Ukraine-Krieg: "Tragödie hätte bis zur letzten Minute hin vermieden werden können"
Seite 2: Aus dem Ukraine-Krieg lernen und künftige Krisen vermeiden
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Noam Chomsky: Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass diese Tragödie bis zur letzten Minute hin hätte vermieden werden können. Wir haben das schon angesprochen: Warum Putin seinen kriminellen Angriff gerade jetzt gestartet hat, darüber können wir nur spekulieren. Aber der unmittelbare Hintergrund ist nicht unbekannt. Er wird gemeinhin verschwiegen, ist aber an sich nicht strittig.
Es ist leicht zu verstehen, warum diejenigen, die unter Verbrechen leiden, es als überflüssig betrachten, darüber zu diskutieren, wie es zu dieser Situation gekommen ist und wie sie hätte vermieden werden können. Dieser Standpunkt ist verständlich, aber falsch.
Wenn wir auf die Tragödie auf eine Weise reagieren wollen, die den Opfern hilft, und noch schlimmere drohende Katastrophen verhindern wollen, dann ist es klug und notwendig, so viel wie möglich darüber zu verstehen, was schiefgelaufen ist und wie der Kurs hätte korrigiert werden können. Heroische Gesten können befriedigend sein. Hilfreich sind sie sicherlich nicht.
Wie schon oft werde ich an eine Lektion erinnert, die ich vor langer Zeit gelernt habe. In den späten 1960er-Jahren nahm ich in Europa an einem Treffen mit einigen Vertretern der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams – dem "Viet cong", im US-Jargon – teil. Es war während der kurzen Zeit des intensiven Widerstands gegen die schrecklichen US-Verbrechen in Indochina.
Einige junge Leute waren so wütend, dass sie das Gefühl hatten, angesichts der monströsen Verbrechen nur eine gewaltsame Reaktion tolerieren zu können: Fenster auf der Main Street zerschlagen etwa, oder ein Büro des Reserveoffiziers-Ausbildungskorps in die Luft jagen. Alles andere wurde als Komplizenschaft zu schrecklichen Verbrechen gesehen.
Die Vietnamesen hatten eine gänzlich andere Position. Sie lehnten alle diese Maßnahmen entschieden ab. Sie setzten auf ihre eigene Form des effektiven Protests: ein paar Frauen, die schweigend an den Gräbern von US-Soldaten standen, die in Vietnam getötet worden waren. Sie interessierten sich nicht dafür, was den US-amerikanischen Kriegsgegner als rechtschaffen und ehrenhaft vorkam. Sie wollten überleben.
Das ist eine Lektion, die ich oft in der einen oder anderen Form von Opfern unmenschlichen Leidens im Globalen Süden gelehrt bekommen habe, dem Hauptziel imperialer Gewalt. Eine Lektion, die wir uns – angepasst an die Umstände – zu Herzen nehmen sollten.
Heute besteht die Herausforderung darin, zu verstehen, warum diese Tragödie stattgefunden hat und was hätte getan werden können, um sie abzuwenden. Diese Erkenntnis gilt es mit Blick darauf zu nutzen, was als Nächstes kommt.
Es ist eine tiefgreifende Frage. Wir haben hier nicht den Raum, diesen dringenden Themenkomplex zu erörtern. Tatsächlich aber hat man auf echte oder eingebildete Krisen stets eher mit Waffengewalt als mit Friedenswillen reagiert.
Das ist fast ein Reflex, und die Folgen waren im Allgemeinen schrecklich - für die üblichen Opfer. Es lohnt sich immer, sich um Verständnis zu bemühen und die wahrscheinlichen Folgen des Handelns oder Nichthandelns ein oder zwei Schritte vorauszudenken. Das sind natürlich Binsenweisheiten, aber es lohnt sich, sie zu wiederholen, weil sie in Zeiten der verständlichen Empörung leicht überhört werden.
Die Optionen, die nach der Invasion verbleiben, sind düster. Das geringste Übel besteht in der Unterstützung für die noch verbleibenden diplomatischen Auswege. Dabei geht es um die Hoffnung darauf, ein Ergebnis zu erzielen, das nicht allzu weit von dem entfernt ist, was vor ein paar Tagen noch sehr wahrscheinlich erreichbar gewesen wäre: Die Aushandlung eines neutralen Status für die Ukraine im Stile Österreichs, eine Version des Minsk-II-Föderalismus im Inneren
Das ist nun viel schwieriger zu erreichen. Es wäre notwendigerweise auch eine Exit-Strategie für Putin nötig. Gelingt das nicht, werden die Folgen für die Ukraine und alle anderen noch schlimmer sein, vielleicht fast unvorstellbar – und sicherlich sehr weit weg von Rechtsstaatlichkeit.
Aber wann hat sich in internationalen Angelegenheiten Gerechtigkeit durchgesetzt? Ist es notwendig, die erschreckende Bilanz noch einmal zu überprüfen?
Ob es einem gefällt oder nicht, die Wahlmöglichkeiten reduzieren sich nun auf ein hässliches Ergebnis, das Putin für den Akt der Aggression eher belohnt als bestraft – oder auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines ultimativen Krieges. Es mag sich befriedigend anfühlen, den Bären in eine Ecke zu treiben, von der aus er verzweifelt ausschlägt. Sehr weise ist das sicher nicht.
In der Zwischenzeit sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um diejenigen zu unterstützen, die ihr Heimatland tapfer gegen grausame Aggressoren verteidigen, die vor den Gräueln fliehen und die Tausende mutiger Russen, die sich öffentlich und unter großem persönlichem Risiko gegen die Verbrechen ihres Staates stellen. Sie sind ein Vorbild für uns alle.
Und wir sollten auch versuchen, Wege zu finden, einer viel größeren Gruppe von Opfern zu helfen: allem Leben auf der Erde. Diese Katastrophe ereignete sich zu einem Zeitpunkt, an dem alle großen Mächte, ja wir alle, zusammenarbeiten müssen, um die große Geißel der Umweltzerstörung in den Griff zu bekommen, die bereits jetzt einen hohen Tribut fordert und bald noch viel verheerender werden wird, wenn nicht rasch große Anstrengungen unternommen werden. Um das Offensichtliche zu verdeutlichen, hat der Weltklimarat (IPCC) unlängst die jüngste und bei Weitem bedrohlichste seiner regelmäßigen Einschätzungen darüber veröffentlicht, wie wir auf eine Katastrophe zusteuern.
In der Zwischenzeit sind die notwendigen Maßnahmen ins Stocken geraten oder sogar umgekehrt worden, da dringend benötigte Ressourcen für die Zerstörung aufgewendet werden und die Welt damit nun auf dem Weg ist, die Nutzung fossiler Brennstoffe, einschließlich der gefährlichen und reichlich vorhandenen Kohle auszuweiten.
Eine groteskere Entwicklung könnte sich ein bösartiger Dämon kaum erträumen lassen. Es kann nicht ignoriert werden. Jeder Moment zählt.
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