Rolf Mützenich zu schwarzer Liste aus Kiew: "Persönlich schon etwas, was mich noch beschäftigt"

Dietmar Ringel, Rolf Mützenich

Aus Kiew beobachtet: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Bilder: Gudrun Krause / Juergen Nowak, Shutterstock.com

Der SPD-Fraktionsvorsitzende über Krieg und Diplomatie. Über seinen Genossen Boris Pistorius. Und über Meinungsfreiheit im Krieg. Ein Telepolis-Interview.

Ich treffe den Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich, am Rande einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 12. Juni 2024 in Neuruppin, Brandenburg.

▶ Guten Tag, Herr Mützenich.

Rolf Mützenich: Guten Tag, Herr Ringel.

▶ Thema dieser Veranstaltung ist "Deutschland in der Zeitenwende – Suche nach Stabilität und Sicherheit". Und in der Ankündigung heißt es, wegen des anhaltenden Krieges in der Ukraine und der Gefahr einer weiteren Eskalationsspirale gewinne deeskalierende Diplomatie wieder an Bedeutung. Ist das ein Wunsch, oder sehen Sie tatsächlich Anzeichen dafür?

Rolf Mützenich: Es ist beides, weil man auf Diplomatie nicht verzichten kann. Und zum anderen ist mit der bald stattfindenden Konferenz in der Schweiz auch zumindest die Chance dafür da.

Diese Konferenz ist die Fortführung von verschiedenen Formaten, über bestimmte Dinge in der internationalen Gemeinschaft zu reden. Da werden nicht alle dabei sein, Russland nicht, das die Aggression gegen die Ukraine vor über zwei Jahren begonnen hat.

Aber auf der anderen Seite scheint es ja so zu sein, dass ein Teil der internationalen Gemeinschaft Interesse an nuklearer Sicherheit, an humanitären Fragen wie Gefangenenaustausch und an Ernährungssicherheit hat. Und wenn man darauf dann noch etwas anderes aufbauen kann, ist das zumindest eine Möglichkeit, der Diplomatie ein stärkeres Gewicht zu geben.

▶ Nun haben Sie schon erwähnt, Russland wird dort nicht vertreten sein. Wie kann man denn eine Friedenskonferenz führen, wenn einer der maßgeblich Beteiligten an einer Lösung nicht dabei ist. Ohne Russland wird es ja keine Lösung geben. Man hat Russland offenbar auch gar nicht eingeladen.

Rolf Mützenich: Man hat es nicht eingeladen, und deswegen werde ich auch nicht von einer Friedenskonferenz sprechen, sondern von einem Treffen, von einem Teil der internationalen Gemeinschaft, die versucht, auf diesen Krieg Einfluss zu nehmen.

Vertrauen aufbauen

Und zwar mit Fragen, die auch in der Vergangenheit schon eine Rolle gespielt haben, die man aber jetzt vielleicht noch stärker nutzen muss, um überhaupt Vertrauen aufzubauen. Präsident Putin hat bisher zumindest öffentlich nicht signalisiert, dass er an solchen internationalen Konferenzen und einem Ende des Krieges ein Interesse hat.

Umso wichtiger ist es zur Zeit, Länder zu finden, die nicht wie Deutschland oder andere Partei für die Ukraine sind, sondern die sich etwas abseits halten, einen anderen Blick auf den Krieg haben. Und wenn die zumindest in Teilen auch in der Schweiz vertreten sind, kann es eine Chance geben, um vielleicht bei der nächsten Konferenz eine Einladung auch an Russland auszusprechen.

▶ Sie sagen, Russland zeige kein Interesse an einer solchen Verhandlungslösung. Aber man muss dazu sagen, der ukrainische Präsident Selenskyj, der die Konferenz initiiert hat, hat gesagt, Russland soll nicht dabei sein. Ist das wirklich eine gute Voraussetzung, oder wäre es nicht sinnvoller gewesen, wenigstens den Versuch zu starten, mit Russland in Kontakt zu kommen?

Rolf Mützenich: Ja, aber es gibt auch die Möglichkeit, parallel dazu in anderen Formaten das eine oder andere zu besprechen.

Rede stark auf Diplomatie orientiert

Und die Rede von Präsident Selenskyj in dieser Woche im Deutschen Bundestag hat sehr deutlich gemacht, dass er auf der einen Seite weiterhin erwartet, das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine durch die Unterstützung anderer Länder zu erreichen, wie sich das aus der Charta der Vereinten Nationen ergibt.

Aber auf der anderen Seite war die Hälfte seiner Rede auch sehr stark auf Diplomatie orientiert. Eigentlich eine deutlich andere Nuance als noch in der Vergangenheit.

