Taurus-Leak: Kostete das Gespräch deutscher Offiziere führender US-Diplomatin das Amt?
Die Russland-Kritikerin Victoria Nuland ist ihren Job in Washington los. Dazu gibt es einige Theorien. Eine führt nach Deutschland.
Der Abschied der US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland wird von US-Medien und Experten als Indiz für eine Kehrtwende in der Außenpolitik Washingtons gewertet. Nuland hatte sich seit dem "Euromaidan" in Kiew 2014 als entschiedene Befürworterin eines Westkurses der Ukraine hervorgetan. Seit vergangenem Sommer war sie geschäftsführende Vize-Außenministerin, zuletzt Staatssekretärin für politische Angelegenheiten.
Unter anderem die US-Tageszeitung New York Times interpretiert ihren Abgang nun als Schwächung dieser Position in der von zahlreichen Krisen belasteten US-Außenpolitik.
Nulands kontroverse Rolle im Ukraine-Konflikt
Ein Kenner der Materie hat nun eine weitere Theorie hinzugefügt. Das abgehörte Gespräch deutscher Luftwaffenoffiziere und deren Einschätzung der Wirkung des Marschflugkörpers Taurus und weiterer entsprechender Waffensysteme könnte ebenfalls eine Rolle bei der Personalentscheidung in Washington gespielt haben, schreibt der in Brüssel ansässige US-Russlandexperte Gilbert Doctorow.
Die Rolle deutscher Luftwaffenoffiziere
Der Mann sitzt in Brüssel und gilt – auch in westlichen Medien – als Kenner der russischen Geschichte, auch wenn ihm vom ukrainischer Seite Einseitigkeit vorgeworfen wird.
Doctorow jedenfalls hält es für ausgeschlossen, dass Nuland nur aufgrund einer Rede von US-Vizepräsidentin Kamala Harris das Handtuch geworfen hat. Harris hatte vergangene Woche eine Abkehr von der bedingungslosen Solidarität des Weißen Hauses mit Israel angedeutet und sich damit gegen Nuland gestellt.
Spekulationen über Nulands Rücktritt
Die Hardlinerin Nuland würde nach einer solchen Brüskierung aber nicht einfach aufgeben, schätzt Doctorow ein. Dazu bedürfe es eines handfesten Skandals – und den stelle das geleakte Gespräch der vier deutschen Luftwaffenoffiziere dar. Doctorow:
Erinnern wir uns daran, dass Nuland vor mehr als einem Jahr verdeckte Absprachen mit Pentagon-Beamten traf, um die Lieferung von US-Langstreckenraketen an Kiew durchzusetzen, und es schon damals hieß, sie habe damit gegen den vorsichtigeren Ansatz ihres Chefs, Antony Blinken, verstoßen. Es ist leicht vorstellbar, dass Nuland in den letzten Monaten mit dem gleichen Ziel Kontakt zu Generälen der Bundeswehr aufgenommen hat.
Gilbert Doctorow
In diesem Fall wäre das Komplott aufgeflogen und die Fäden hätten wieder bei Nuland geendet. Die Folge, so Doctorow wenig vornehm formuliert: ein Tritt in den Hintern. Der sei ganz "im Stil der Firma" verabreicht worden. Als Kündigung in allen Ehren "und sicher mit einer zusätzlichen Abfindung gegen die rechtsverbindliche Verpflichtung zum Stillschweigen".
Nuland im US-Außenamt: Aufstieg und Degradierung
Connor Echols von unserer US-Partnerredaktion Responsible Statecraft hatte Nulands Ernennung zur stellvertretenden Außenamtschefin im August vergangenen Jahres noch als Zeichen gegen Moskau gedeutet. Die Degradierung Nulands zur Staatssekretärin nach weniger als einem Jahr musste daher bereits als gegenteiliges Signal verstanden werden.
Geschenk für Russlandfalken – zurückgenommen
Nulands Ernennung zur Nummer 3 im Außenministerium sei damals "ein Geschenk des Himmels für die Russlandfalken" gewesen, so Echols. Sie hätten nun den Druck auf den Kreml erhöhen können. Doch für diejenigen, die den Ukraine-Konflikt auf dem Verhandlungsweg lösen wollten, sei die Beförderung der notorisch "undiplomatischen Diplomatin" eine bittere Pille gewesen, so Echols, der an einige Stationen von Nulands Karriere erinnerte:
Als Nuland der Obama-Regierung angehörte, führte sie ein berühmt gewordenes Telefonat mit dem US-Botschafter in der Ukraine, das an die Öffentlichkeit gelangte.
Als der Maidan-Aufstand das Land erschütterte, sprachen sich die beiden US-Diplomaten über Gespräche mit Oppositionsführern ab. Nuland drängte darauf, Arsenij Jazenjuk an die Macht zu bringen. (Jazenjuk wurde später im selben Monat ukrainischer Premierminister, nachdem der russlandfreundliche ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Land geflohen war).
