Russlands Luftangriffe überfordern ukrainische Flugabwehr trotz Nato-Unterstützung

Shahed-Drohne greift Ziel in einer ukrainischen Stadt an.

(Bild: Anelo / Shutterstock.com)

Russland intensiviert Luftangriffe auf die Ukraine. Nato verspricht neue Flugabwehrsysteme. Doch reichen die Abfangraketen für eine effektive Verteidigung?

Russland setzt seine strategische Luftkampagne mit unverminderter Härte fort. In der Nacht zum 8. Juli wurden in mindestens zwei Angriffswellen mit Raketen und Marschflugkörpern hauptsächlich militärische Einrichtungen getroffen.

Russlands intensive Luftangriffe setzen sich fort

Die erste Welle traf zwischen 1 und 3 Uhr morgens Ziele in der Ukraine. Diese ballistischen Raketen und Marschflugkörper dienten vermutlich der Aufklärung von Luftabwehrstellungen. Gegen 9 Uhr traf dann die Hauptwelle der russischen Raketen ein, etwa 40 Stück.

Und obwohl offizielle Regierungsstellen verlauten ließen, es seien 30 von insgesamt 38 Raketen erfolgreich abgeschossen worden, lassen die Videobeweise den Schluss zu, dass die Zahl der abgeschossenen Raketen deutlich geringer war.

Ukrainische Luftabwehr: Erfolg oder Übertreibung?

Dies lässt drei Vermutungen zu. Zum einen könnte es den russischen Raketentruppen gelungen sein, eine nennenswerte Anzahl ukrainischer Abschussvorrichtungen und Depots für Flugabwehrraketen auszuschalten. Zum anderen könnte vermutet werden, dass die Nato nicht in der Lage ist, eine ausreichende Anzahl von Flugabwehrraketen zur Verfügung zu stellen. Dazu später mehr.

Und schließlich verdichten sich die Hinweise, dass es russischen Ingenieuren gelungen sein muss, ihre Raketentechnologie so weiterzuentwickeln, dass die Abwehr auch mit modernstem Nato-Material schwieriger wird. Dies berichtet der US-Thinktank Defence Priorities.

Gezielte Angriffe auf militärische Produktionsanlagen

Allein fünf Marschflugkörper trafen am Montag laut Videoaufnahmen gezielt die Artem-Fabrik in Kiew. Sie gehört zum staatlichen Rüstungskonzern Ukroboronprom und stellt nach Regierungsangaben Munition sowohl für Rohr- als auch für Raketenartillerie her. Sie liegt dicht umgeben von Wohngebieten und anderen zivilen Einrichtungen. So befindet sich direkt gegenüber der Waffenfabrik ein Geschäfts- und Einkaufszentrum.

Ferner soll es russischen Raketentruppen gelungen sein, mehrere Patriot-Startgeräte zu zerstören. Als Startgeräte werden die einzelnen Abschussfahrzeuge bezeichnet, die die Flugabwehrraketen zum Einsatz bringen können. Eine Patriot-Batterie besteht in der Regel aus 8 dieser Startgeräte, auch Launcher genannt.

Die strategische Luftkampagne wurde am 10. und 11. Juli fortgesetzt. In der Nacht des 10. Juli setzten russische Streitkräfte nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe mindestens 20 Shahed-Drohnen, eine ballistische Rakete und vier Marschflugkörper gegen die Ukraine ein. Dabei soll die Hafeninfrastruktur von Odessa angegriffen worden sein.

Auffällig ist hier die von der ukrainischen Luftwaffe angegebene Abschussrate der Shahed-Drohnen. Normalerweise gibt die ukrainische Luftwaffe hier eine Abschussquote von 100 Prozent an, am 10. Juli jedoch nur den Abschuss von 14 Drohnen. Shaheds sind im Vergleich zu ballistischen Raketen und Marschflugkörpern relativ leicht zu bekämpfen.

