So steht es um Fakten und Rhetorik in der Ampel-Koalition

Annalena Baerbock und die Koalitionäre (ohne Olaf Scholz). Bild: Screenshot

Über neue Gesichter im künftigen Bundeskabinett, was Jens Spahn mit Impfkritikern machen will (und warum) sowie über Russland und die Querdenker. Die Telepolis-Wochenrückschau mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

Regierungsbildungen sind verständlicherweise immer ein Ergebnis der Abwägung zwischen dem Streben nach Fachkompetenz und notwendigen Zugeständnissen an das karriereorientierte Parteipersonal. Im besten Fall stimmt beides überein. Zu oft aber nicht.

So übernahm unter den Regierungen der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Ärztin die Führung der Bundeswehr, bis sie nach Brüssel wegbelobigt wurde. Und in den nun zwei Jahren der Pandemie brachte uns ein Bankkaufmann an der Spitze des Gesundheitsministeriums mit in die pandemische Notlage, in der wir uns nun erneut befinden.

Die Ernennung des Mediziners und Gesundheitsökonomen Karl Lauterbach (SPD) scheint da auf den ersten Blick in die richtige Richtung zu führen. Bis man ein zweites Mal hinschaut.

Denn der Sozialdemokrat Lauterbach hat sich in den vergangenen Monaten zwar als vehementer Mahner für Lockdowns und Impfungen einen Namen gemacht und damit schon vor dem Regierungswechsel den offiziellen Kurs der Pandemiepolitik verkörpert.

In nicht wenigen Fällen lag der Mediziner Lauterbach aber derart daneben, dass er selbst erheblich zu Verwirrung und Fehlinterpretationen beigetragen hat.

  • Die Behauptung, in Schottland würden die Zahlen von minderjährigen Covid-19-Patient:innen in Krankenhäusern steigen? Falsch!
  • Die Behauptung, in Spanien würden Corona-Zahlen manipuliert, um den Tourismus zu schützen? Falsch!
  • Die Warnung, die liberale Pandemiepolitik in Schweden sei "völlig verantwortungslos"? Auch das offenbar eine Fehleinschätzung, denn die Infektionszahlen dort gehören – warum und wie nachhaltig, das mag man diskutieren – zu den derzeit niedrigsten in Europa.
  • Auch bei der Einschätzung nächtlicher Mobilität – und daraus abgeleiteten Fordungen – lag der SPD-Mann falsch.

Im Interview mit Telepolis hatte der Kölner Internist Matthias Schrappe unlängst auf ein strukturelles Problem hinter solchem Politik- und Politikerversagen hingewiesen. Bei einer Pandemie handele es sich um eine komplexe Krise, sagte er, und nicht simpler gestalte sich eine Impfkampagne.

Beim Lauterbach’schen Beharren auf Lockdown und Impfungen aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der die Fakten der Einfachheit halber an den politischen Zielen ausrichtet. Der Sache, also dem Kampf gegen die Pandemie, auch durch Impfungen, scheint er damit bislang nur einen bedingten Dienst erwiesen zu haben.

Mit Jens Spahn auf die Intensivstation

Ob es sich bei solchen Fehlern um "Ungenauigkeiten" handelt, wie die ARD schrieb, oder um Fake-News, wie manch ein Spanier wohl gemeint haben dürfte, sollte ebenso Gegenstand der offenen politischen Meinungsfindung sein wie der unverhohlene Populismus, durch den es Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bislang gelungen ist, eine Abrechnung mit seinem unleugbaren Unvermögen als Krisenmanager zu vermeiden.

Die Kritik an den Ungeimpften und die damit einhergehende Debatte über eine Impfpflicht kam Spahn nur Recht. So erging sich der CDU-Mann zuletzt in populistischen Tiraden, er wolle Kritiker der in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffe "am liebsten auf Intensivstation zerren".

Dass solche rhetorisch-politischen Winkelzüge angesichts der verschärften Krankenhauskrise, des Pflegenotstandes und aller gescheiterten Versuche der Großen Koalition, diese Missstände in den Griff zu bekommen, medial fast ohne Widerspruch durchgingen, sollte Journalisten zu denken geben.

Apropos Rhetorik: Nachdem Edmund Stoibers 2007 abgetreten war, ging man als zukunftsgläubiger Zeitgenosse ja davon aus, dass sich Einwürfe wie "Ich hab's mir auch angewöhnt, dass ich jeden Tag in der Früh in den Garten schau und vielleicht eine Blume hinrichte" erledigt haben.

Dann kam unsere künftige Außenministerin Annalena Baerbock und sagte das hier:

Wir haben ja schon jetzt einen Nationalen Sicherheitsrat, und wir haben in diesem Koalitionsvertrag, das haben wir für die Klimapolitik deutlich gemacht, aber auch für die Europa-Politik sehr, sehr deutlich gemacht, die ja nicht nur aus einem Ressort heraus betreut alleine wird, sondern querschnittsmäßig in allen Bereichen der nächsten Bundesregierung, wie das bisher auch schon der Fall ist, und so wird die Zusammenarbeit sowohl in der Europapolitik, aber auch in der gemeinsamen Außen- und eben auch, wie sie angesprochen haben, in der Sicherheitspolitik, gemeinsam in dieser Koalition erfolgen.