▶ Selenskyj hat im Deutschen Bundestag aber auch gesagt, sein Land werde den Krieg gegen Russland zu seinen Bedingungen beenden. Die Zeit für Kompromisse, so Selenskyj, sei vorbei. Wie passt das zu dem, was Sie gerade gesagt haben?

Rolf Mützenich: Das wird mit Sicherheit am Ende noch mal zu bewerten sein. Aber es ist natürlich schon so, dass jemand, der ein Land politisch vertritt, das von einem anderen Land überfallen worden ist und dessen Grenzen verschoben werden sollen, dessen Regierung gestürzt werden soll, dass er in einer so öffentlichen Rede vielleicht auch aus innenpolitischen Gründen zu anderen Folgerungen kommt.

Territoriale Integrität "nach und nach" wiederherstellen

Ich fand schon interessant, dass er auch darauf hingewiesen hat, dass die territoriale Integrität und Souveränität gemessen am Völkerrecht auch "nach und nach" hergestellt werden kann. Das deutet an, dass es einen sukzessiven Prozess gibt.

Ich gehöre zu denen, die oft, und wie ich finde, etwas übertrieben angegriffen wurden, weil sie sich für mehr Diplomatie ausgesprochen haben. Nun hören wir, dass dieses Wort mittlerweile auch von Vertretern wie Präsident Selenskyj genutzt wird. Und das finde ich auch richtig.

▶ Im Westen werden Stimmen lauter, die ein direktes Eingreifen der NATO in den Krieg gegen Russland fordern. Der französische Präsident Macron hat gesagt, möglicherweise könne man französische Truppen in die Ukraine schicken. Dann gibt es Forderungen auch von deutschen Politikern, den ukrainischen Luftraum von angrenzenden Nato-Ländern aus zu schützen. Sie sagen zu diesem letzten Vorschlag, er sei brandgefährlich. Warum?

Rolf Mützenich:: Das ist einfach leichtfertig, weil das natürlich genau das Bild von Präsident Putin bedienen würde, wonach dieser Krieg nicht nur deswegen geführt werde, weil die Nato sich aus seiner Sicht zu nah an Russland bewegt hat, sondern dass die Nato auch unmittelbar Kriegspartei geworden sei.

Nato soll sich raushalten

Bisher war es immer so, dass zumindest US-Präsident Biden, aber auch der deutsche Bundeskanzler, gesagt haben, die Nato und auch die einzelnen Nato-Mitglieder ließen sich nicht in diesen Krieg verwickeln. Genau dazu würde ich auch weiterhin raten.

Andernfalls würde es bedeuten, dass wir uns dann unmittelbar im Krieg befinden. Und ich finde, diejenigen, die mit diesen Fragen spielen, sollten dann auch der Öffentlichkeit nichts vormachen und sagen, dass sie für eine Kriegsbeteiligung der Nato eintreten.

▶ Sie sagen, man solle sich nicht in diesen Krieg hineinziehen lassen. Der Bundeskanzler hat vor Kurzem dann aber doch befürwortet, dass Nato-Waffen, die auch deutsche Waffen sein können, gegen Ziele auf russischem Gebiet eingesetzt werden dürfen. Scholz war lange dagegen und hat am Ende doch zugestimmt. Ist das nicht ebenso brandgefährlich?

Rolf Mützenich: Es ist auf jeden Fall wichtig, dass er eine Risikoabwägung gemacht hat. Und wir dürfen auch nicht unterschätzen, dass von russischem Staatsgebiet aus das ukrainische Charkiw unterschiedslos angegriffen wurde. Nicht nur, was militärische Ziele betrifft, sondern insbesondere zivile Ziele.

Recht auf Schutz vor Angriffen

Und dass es auch das Recht gibt, sich vor solchen Angriffen zu schützen. Das, glaube ich, bestreiten nur ganz wenige. Und in dem Moment, in dem US-Präsident Biden seine Meinung diesbezüglich geändert hat, haben sich weitere westliche Staats – und Regierungschefs dieser Haltung angeschlossen.

Gleichzeitig muss man wissen, dass die Ukraine bei den Waffen, die aus Deutschland geliefert wurden, nur einen geringen Radius hat, mit dem sie operieren kann. Außerdem hat die Ukraine unabhängig von dieser neuen Festlegung auch in der Vergangenheit bereits auf russisches Staatsgebiet eingewirkt.