An einer denkwürdigen Stelle des Anrufs sagte Nuland "Fuck the EU" ("Scheiß auf die EU") als Antwort auf die nachgiebige Haltung Europas gegenüber den Protesten.
Connor Echols
Die Kontroverse um den Appell – und die weitreichenden Folgen der US-Beteiligung am Sturz Janukowitschs – hätten damals zu Spannungen mit Russland geführt und wohl auch zur Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin beigetragen, die Krim zu besetzen und einen Aufstand in der Ostukraine zu unterstützen.
Dass Nuland 2013 in Kiew Lebensmittel an Demonstranten auf dem Maidan verteilte, habe "wohl auch nicht zur Beruhigung der Lage beigetragen". Gemeinsam mit dem sogenannten Sanktionszaren des US-Außenministeriums, Daniel Fried, habe Nuland später die Bemühungen geleitet, Putin mit Sanktionen zu bestrafen, so Echols.
Bereits 2020 hatte sie in der Fachzeitschrift Foreign Affairs einen Artikel mit dem Titel "Pinning Down Putin" ("Putin festnageln") veröffentlicht. Darin forderte sie einen dauerhaften Ausbau der Nato-Stützpunkte an der Ostflanke des Bündnisses.
New York Times: China ist wichtiger
Die New York Times, verweist nun darauf, wie der Abgang von Nuland in Russland gefeiert wird. RT, eine "vom Kreml unterstützten englischsprachigen Nachrichtenseite", so die Times, habe mit einem roten Banner auf der Startseite und der Schlagzeile "NULAND QUITS" (Nuland tritt zurück) reagiert.
RT zitiere die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, die den Abgang von Nuland als "Scheitern des antirussischen Kurses der Biden-Regierung" deutete. Sacharowa hatte den Demokraten vorgeworfen, dass "die Russophobie, die von Victoria Nuland als das wichtigste außenpolitische Konzept der Vereinigten Staaten vorgeschlagen wurde, die Demokraten in den Abgrund zieht".
Doch nicht alles ist russische Schadenfreude. Darauf weisen weitere Hintergrundinformationen der New York Times hin. Deren Washington-Korrespondent Michael Crowley erinnert daran, dass Nuland seit Sommer vergangenen Jahres als stellvertretende Außenministerin tätig war, "nachdem Wendy Sherman in den Ruhestand getreten war".
Nuland habe als Anwärterin gegolten, um Sherman in Vollzeit und dauerhaft zu ersetzen. "Doch Herr Blinken wählte Kurt Campbell, den früheren Spitzenbeamten des Nationalen Sicherheitsrates für Asien, für diesen Posten aus. Herr Campbell wurde vom Senat am 6. Februar bestätigt", so Crowley, der damit die Theorie eines Zerwürfnisses zwischen Biden und Nuland indirekt bestätigt. Seither war Nuland wieder auf den Posten einer Staatssekretärin heruntergestuft.
Nulands Niederlage im Machtkampf
Einige Analysten hätten die Wahl von Campbell als ein Zeichen dafür interpretiert, "dass Präsident Biden und (Außenminister) Blinken die Verwaltung der US-amerikanischen Beziehungen zu China als ihre oberste Priorität betrachten, obwohl die russische Invasion in der Ukraine einen Großteil von Herrn Bidens Außenpolitik in Anspruch genommen hat".
Nulands unbeirrte Haltung zur Ukraine
In den vergangenen Monaten habe Nuland immer wieder über die Zukunft der Ukraine gesprochen. Diesem Thema haben sie schließlich viele hundert Stunden ihres Lebens gewidmet. Beim Center for Strategic and International Studies in Washington sagte sie noch am 22. Februar:
Wir können nicht zulassen, dass Putin mit seinem Plan, die Ukraine von der Landkarte der freien Nationen zu tilgen, Erfolg hat. Denn wenn Putin in der Ukraine gewinnt, wird er dort nicht Halt machen, und Autokraten überall werden sich ermutigt fühlen, den Status quo mit Gewalt zu ändern. Und für die USA wird der Preis für die Verteidigung der freien und offenen internationalen Ordnung, auf die wir angewiesen sind, exponentiell ansteigen.
Victoria Nuland, 22.02.2024
Putin "denkt, er kann uns alle aussitzen", sagte sie: "Wir müssen ihm das Gegenteil beweisen."
Der Appell verfehlte seine Wirkung.
Zwei Wochen später ist Nuland nun weg vom Fenster.
Redaktioneller Hinweis: In einer früheren Version war Nuland fälschlicherweise als "US-Außenministerin" bezeichnet worden. Tatsächlich war sie zuletzt Vize-Außenministerin und damit Nummer 3 im Amt und seit Februar nur noch Staatssekretärin.