Drohnen als kostengünstige und effektive Waffe

Über Drohnen wurde an dieser Stelle schon mehrfach ausführlich berichtet. Sie sind mit geschätzten Herstellungskosten von unter 20.000 Dollar günstig und mit ihren 50 Kilogramm Sprengkopf dennoch sehr schlagkräftig: Wenn sie nicht abgeschossen werden, können sie großen Schaden anrichten.

Stehen keine preiswerten Abschussmöglichkeiten wie Flugabwehrkanonen zur Verfügung, müssen teure und seltene Flugabwehrraketen eingesetzt werden, um die Gefahr zu neutralisieren. Gelingt dies nicht und kann die Drohne nicht abgeschossen werden, kann der Schaden, der durch einen Treffer der Drohne entsteht, deutlich höher sein als die Kosten für die teilweise mehrere Millionen Dollar teuren Flugabwehrraketen – ein Dilemma für die Ukraine. Der günstige Preis der Drohnen und ihre hohe Schadenswirkung machen die Effektivität der neuen Waffe aus.

In der Nacht auf heute sind russische Streitkräfte erneut Angriffe geflogen, dieses Mal nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe mit zwei ballistischen Raketen auf die Region Sumy, die nicht abgefangen werden konnten. Dagegen wurden nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe alle sechs Shaheds abgeschossen.

Die geringen Abschusszahlen und die vielen Treffer-Videos in den sozialen Netzwerken lassen den Schluss zu, dass die Luftverteidigungskräfte weiterhin mit einem großen Mangel an Luftverteidigungsmitteln zu kämpfen haben.

Anhaltende russische Luftangriffe schwächen ukrainische Infrastruktur

Die anhaltenden Luftangriffe Russlands auf kritische Infrastruktur und militärische Einrichtungen der Ukraine stellen die Führung in Kiew vor massive Probleme. Denn sie schwächen die Reproduktionsfähigkeit der ukrainischen Armee massiv. Hier sind hauptsächlich die Angriffe auf die Energieinfrastruktur zu nennen.

In einer neuen Studie der Kyiv School of Economics wird der Schaden der russischen strategischen Luftkampagne allein im Energiesektor auf 40 Milliarden Dollar geschätzt.

In der Studie heißt es:

Die Verluste des Energiesektors durch die großflächige Invasion werden auf fast 40 Milliarden US- Dollar geschätzt. Diese Verluste umfassen Umsatzeinbußen der Energieunternehmen sowie Kosten für die Beseitigung von Trümmern und Abrissarbeiten. Besonders hervorzuheben ist der starke Rückgang der Nachfrage nach Strom und Erdgas.

Die Umsatzeinbußen der Elektrizitätsunternehmen wurden durch eine Reihe massiver und lang anhaltender Angriffe verschärft, die es ihnen unmöglich machten, die bestehende Nachfrage über einen längeren Zeitraum vollständig zu befriedigen. Fast alle Ölraffineriekapazitäten, die zuvor etwa ein Drittel der Nachfrage nach Ölprodukten deckten, wurden zerstört.

Rund 50 Milliarden US-Dollar würden für den Wiederaufbau des Energiesektors benötigt, so die Studie weiter:

Der geschätzte Bedarf für den Wiederaufbau des Energiesektors beläuft sich auf 50 Milliarden US-Dollar, wobei ein vollständiger Wiederaufbau der zerstörten Anlagen nach dem Prinzip "Build back better" vorgesehen ist. Der umfassende Krieg hat zu weitreichenden Zerstörungen und Verlusten im Energiesektor geführt, sodass ein umfassender Ansatz für dessen Wiederaufbau und Modernisierung erforderlich ist. [...] Die Besetzung der Halbinsel Krim und von Teilen der Regionen Donezk und Luhansk führte zum Verlust lebenswichtiger natürlicher Ressourcen und Energieanlagen, einschließlich Kohlebergwerken, Öl- und Gasfeldern, Wärmekraftwerken und Anlagen für erneuerbare Energien. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die Energieunabhängigkeit und die wirtschaftliche Stabilität der Ukraine. [...] Russland hat dem ukrainischen Energiesektor katastrophale Folgen zugefügt, indem es die Energieinfrastruktur schwer beschädigt und den Energieunternehmen und der Wirtschaft insgesamt finanzielle Verluste zugefügt hat.

