Scharfschützenmorde in Kiew

Seite 3: Von einem Dutzend Häuser feuerten die Todesschützen

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Von mindestens zwölf Gebäuden aus sollen die Maidanschützen geschossen haben. Bei Katchanovski besonders im Fokus stehen der Oktoberpalast und der mit ihm verbundene Kinopalast, die genauso wie das Hotel Ukraina seit dem Berkut-Rückzug unter Maidankontrolle standen.11 Es gibt zahlreiche Zeugenaussagen über mindestens drei Schützen auf dem Oktoberpalast, erläutert Katchanovski. Auch auf Fotos und Videos sind sie zu sehen.12 Maidan-Selbstverteidiger fanden später mehr als 80 Patronenhülsen auf dem Dach.13

Bäume in der damaligen Todeszone auf der Institutska-Straße mit Einschusslöchern aus nördlicher und nordöstlicher Richtung. Sechs Einschüsse unterhalb des Opferbildes. Bild: S. Korinth

Auch zahlreiche Einschusslöcher in den Bäumen der Todeszone deuten auf den Oktoberpalast, den Kinopalast und zwei Gebäude in der Museumgasse als Schützenstandort hin.

Mehrere Treffer im linken Baum unten. Bild: S. Korinth

Zeitgleich zeigen Videos bewaffnete Spezialeinheiten, die im hinteren Bereich der Institutska bei Regierungsgebäuden und der Nationalbank postiert sind.14 Auch sie stehen hinter Bäumen und Mauern in Deckung, weil sie dort beschossen wurden. Später erscheinen Regierungs-Scharfschützen, die offene Fenster des Hotel Ukraina anvisieren. Laut Katchanovski versuchten sie "Sniper" im Hotel zu lokalisieren.15

Unbewaffnete Helfer werden zu Zielen

Spätestens um 11:20 Uhr gab es keine Schüsse mehr auf der Institutska. Auf dem Maidan hingegen ging das Töten weiter. Auffällig, dass es hier nun keine Kämpfer, sondern mehrheitlich harmlose Helfer und auch völlig Unbeteiligte traf.

In westlichen Medien hatte besonders der Fall der angeschossenen Sanitäterin Olesja Schukowska Aufsehen erregt, da sie unmittelbar, nachdem sie um 11:43 Uhr am Hals getroffen wurde, die Nachricht twitterte: "Ich sterbe." Die Medizinstudentin hatte Glück und überlebte, obgleich sie in sozialen Netzwerken bereits für tot erklärt worden war. Auch deutsche Medien stürzten sich auf die Geschichte - aber wer da eigentlich warum geschossen hatte, war ihnen nicht wichtig.

Der Eintrittswunde und Augenzeugen nach zu urteilen, kam auch der Schuss auf Schukowska vom Dach des Hauptpostamts am Maidan, schreibt Ivan Katchanovski. Das Gebäude war Sitz des Rechten Sektors. Ein Mann, der bei der Sanitäterin stand, wurde ebenfalls aus dieser Richtung erschossen. Bereits zwischen 10 und 11 töteten die Todesschützen den Bühnenbildner Andrij Movchan, als er auf dem Maidan Essen verteilte.

Gegen 16 Uhr schoss ein Scharfschütze dem völlig unbeteiligten Volodymyr Melnitschuk in den Kopf, als dieser gerade telefonierend neben seiner Frau vor dem Oktoberpalast stand. Der Schuss kam erneut aus dem Hotel Ukraina.16

Die Todesschützen sind Maidankräfte

Während des ganzen Tages warnten Aktivisten, Kämpfer, Redner auf der Bühne und andere Augenzeugen vor Heckenschützen aus verschiedenen Maidangebäuden.17 Die "Selbstverteidiger" starteten nach eigener Auskunft mehrere Hausdurchsuchungen. Doch obwohl die Positionen der Schützen bekannt waren und Maidankämpfer vollen Zugang zu den Gebäuden hatten, gelang es ihnen während des stundenlangen Massakers nicht, die Schützen zu lokalisieren. In diesem bemerkenswerten Versagen sieht Ivan Katchanovski einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Täter selbst aus dem Maidanspektrum kommen.18

Zudem zeige der Vergleich von Kugeln, Eintrittswunden und Art der Verletzungen, dass Polizisten und Maidankämpfer von denselben Schützen getötet wurden. Dutzende Aktivisten wiesen Schusswunden von hinten, von der Seite und von oben auf. 17 von ihnen seien laut Parlamentarischer Kommission mit großen Schrotkugeln19 für die Jagd getötet worden. Aus dem Hotel Ukraina sei zudem mit einem sowjetischen Karabiner geschossen worden. Eine veraltete Waffe, die gar nicht zur Polizeiausstattung gehöre, die aber sehr wohl als private Jagdwaffe im Umlauf sei.

Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Anführer des Maidan nicht beschossen wurden. Alexander Turtschinow, wenige Tage später Übergangspräsident, Swoboda-Führer Oleg Tjagnibok oder Oleg Ljaschko, radikaler Gegner Janukowitschs, hielten während der Scharfschützenmorde ungestört anklagende Reden auf der Maidanbühne.