Venezuela will die Revolution "radikalisieren"
Mit der Ankündigung weiterer Nationalisierungen von strategischen Sektoren der Wirtschaft tritt Hugo Chávez in die Stapfen des Bolivianers Evo Morales
Der Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, hat für seine dritte Amtszeit die Kontrolle über den gesamten Energiesektor angekündigt. Schon vergangene Woche hatte er im Rahmen seiner Vereidigung für Aufregung gesorgt, als er von Nationalisierungen im Strom- und Telefonsektor sprach. In den nächsten sechs Jahren soll die "sozialistische Revolution" in Venezuela "radikalisiert" werden. Dafür soll Chávez erneut Sondervollmachten erhalten. Er strebt auch eine Verfassungsänderung an, um sich erneut ins Amt wählen lassen zu können. Für Lateinamerika will er eine gemeinsame Währung, ähnlich des Euro, auf den Weg bringen.
63,1 Prozent der Wähler hatten bei den Wahlen im Dezember dem alten und neuen Präsidenten Venezuelas das Vertrauen ausgesprochen. So konnte Hugo Chávez am vergangenen Mittwoch gestärkt seinen Amtseid leisten. Das tat er, wie stets, in seiner ganz eigenen Art. Nach kubanischem Vorbild beschwor er die Formel: "Vaterland, Sozialismus oder Tod!" Doch fügte er ihr einige Passagen an, die für die viele in Venezuela den Begriff Sozialismus verdaulicher machen sollten.
Ich schwöre es bei Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte. Ich schwöre es vor Gott, bei allen Dollar, Lieben und Hoffnungen.
Denn Chávez will vor allem seinen Sozialismus vorantreiben und sieht sich dabei durch die wachsende Zustimmung an den Urnen bestätigt. Als er 1998 erstmals die Wahlen mit 56 % der Stimmen gewann, habe er dies für einen großartigen Sieg gehalten. Doch statt 3,7 Millionen Menschen hätten ihn im Dezember schon 7,3 Millionen Menschen gewählt. Für die Wahlen in sechs Jahren strebt er 10 Millionen Stimmen an, sagte Chávez voraus. Seine Wahlkampagne für 2012 habe schon begonnen.
Die Zustimmung nutzt er, um nun das Reformtempo zu erhöhen und die "sozialistische Revolution" zu radikalisieren. Was er als seine Wahlkampagne versteht, hatte er schon zur Amtseinführung angedeutet. Er kündigte an, die größte Telekommunikationsfirma und die Stromversorgung der Hauptstadt wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Sowohl die Compañía Anónima Nacional Teléfonos de Venezuela (Cantv) als auch die Electricidad de Caracas (EDC) waren vor seinem Wahlsieg in den 1990er Jahren privatisiert worden.
Bei der Vorstellung seines Rechenschaftsberichts für 2006 ließ er am Samstag keinen Zweifel daran, dass es nicht um Stückwerk geht.
Wir haben entschieden, den gesamten venezolanischen Energie- und Stromsektor zu verstaatlichen, alles, absolut alles.
Damit soll das Land die "vollständige Souveränität über den Energiesektor" zurückerhalten. Mit dieser Linie knüpft Chávez an den Prozess an, den Evo Morales in Bolivien eingeleitet hat (Boliviens Parlament verabschiedet umstrittene Landreform). Bisher hatte Caracas nur auf der staatlichen Kontrolle der Erdölindustrie gezielt. Wie der Bolivianer spricht Chávez ebenfalls nicht von Enteignungen ("Die Ausplünderung der Bodenschätze ist beendet"). Die Kontrolle über die Schlüsselsektoren der Wirtschaft soll durch Mehrheitsbeteiligungen an den Firmen erreicht werden. So war es nicht verwunderlich, dass die Aktiennotierung der Cantv an der Börse in New York sogar um mehr als 15 % gestiegen sind.
Sogar die Wortwahl von Chávez war der von Morales sehr ähnlich. "Wer unser Partner bleiben will, dem halten wir die Tür offen." Die Firmen, die sich mit einer Minderheitsbeteiligung nicht abfinden wollen, forderte er auf, das jeweilige Erdöl- oder Gasfeld zu übergeben. "Good bye, very good bye, good luck, thank you very much." Es könnte Venezuela allerdings bis zu 33 Milliarden Euro kosten, wenn die Verhandlungen mit den betroffenen Firmen über die Vertragsanpassung scheiterten, rechnete der Finanzminister Rodrigo Cabezas vor.