Designierte Außenministerin Annalena Baerbock

Jetzt schauen Sie auch so, wie Olaf Scholz1 und die Koalitionäre neben ihr, nicht?

Wodka für Baerbocks Dolmetscher!

Wir bei Telepolis jedenfalls freuen uns auf den Blick des Krim-Besatzers Wladimir Putin – @Telepolis-Forum: Ist wiederholen doch nicht gestohlen? – oder seines Außenministers auf Lebenszeit, Sergej Lawrow, beim ersten Zusammentreffen mit Baerbock – und überlegen, ob wir den Dolmetschern eine Flasche besten Beluga-Wodkas zukommen lassen.

Russland, die Ukraine beziehungsweise die Russland-West- sowie Nato-Osterweiterung wird uns, da sind wir uns sicher, weiter beschäftigen. Das ist auch ein dankbares Thema, solange führende westliche Medien in dem Machtkampf derart einseitig berichten, dass die Moskauer Sichtweise maximal in zwei indirekt zitierten Sätzen des Regierungssprechers Platz findet und Berichte von Militärmanövern der Ukraine gegen Migranten aus dem Kiewer Verteidigungsministerium zu stammen scheinen, während die eigentlichen Fragen zu diesem Vorgehen keine Erwähnung finden.

Natürlich haben wir auch bei der ukrainischen Botschaft um einen Beitrag mit der Kiewer Sicht auf die aktuelle Lage gebeten – und sind auf die Antwort gespannt.

Ansonsten werden wir uns diese in dieser Woche bei Telepolis weiter mit der Debatte über eine Corona-Impfpflicht befassen, die nicht nur im Ethikrat kontrovers geführt wird.

Mit einem Kollegen sprechen wir über seine Erkenntnisse nach einer mehrwöchigen Lektüre in Telegram-Kanälen von Querdenkern. So viel vorab: Zahlreiche Postings wiesen, so der Kollege, auf eine Radikalisierung in diesem Milieu hin.

Das ist jedoch keine einseitige Entwicklung: Beim UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer ist nach Telepolis-Informationen inzwischen eine Stellungnahme der Bundesregierung zu mehreren Fällen mutmaßlich willkürlicher Polizeigewalt bei Protesten gegen die Pandemiepolitik eingegangen. Darüber lesen Sie demnächst bei Telepolis.

Bis dahin,

bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber

Arkás: Lebenslänglich (24)

Arkás: Lebenslänglich (24) (8 Bilder)

Und nun das Wetter … heute: Kritik an neuer Erklärung gegen Entwaldung. Von Jutta Blume

In Glasgow haben sich 141 Länder verpflichtet, bis zum Jahr 2030 die Entwaldung zu stoppen und teilweise rückgängig zu machen. Das klingt zwar zunächst positiv, wird aber beispielsweise von Greenpeace als eine Art Freibrief für eine weitere Dekade der Entwaldung kritisiert.

Bereits 2014 hatten sich über 200 staatliche und private Akteure in der New Yorker Erklärung für Wälder darauf verständigt, die Entwaldungsrate bis 2020 um die Hälfte zu senken. Dieses Vorhaben ist gescheitert, der Waldverlust ist seither immer schneller vorangeschritten.

Brasilien gehörte nicht zu den Unterzeichnern der New Yorker Erklärung, hat aber die neue Waldschutzerklärung unterzeichnet. Neue Zahlen aus Brasilien zeigen jedoch, dass die Entwicklung in die gegenteilige Richtung geht. Zwischen 1. August 2020 und 31. Juli 2021 gingen im brasilianischen Amazonasgebiet 13.325 Quadratkilometer Wald verloren.

Damit ist die Entwaldung gegenüber dem Vorjahreszeitraum nochmal um fast 22 Prozent gestiegen, wie das Nationale Institut für Weltraumforschung INPE berichtet. Dieses erfasst die jährliche Entwaldung anhand von Satellitendaten. Bis 2012 waren die Waldverluste gesunken, seit spätestens 2019 sind sie wieder stark im Ansteigen.

Die Direktorin von Greenpeace Brasilien Carolina Pasquali erklärte in Bezug auf das neue Abkommen: Es gibt guten Grund, warum Bolsonaro sich bei der Unterzeichnung dieses neuen Abkommens wohlfühlte. Es erlaubt ein weiteres Jahrzehnt der Waldzerstörung und ist nicht bindend.

Derweil steht der Amazonas bereits am Abgrund und kann weitere Jahre der Abholzung nicht überleben. Die indigenen Völker fordern, dass 80 Prozent des Amazonasgebiets bis 2025 unter Schutz gestellt werden, und sie haben recht, das ist auch notwendig. Das Klima und die Natur können sich diesen Deal nicht leisten.

Der Amazonas-Regenwald könnte dabei seinen Kipppunkt bereits erreicht haben, jedenfalls stößt er derzeit mehr Kohlendioxid aus als er aufnimmt. Weitere große zusammenhängende tropische Waldflächen befinden sich in der Demokratischen Republik Kongo, doch auch dort gerät der Wald immer stärker unter Druck. Greenpeace Afrika fordert, dass die Regierung erst dann wieder finanzielle Unterstützung erhält, wenn diese keine neuen Konzessionen für den Holzeinschlag mehr vergibt.