Die Folgen einer in weiten Teilen zerstörten Energieinfrastruktur sind für die Menschen und Unternehmen in der Ukraine massiv spürbar, stundenlange Stromausfälle sind im Alltag der Menschen die Regel. Dies stellt insbesondere die verbliebene Industrie vor kaum lösbare Probleme.

Herausforderungen für die Zivilbevölkerung im kommenden Winter

Ab Herbst wird der Energiebedarf wieder deutlich ansteigen. Die jetzt zerstörten Kraftwerke arbeiteten nach dem Prinzip der effizienten Kraft-Wärme-Kopplung und lieferten Fernwärme.

Millionen von Haushalten und Unternehmen werden daher im Winter nicht heizen können. Mit gravierenden Folgen für das soziale und wirtschaftliche Leben in der Ukraine. Man kann sich leicht vorstellen, was es bedeutet, wenn bei Temperaturen unter minus 10 Grad weder Strom noch Wärme zur Verfügung stehen.

F-16 Kampfjets: Hoffnung oder logistische Herausforderung?

Ferner stellen die anhaltenden Angriffe der russischen Armee auf Flugplätze der ukrainischen Luftstreitkräfte ein großes Problem für die ukrainische Armee dar. Die ukrainischen Luftstreitkräfte erwarten noch in diesem Monat die lang ersehnten F-16. Diese sind, wie hier bereits berichtet, sehr empfindlich, nicht für den Einsatz auf beschädigten Flugplätzen ausgelegt und benötigen eine recht komplizierte Infrastruktur für ihren Betrieb.

Die Angriffe werden es der ukrainischen Luftwaffe daher schwer machen, die neuen Kampfflugzeuge auch nur zu betreiben und in die Luft zu bringen.

Nato verspricht neue Luftabwehrsysteme für die Ukraine

Die Nato hat nun mit der Ankündigung reagiert, der Ukraine neue Luftverteidigungsfähigkeiten zu liefern. Während des Nato-Gipfels in Washington kündigte das Weiße Haus jetzt die Aufrüstung der Ukraine mit neuen strategischen und taktischen Luftabwehrsystemen an.

Heute geben wir bekannt, dass wir der Ukraine gemeinsam zusätzliche strategische Luftverteidigungssysteme zur Verfügung stellen, darunter zusätzliche Patriot-Batterien, die von den Vereinigten Staaten, Deutschland und Rumänien gespendet wurden, Patriot-Komponenten, die von den Niederlanden und anderen Partnern gespendet wurden, um den Betrieb einer weiteren Patriot- Batterie zu ermöglichen, sowie ein zusätzliches SAMP-T-System, das von Italien gespendet wurde. Diese fünf strategischen Luftabwehrsysteme werden dazu beitragen, ukrainische Städte, Zivilisten und Soldaten zu schützen, und wir stimmen uns eng mit der ukrainischen Regierung ab, damit diese Systeme rasch eingesetzt werden können. Wir arbeiten daran, noch in diesem Jahr weitere strategische Luftabwehrsysteme für die Ukraine anzukündigen.

Darüber hinaus beabsichtigen die Vereinigten Staaten und ihre Partner, der Ukraine in den kommenden Monaten Dutzende von taktischen Luftabwehrsystemen zu liefern, darunter NASAMS, HAWKs, IRIS T-SLM, IRIS T-SLS und Gepard-Systeme. […] Die Vereinigten Staaten werden ihrerseits die geplanten Lieferungen von kritischen Abfangraketen im Rahmen von Militärverkäufen (Foreign Military Sales) in Absprache mit ihren Partnern so umdisponieren, dass sie an die Ukraine geliefert werden und die Ukraine im Laufe des nächsten Jahres Hunderte zusätzlicher Abfangraketen erhält.

Die Lieferung von Patriot-Batterien durch Rumänien und Deutschland war allerdings bereits im Vorfeld des Gipfels angekündigt worden, das zusätzliche deutsche System befindet sich derzeit auf dem Weg in die Ukraine. Neu ist lediglich die Lieferung einer Batterie durch die USA und die Zusage der taktischen Systeme.