Wie in Bolivien, wo Morales kürzlich mit den Öl- und Gasmultis neue Verträge geschlossen hat, werden diese sich wohl auch in Venezuela anpassen. Als Beispiel führte Chávez auch die "fast fertigen" neuen Verträge mit Ölfirmen über deren Minderheitsbeteiligungen an den Vorkommen im Orinoco-Becken an, "wo einige transnationale Firmen noch eine Aktienmehrheit haben". Die neuen Verträge seien in gegenseitigem Übereinkommen geschlossen worden. Die Firmen hätten ihre Minderheitenposition akzeptiert und die Geschäfte werden demnächst von der staatlichen Petróleos de Venezuela Sociedad Anónima (PDVSA) kontrolliert. "Dieser Prozess erlaubt es, sechs Milliarden Euro bis 2010 zu sparen", erklärte Chávez. Betroffen sind die US-Firmen Chevron, Conoco Phillips und Exxon Mobil, die französische Total und die britische BP.
Sondervollmachten für Chavez
Um den Prozess voranzutreiben und um die "Revolution zu vertiefen", will er sich vom Parlament auch Sondervollmachten erteilen lassen. Ebenfalls am Samstag wurde ein "Befähigungsgesetz" dem Parlament übergeben. Am Dienstag soll es "dringlich" behandelt werden, sagte die Parlamentspräsidentin Cilia Flores. Die Sondervollmachten sollen für ein Jahr gelten. Das Parlament werde prüfen, in welchen Bereichen der Präsident besondere Vollmachten fordere. In dem Antrag seien keine Gesetze ausgeführt, sondern Bereiche definiert, erklärte Flores.
Sie erinnerte daran, dass Chávez schon zweimal über Befähigungsgesetze besondere Vollmachten erhielt. 1999 wurde er ermächtigt, innerhalb von sechs Monaten den Staatshaushalt zu sanieren. Im November 2000 entschied das Parlament, ihm zu erlauben Dekrete in der Wirtschafts- und Industriepolitik sowie zur Reform der öffentlichen Verwaltung ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen (Das Ende der Ära Chávez). Unter den damals erlassenen Gesetzen waren auch das neue Erdölgesetz, wonach ausländische Firmen nicht mehr die Kontrolle über das Erdöl haben dürfen und das Landgesetz, das eine Landreform ermöglichte.
Da sich Chávez 2013 erneut ins Amt wählen lassen will, muss auch die Verfassung geändert werden. Die Bevölkerung werde schon bald darüber abstimmen können, kündigte er an. Die Regierung arbeite schon den Vorschlag für die "unbegrenzte Wiederwahlmöglichkeit" des Präsidenten aus. "Falls sie von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werde, bin ich der erste der über diese Entscheidung applaudieren würde", sagte Chávez, um Vorwürfen der Opposition zu begegnen. In der neuen Verfassung sollten auch die Verstaatlichungen im Energiesektor festgeschrieben werden.
Auch für Lateinamerika hat Chávez neue Vorstellungen präsentiert. Er will eine Einheitswährung, ähnlich des Euro, einführen. Damit soll die Bolivarianische Alternative für Amerika (ALBA) ausgeweitet und gestärkt werden, das als Alternativprojekt zum Freihandelsabkommen ALCA der USA vorangetrieben wird. "Ich habe meinen Kollegen vorgeschlagen, in die Richtung einer lateinamerikanischen Währung, unserer Währung, zu gehen, die von unserem Reichtum, unserem wirklichen Potential, das sehr hoch ist, gestützt wird", sagte Chávez. Der US-Regierung warf er vor, ein riesiges Defizit von 160 Milliarden Dollar angehäuft zu haben, das damit abgefangen werde, dass diese "verantwortungslose Regierung" immer neue wertlose Dollar druckt. "Wenn diese Blase platzt", könnte das die "gesamte Welt erschüttern", warnte er. Deshalb sei es nicht ratsam, Dollarreserven anzulegen.
Neben Bolivien und Kuba hat die Alternative von Chávez erneut ein Mitglied gewonnnen. Wie erwartet, hat sich die sandinistische Regierung in Nicaragua nach dem Wahlsieg und dem Amtsantritt von Daniel Ortega letzte Woche zum ALBA-Beitritt entschlossen. Im Wahlkampf hatten sich die Sandinisten bedeckt gehalten (Sandinisten siegen erneut in Nicaragua). Im Gegenzug hat Venezuela dem völlig verarmten mittelamerikanischen Land solidarische Hilfe in den Bereichen Energieversorgung, Landwirtschaft, Gesundheit und Bildung zugesagt.
Gemeinsam mit Iran will Venezuela die Grundlage für seine Politik sichern, den Erdölpreis. Angesichts des derzeitigen Besuchs des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in Caracas warf Chávez den USA vor, sie versuchten die OPEC zu untergraben, um den Ölpreis zu senken. Gemeinsam werde man dies aber verhindern, weshalb die Produktion gedrosselt werden soll. In der "strategischen Allianz" soll auch die Kooperation in den Bereichen Energie, Industrie, Handel und Wohnungsbau intensiviert werden.