Ukraine-Krieg: Warum der Westen den Mearsheimer-Plan ergreifen sollte
Der US-Außenpolitikexperte hat einen radikalen Vorschlag. Doch nur auf den ersten Blick ist er "radikal". Denn die Risiken in der Ukraine nehmen zu. Gastbeitrag
Während einer Podiumsdiskussion, die kürzlich vom YouTube-Kanal Neutrality Studies und dem American Committee for US-Russia Accord veranstaltet wurde, schlug der renommierte Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer eine auf den ersten Blick radikale Lösung für die Krise in der Ukraine vor.
Auflösung der Sicherheitsbeziehung USA-Ukraine
"Ich denke, was hier getan werden muss", so Mearsheimer, "ist, dass wir die Sicherheitsbeziehungen des Westens zur Ukraine grundsätzlich auflösen müssen. Es reicht nicht aus, zu sagen: ‚Die Ukraine wird nicht Teil der Nato werden‘."
Große Gefahr
Wir müssen unsere Sicherheitsbeziehungen zur Ukraine vollständig kappen, damit die Russen sich einigermaßen sicher fühlen, dass der Westen nicht heimlich versuchen wird, die Ukraine de facto zu einem Mitglied der Nato zu machen. Zweitens sollten wir die Ukraine drängen, sofort ernsthafte Verhandlungen mit den Russen aufzunehmen, damit sie am Ende nur das Gebiet verliert, das sie bereits verloren hat.
"Die große Gefahr", so fuhr er fort, "besteht darin, dass wir, wenn dieser Krieg weitergeht und wir weiterhin damit drohen, die Ukraine in die Nato zu holen, den Russen einen immer größeren Anreiz geben, mehr von der Ukraine einzunehmen und die Ukraine zu einem dysfunktionalen Rumpfstaat zu machen, sodass sie, sollte sie jemals Teil der Nato werden, keine ernsthafte Bedrohung für Russland darstellen würde."
Die Nato sollte also jetzt klarstellen, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen wird und die Ukraine auf sich allein gestellt ist, wenn es darum geht, eine Sicherheitsbeziehung zu Russland aufzubauen.
Nato geht in die andere Richtung
Es überrascht niemanden, dass die Nato anscheinend genau das Gegenteil von dem anstrebt, was Mearsheimer empfiehlt. Erst letzte Woche wurde berichtet, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen 100-Milliarden-Dollar-Fonds einrichten will, um die Ukraine weiter aufzurüsten.
Ferner würde der "Mission-to-Ukraine"-Plan die operative Kontrolle über die Ramstein-Gruppe der Nato übergeben, ein Konsortium, das von den USA geführt wird und die militärischen Lieferungen an die Ukraine überwacht.
Ein solcher Schritt, so ein anonym bleibender Diplomat in einem Gespräch mit der Financial Times, würden den "Rubikon überschreiten. Die Nato wird dann Teil der Koordinierung der letalen Unterstützung für die Ukraine sein".
Gefahren und verpasste Chancen
Obwohl der allgemeine, wenn auch missmutig eingestandene, Konsens ist, dass die Ukraine den Kampf umfassend verliert, scheint der Krieg in eine noch gefährlichere Phase einzutreten, da eine Beteiligung der Ukraine am Terroranschlag auf die Moskauer Krokus-Stadthalle möglich (wenn auch bei Weitem nicht bewiesen) ist und die Serie von Anschlägen in Russland und auf russische Ölraffinerien anhält.
Insofern macht Mearsheimers Aufruf, die Sicherheitsbeziehungen zu den USA aufzukündigen, durchaus Sinn – und könnte in der Tat eine der einzigen Hoffnungen der Ukraine auf eine Zukunft in Europa sein.
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In der Tat könnte man argumentieren, dass die Ukraine in den Jahren nach dem Maidan-Putsch von 2014 ein Jahrzehnt wertvoller Zeit vergeudet hat. Die anschließende russische Annexion der Krim und die Bildung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk hätten vielleicht besser als Chance für das Land und seine ethno-nationalistisch gesinnten Eliten im Westen des Landes gesehen werden sollen.
Unklugen Entscheidungen
Vertreter mit mehr Einsicht hätten in Washington und Brüssel (wenn es denn welche gibt) Kiew darauf hinweisen können, dass es ihren Interessen nicht dienlich ist, einen Krieg um den überwiegend russischen Teil der Bevölkerung in den östlichen und südlichen Regionen des Landes zu führen.
Schließlich waren es diese Gebiete, die die zentrale Wählerschaft für die "Partei der Regionen" [die Partei von Wiktor Janukowytsch] bildete, einem Block, dem die vom Westen unterstützten Eliten Kiews seit der Orangenen Revolution 2004 immer wieder versuchten, die Rechte zu entziehen.
Es gab kaum eine Garantie dafür, dass ein Bürgerkrieg die durch den blutigen Putsch auf dem Maidan ausgelösten Unruhen beenden würde, geschweige denn eine Versöhnung herbeiführen könnte.
Tödliche Freundschaft
Das Risiko war aber größer, dass er den Ruin bringen, und schließlich, wie geschehen, die Russen in den Konflikt ziehen würde. Die umstrittenen Gebiete abzutreten, die Nato-Mitgliedschaft aufzugeben, einen bilateralen Sicherheitsvertrag mit dem Kreml auszuarbeiten und sich auf die Erfüllung der Anforderungen für einen EU-Beitritt zu konzentrieren, wäre der vernünftigere Weg gewesen.
Doch Kiew beging den fatalen Fehler, auf Washington und die neokonservativen sowie liberalen Interventionisten zu hören, die das Sagen haben und mit jedem weiteren Abenteuer die Wahrheit von Henry Kissingers Grundsatz beweisen: "Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Freund der USA zu sein, ist tödlich."
John Mearsheimer hat recht: Um der Ukraine willen sollte der vom Westen finanzierte Stellvertreterkrieg beendet werden. Die Ukraine sollte auf streng bilateraler Basis eine Verhandlungslösung mit Moskau anstreben. Eine Eskalation des Krieges liegt in niemandes Interesse, am allerwenigsten in dem der Ukraine.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem Magazin Brave New Europe. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
James W. Carden war während der Obama-Regierung als Berater des Sonderbeauftragten für zwischenstaatliche Angelegenheiten im Außenministerium tätig und schreibt für zahlreiche Publikationen. Er ist Vorstandsmitglied vom American Committee for U.S.-Russia Accord (ACURA).