Scharfschützenmorde in Kiew

Seite 4: Die Fäden laufen beim Rechten Sektor zusammen

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Für Katchanovski legen die Beweise nahe, dass "rechtsradikale Maidanelemente" das Massaker organisiert haben: Gefeuert wurde während des Tages konstant aus dem alten und neuen Hauptquartier20 des Rechten Sektors (Gewerkschaftshaus und Hauptpost) sowie aus dem Quartier einer Spezialkampftruppe mit Kriegserfahrung (Musik-Konservatorium), die kurz zuvor unter Beteiligung des Rechten Sektors aufgestellt wurde.21

Besonders auffällig sei, dass der Rechte Sektor beim Scharfschützenmassaker nicht zu sehen war, betont Katchanovski. Die Truppe die sonst bei jeder Auseinandersetzung mit der Polizei an vorderster Front stand, war nun stundenlang untergetaucht.22 Dies sein ein starker indirekter Beweis - frei nach Sherlock Holmes "der Hund, der nicht bellte", schreibt der Politikwissenschaftler.

Screenshot aus dem Video

Rechtsradikale waren bewaffnet

Dass die militanten Rechtsradikalen Schusswaffen hatten, steht fest.23 Am Abend des 21. Februar drohte der Führer des Rechten Sektors, Dmitro Jarosch, mit einem bewaffneten Angriff auf die Präsidialadministration und Regierungsgebäude, wenn Janukowitsch nicht zurücktrete.

Zwei Nächte zuvor sahen Augenzeugen vom Maidan, dass organisierte und mit Gewehren bewaffnete Kampfgruppen aus der Westukraine ankamen und ins Konservatorium zogen, schreibt Katchanovski. Im Westteil des Landes waren gerade zahlreiche Jagdgeschäfte, Polizeistationen und Waffenlager anderer Sicherheitskräfte geplündert worden. Unter anderem seien dabei 59 Sturmgewehre (AKMS) und zwei Scharfschützengewehre (SWD) in den Besitz der Plünderer übergegangen.

Generalstaatsanwalt: Keine Hinweise auf Schützen vom Maidan

"Die Generalstaatsanwaltschaft und andere Regierungsstellen haben die Ermittlungen zum Massaker absichtlich verfälscht", betont Katchanovski gegenüber Telepolis. Die schleppenden und schlampigen Untersuchungen legten nahe, dass die Regierung die Täter deckt, weil diese zum Maidan gehören.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Kiew. Hausherr Vitali Jarema konnte auch mehr als neun Monate nach dem Blutbad im Stadtzentrum keine Hinweise auf Schützen in anderen als den Regierungsgebäuden finden. Bild: S. Korinth

Bei einer Pressekonferenz am 19. November verkündete die Staatsanwaltschaft, dass sie nach ausgiebigen Untersuchungen keine Hinweise auf "Sniper" im Hotel Ukraina oder irgendeinem anderen Maidangebäude entdeckt hätte. Die Sonderpolizei Berkut habe fast alle Protestierenden mit Kalaschnikows und Jagdmunition getötet. Nun seien viele dieser Schützen in Russland untergetaucht, behaupten die neuen ukrainischen Machthaber.

Außer den Videos des kurzen Gegenangriffs einer Spezialeinheit kurz nach 9 Uhr am Oktoberpalast habe Generalstaatsanwalt Vitali Jarema jedoch keine Beweise für eine Täterschaft der Spezialeinheiten vorgelegt, kritisiert Katchanovski. Es sei nicht auszuschließen, dass auch die Polizei Maidankämpfer erschossen habe.24 Doch die Ergebnisse der ballistischen und medizinischen Untersuchungen des Massakers wurden bis heute nicht veröffentlicht. Zudem verschwanden entscheidende Beweise, wie Projektile und Waffen unter den neuen Machthabern. Die Schüsse auf Polizisten wurden gar nicht erst untersucht, schreibt der kanadische Politikwissenschaftler.

Massenmord erzwingt Machtwechsel

Die blutigen Ereignisse dieses Tages erscheinen irrational, der Tod von gut 50 Menschen völlig sinnlos. Doch aus einer rein instrumentellen Perspektive hatte das Massaker durchaus eine Funktion, meint Katchanovski: Es erzwang den Machtwechsel.

Der Massenmord führte der Welt vor Augen, zu welcher Unmenschlichkeit das damalige "Regime" angeblich in der Lage war. Janukowitsch verlor auch in seiner eigenen Partei jeglichen Rückhalt, die Polizei musste sich zurückziehen und Maidanführer übernahmen die Macht.

"Maximales Chaos"

"Erst die Sniper-Attacken vom 20. Februar brachten das alte Regime zum Einsturz", sagt auch der Schweizer Historiker und Friedensforscher Daniele Ganser gegenüber Telepolis. Er forscht seit vielen Jahren zum Thema inszenierter Terrorismus. Grundsätzlich passe ein Vorgehen, wie es Katchanovski für die Ukraine beschreibt, durchaus zur Taktik der verdeckten Kriegführung:

Durch den Terror wird aktiv Angst und Spannung produziert. Danach wird die Aktion im Sinne einer Operation unter falscher Flagge, dem politischen Gegner angehängt. Dadurch wird dieser diskreditiert. Danach werden die Spuren verwischt.

Die Akteure aller Konfliktparteien zu beschießen, schafft maximales Chaos und Verwirrung, erläutert der Wissenschaftler vom Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER) in Basel. Mit dem Taksim-Massaker 1977 in der Türkei gebe es sogar ein historisches Vorbild. Katchanovski legt mit seiner Arbeit die "Lupe auf die richtige Stelle", sagt Ganser.

Genau wie das Blutbad von 1977 sind jedoch auch die Scharfschützenmorde von Kiew bislang unaufgeklärt. Die Beweise legen zwar nahe, dass dem Rechten Sektor eine Schlüsselrolle zufalle. Doch die Identität der Mörder und vor allem ihrer Hintermänner bleibt weiter unklar, kritisiert Ivan Katchanovski. Er fordert neue Ermittlungen und kritisiert westliche Regierungen. Von dort habe es bislang kaum Reaktionen gegeben.

"Jetzt muss geklärt werden, wer die Sniper waren", fordert auch Daniele Ganser. "Sonst können wir den Regierungssturz in der Ukraine 2014 nie verstehen."