Retromania

Simon Reynolds über "anything goes"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn nichts mehr geht und der soziale und politische Fortschritt ausbleibt versenkt sich nicht nur der hegelsche Geist in der Vergangenheit. Wo aber kein Fortschritt in der Kunst stattfindet, wird selbst die Popkultur museal oder gerät zum Entertainment oder zum Event. Nun ist sogar der Klassiker des Sporthemds, das Fred Perry-Shirt postmodern geworden und suhlt sich eklektizistisch in der subkulturellen Geschichte. Zum Beispiel gibt es jetzt ein Fred Perry-Punkhemd und ein Northern Soul-Shirt im Angebot. Der Pop-Journalist und Buchautor Simon Reynolds hat in Retromania für dieses flächendeckende Phänomen eine Theorie entwickelt.

Herr Reynolds, Ihr Buch dreht sich darum, dass sich die Popkultur, vor allem die Popmusik, mehr nach rückwärts als nach vorwärts orientiert. Was sind die Gründe hierfür?

Simon Reynolds: Dafür gibt es eine Menge Gründe. Ein Grund allein ist bereits das Alter von Popmusik: Seit Elvis zählen wir mittlerweile auch schon 50 Jahre. Da ist viel passiert, eine Masse Stile sind aufgekommen und wieder verschwunden, es wurden unzählige Bücher darüber geschrieben und so gäbe es für junge Bands erst einmal Unmengen von Liedern und Büchern zu konsumieren, bevor sie sich an etwas Neues machen könnten. Es ist wirklich schwer, heutzutage noch einen neuen und innovativen Stil zu finden.

Sogar die schwierigen und lärmenden Avantgarde-Sachen, die es heutzutage gibt, können inzwischen auf eine eigene Geschichte zurückblicken Auch Rockmusik hat ein seriöses Alter erreicht und ebenso ergeht es dem Jazz: Es gab Free Jazz, Fusion und viele extremen Richtungen und Weiterentwicklungen, aber heutzutage wird Jazz eher wie klassische Musik behandelt. Da ist es doch durchaus verständlich, wenn sich junge Bands von vornherein der Vergangenheit zuwenden, die phasenweise ja von einem großen Ideenreichtum geprägt war.

Ein anderer Faktor ist das Internet. Seitdem ist Pop in seinen vielen vergangenen Spielarten viel besser verfügbar. Bei YouTube und über Filesharing ist alles kostenlos erhältlich. Die Chancen stehen also gut, dass eine junge Band viel mehr alte Musik hört als in den Siebzigern und 80ern. Man ist heutzutage überladen mit Geschichte und Vergangenheit. Und wie gesagt wird es immer schwieriger, etwas Neues zu schaffen.

"Außer hedonistischen Elementen wenig politische Inhalte"

Aber gibt es nicht auch politische und soziale Gründe für diese Entwicklung? In Münchner Popmarxistenkreisen ist man sich mittlerweile einig, dass Margret Thatcher die englische Popmusik umgebracht hat. Denn wenn man sich die englische Popmusik in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern ansieht, wie viele unglaublich gute und zumindest unterschwellig politische Bands gab es da, nicht nur die Specials, sondern auch Orange Juice, Human League et cetera. Es ist gut möglich, dass zwei Drittel der englischen Popszene damals Trotzkisten waren. Sogar Orchestral Manoeuvres In The Dark waren seinerzeit Mitglieder der Kommunistischen Partei. Aber als klar geworden war, dass Margret Thatcher die Arbeiterklasse platt gemacht hat, war es vorbei mit der schönen Zeit im britischen Pop ...

Simon Reynolds: Ich denke, dass das nicht schon so früh passiert ist. Eine Menge Gruppen, von denen Sie gerade gesprochen haben, haben sich künstlerisch auf die 60er Jahre bezogen. Ich glaube aber nicht, dass sie deswegen gegen Thatcher rebelliert und eine 60s-Welt mitsamt ihrer Werte haben wollten. Die Smiths zum Beispiel haben sich ziemlich altmodisch angehört, aber die Werte von Morrissey waren progressiv und die Smiths haben sich gegen Thatcher aufgelehnt.

Andererseits waren alle die Elektronik- und Techno-Acts in den 90ern echt zukunftsorientiert, hatten allerdings bis auf die hedonistischen Elemente wenig politische Inhalte. Es wurde nicht mehr gegen die Gesellschaft rebelliert, wie bei den Punks oder den Hippies. Es war mehr so eine Art Eskapismus: Das Leben ist hart, lasst uns entfliehen in eine Art Wunderland aus Musik, Drogen, Liebe und Frieden. Aber es gab seit Rave und Techno und zuvor Hip Hop und Punk auch keine große musikalische Bewegung mehr. Wenn man sich die letzten 10 Jahre in der Popmusik ansieht, gab es keine echte Innovation in Musik, Kleidung, Benehmen ...

"Richtung Abgrund"

Ja, aber hängt das nicht mit der sozialen Entwicklung zusammen? Da sich die Zukunft tatsächlich nicht sehr strahlend präsentiert, die soziale Durchlässigkeit drastisch abgenommen hat und man sich immer weniger an einer sozialen Bewegung orientieren kann, braucht es auch keine Distinktionsunterschiede mehr, die man aus Sub- und Popkultur bezieht ...

Simon Reynolds: Ich denke, einer der Gründe, warum die Leute heutzutage in die Vergangenheit blicken, ist in der Tat der, dass es ihnen unmöglich scheint, sich ein positives Bild von der Zukunft zu machen. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart - aber das war immer ein tragender Bestandteil der Pop-Kultur. Als ich aufgewachsen bin, in den 70ern, gab es immer noch massive Einflüsse aus den 60ern, welche die Zukunft thematisierten. Es gab Science Fiction und auch die Musik wie Punk, New Wave und Post-Punk beschäftigte sich mit Wandel und Zukunft.

Heutzutage gibt es die Überzeugung, es gebe einen Wandel nicht mehr. Oder wenn dann nur in Richtung Abgrund. Die ganzen Hollywood-Streifen beschäftigen sich zwar mit der Zukunft, aber nur noch in Form von Desastern und Katastrophen.

Aber Sie haben vorhin die Specials genannt. Die Specials waren ja auch seinerzeit Teil eines Revivals, des Ska-Revivals. Und das brachte viel Interessantes hervor: Madness, die Specials, The Beat waren richtig cool wiederholten nicht nur die Musik von damals. Auch die Texte behandelten die Gegenwart. Andere Revivals waren da nostalgischer, wie das Teddyboy-Revival von 1977. Retro hat also selber eine Geschichte.

Sehen Sie eine Möglichkeit, dass diese Entwicklung abbricht und sich die Dinge wieder in eine bessere Richtung ändern?

Simon Reynolds: Na ja, ich höre wirklich gerne Dubstep, das eine populäre, großartige, lärmende, aggressive, extreme aber auch eine aufregende und auf seine Art feierliche Musik ist. Das hat aber nur noch Bass-Drums und keine politische Botschaft mehr.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.