▶ Sie haben vorhin schon erwähnt, dass Sie häufig dafür kritisiert worden sind, dass sie auch diplomatische Schritte und Mäßigung gefordert haben. Besonders viel Kritik gab es für Ihre Bemerkung, es wäre sinnvoll, auch darüber nachzudenken, den Krieg einzufrieren, um ihn später zu beenden. Da gab es heftige Kritik auch aus ihrer eigenen Partei. Boris Pistorius zum Beispiel, der Verteidigungsminister, hat gesagt, das würde am Ende nur Putin helfen. Wie gehen Sie mit solcher Art Kritik um?

Rolf Mützenich: Damit muss man innerlich umgehen. Manches, was ich innerlich erlebt habe, muss ich nicht nach außen kehren. Aber ich habe mich schon darüber gewundert, dass meine Bemerkung für so viel Wirbel gesorgt hat.

Entscheidungsraum des Bundeskanzlers

Ich habe gesagt, dass sich aus meiner Sicht die deutsche Debatte eine sehr lange Zeit allein mit der Frage von Waffenlieferungen befasst hat, und diese Debatte vorwiegend deswegen geführt wurde, um den Raum für politische Entscheidungen des Bundeskanzlers deutlich einzuschränken.

Und dass ich als Fraktionsvorsitzender der größten Regierungsfraktion auch mal eine andere Frage stellen würde. Überrascht hat mich offen gestanden, dass allein die Frage, eine andere Richtung in der Debatte zu führen, ohne zu sagen, genau das sei die Lösung, so verhetzt wurde.

Kritik an Koalitionsparteien

Das kam nicht aus meiner Partei, aber leider aus Koalitionsparteien. Und da finde ich schon, das sollte sich ein Land, das eine Demokratie ist und in dem es plurale Meinungsbildung gibt, so nicht leisten.

Ohne die SPD-Fraktion wären in den vergangenen Jahren nicht so viele Milliarden für Waffen, für humanitäre Hilfe, für Finanzhilfe und Aufbau, aber auch für die Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine geflossen.

Das lasse ich mir nicht nehmen und auch nicht vorhalten. Zudem glaube ich, dass Kriege am Ende nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden, sondern am Verhandlungstisch. Insbesondere braucht man den Verhandlungstisch, wenn man nicht noch weitere Eskalationsrisiken, spricht den Einsatz noch stärkerer Waffen, riskieren will.

▶ Noch heftigere Kritik kam von ukrainischer Seite. Dort gab es sogenannte schwarze Listen vermeintlicher Feinde der Ukraine. Da wurden sie auch aufgeführt, auch andere deutsche Politiker und Vertreter der Öffentlichkeit. Diese Listen wurden dann zwar nicht mehr online gestellt. Manche sind aber doch noch zu finden. Ist das Kapitel für Sie beendet?

Rolf Mützenich: Öffentlich, ja. Persönlich ist das aber schon etwas, was mich manchmal noch beschäftigt.

▶ Es gibt eine Internetplattform, die sogar von staatlichen Stellen der Ukraine betrieben wird. Da geht es um angebliche Desinformation, und es werden auch deutsche Medien beschuldigt. Zum Beispiel der Leiter des ZDF-Büros in Moskau, der einen Bericht aus Mariupol gemacht hat. Oder die Berliner Zeitung, die über die Verletzung der Pressefreiheit in der Ukraine berichtet hat. Wäre da nicht die deutsche Politik gefordert, sich einzuschalten?

Rolf Mützenich: Ja, in der Tat. Und ich hoffe, dem wird das Auswärtige Amt auch gerecht werden. Aber dafür bedarf es letztlich des politischen Willens. Mir ist allerdings nicht zur Kenntnis gelangt, dass für die Vorwürfe gegenüber deutschen Politikern oder Nichtregierungsorganisationen oder Medienvertretern auch mal ein Gespräch mit dem ukrainischen Botschafter geführt wurde. Andererseits muss ich natürlich auch immer wieder sehen, dieses Land ist überfallen worden, hat Tausende Tote zu beklagen.

Es gibt eine große Zahl von Flüchtlingen. Da kann es manchmal auch ein Übermaß an Kritik geben, aus dieser Situation heraus. Wichtiger ist aber aus meiner Sicht, immer wieder darauf zu achten, welche Verbrechen möglicherweise durch die Kriegsführung begangen werden.

Da ist hauptsächlich natürlich Russland im Blick. Aber es kommt auch immer wieder vor, dass die internationale Staatsanwaltschaft Berichte zumindest prüft, die auch das Vorgehen ukrainischer Streitkräfte betreffen. Das ist für mich der Maßstab. Und weniger das, was vielleicht mal aus der einen oder anderen Ecke kommt.