Mangel an Abfangraketen als kritisches Problem

Bemerkenswert ist hier die Nachricht, dass "Hunderte zusätzlicher Abfangraketen" an die Ukraine geliefert werden sollen – im nächsten Jahr. Angesichts der bereits bestehenden ukrainischen Luftverteidigungskrise kann dies bedeuten, dass die ukrainischen Luftverteidigungskräfte bis zum nächsten Jahr mit einem gravierenden Mangel an Abfangraketen zu kämpfen haben werden.

Fünf neue Flugabwehrbatterien bedeuten etwa 40 zusätzliche Startfahrzeuge (Launcher) für die Ukraine – nur kann die Ukraine von diesen Fahrzeugen keine Abfangraketen starten, wenn keine Abfangraketen geliefert werden. Die Lieferung der zusätzlichen Abwehrbatterien, also der zusätzlichen Abschussvorrichtungen, ist also weitgehend wirkungslos – nicht der Mangel an Abschussvorrichtungen ist das Hauptproblem, sondern der Mangel an Abfangraketen.

Die Neue Zürcher Zeitung schreibt dazu in einem Artikel vom Mai:

Die modernen PAC-3-Raketen werden ausschließlich von Lockheed Martin in Camden im US- Bundesstaat Arkansas hergestellt. Von einer ursprünglichen Jahresproduktion von 350 Stück im Jahr 2018 konnte die Produktion im vergangenen Jahr auf 500 Stück gesteigert werden. Bis 2027 soll sie auf 650 gesteigert werden. Lockheed hat dafür eigens ein neues Werk mit einer Fläche von 7.900 Quadratmetern eröffnet und plant weitere Investitionen.

Dagegen gelang es der russischen Rüstungsindustrie laut Kyiv Post, die Raketenproduktion des modernen Marschflugkörpers KH-101 auf jetzt 420 Stück pro Jahr zu verachtfachen. Der britische militärische Thinktank Rusi schätzte noch im Oktober letzten Jahres die russische Monatsproduktion von Langstreckenraketen auf über 100 Stück.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass für den Abschuss von angreifenden Raketen statistisch entsprechend mehr Abfangraketen benötigt werden. Zudem kann Russland die Produktion von Shahed-Drohnen monatlich steigern, bis Mai dieses Jahres wurden laut Forbes durchschnittlich 240 Shahed pro Monat gegen Ziele in der Ukraine gestartet. Geplant ist eine Produktionssteigerung auf knapp 1.600 Stück pro Monat. Auch diese Drohnen müssen, wie oben beschrieben, teilweise mit Raketen bekämpft werden.

Ferner baut der Iran laut Reuters eine Raketenfabrik für ballistische Raketen aus. Die Kapazitätserweiterung kann mit weiteren Lieferungen nach Russland in Verbindung gebracht werden.

Ausblick: Anhaltende Bedrohung durch russische Luftangriffe

Sollte es der Nato tatsächlich gelingen, die versprochene Anzahl von Flugabwehrsystemen zu liefern, könnte dies die Flugabwehrfähigkeiten der Ukraine verbessern. Allerdings scheint die Versorgung mit Abwehrraketen nicht gesichert. Es ist daher zu bezweifeln, dass die Lieferung neuer Flugabwehrbatterien eine Wirkung entfalten kann, die geeignet ist, die verheerenden Luftangriffe der russischen Armee auf Ziele der kritischen Infrastruktur, der Rüstungsindustrie und militärischer Einrichtungen zu verhindern.

Mit wahrscheinlich mehr als 100 produzierten Langstreckenraketen und einem Mangel an westlichen Abwehrraketen wird Russland wahrscheinlich weiterhin in der Lage sein, Ziele überall in der Ukraine zu treffen. Und damit die Reproduktionsfähigkeit der Ukraine weiter zermürben. Zudem ist aus ukrainischer Sicht zu befürchten, dass die Verbündeten Russlands ihre Raketenlieferungen erhöhen werden.