Berufung der Regierung auf „Staatsgeheimnisse“ ist in diesem wie in anderen Fällen so absurd wie heuchlerisch. Den Beweis für die illegale NSA-Abhöraktion lieferte die Regierung durch die unbeabsichtigte Veröffentlichung eines entsprechenden Dokuments nämlich selbst.