"Verletzung des zwischen Staaten geltenden Interventionsverbots"

Seite 4: 3. Sezession und Selbstbestimmungsrecht

Die pro-russischen Separatisten haben bereits im April 2014 die Gebiete im Osten der Ukraine Luhansk und Donezk für unabhängig erklärt.9 Russland hat die "Volksrepubliken" zwar erst am 21. Februar 2022 anerkannt, aber die pro-russischen Separatisten bereits seit 2014 sowohl politisch als auch finanziell unterstützt.10 Auch wurde immer wieder von einer aktiven militärischen Unterstützung Russlands berichtet.11

Zur völkerrechtlichen Bewertung der Rolle Russlands im Ost-Ukraine-Konflikt wird an dieser Stelle auf den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste zum Thema: "Intervention in Bürgerkriegsgebieten: Zur Rolle Russlands im Ost-Ukraine-Konflikt" vom 9. Dezember 2019 verwiesen.12

3. 1. Einseitige Unabhängigkeitserklärung

Es stellt sich jedoch die Frage, ob schon die in der Vergangenheit liegenden Unabhängigkeitserklärungen der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk vom April 2014 einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen. In seinem Gutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aus dem Jahre 2008 stellte der Internationale Gerichtshof (IGH) fest, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen nicht gegen das allgemeine Völkerrecht verstoßen.13 Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, für die Zulässigkeit von Unabhängigkeitserklärungen enthalte das Völkerrecht keine Vorgaben, und auch das Gebot der territorialen Integrität (Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta) sei nicht berührt, da es nur auf zwischenstaatliche Beziehungen Anwendung findet.14 Für die Rechtmäßigkeit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung kommt es daher allein auf das nationale Verfassungsrecht des Mutterstaates an. Da die ukrainische Verfassung ein entsprechendes Verfahren für Unabhängigkeitsreferenden nicht vorsieht, verstoßen die Unabhängigkeitserklärungen von Donezk und Luhansk vom April 2014 zwar gegen ukrainisches Verfassungsrecht, sind aber völkerrechtlich wohl nicht zu beanstanden.15

3.2. Träger des Selbstbestimmungsrechts

Zentral für die völkerrechtliche Bewertung der Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ost-Ukraine ist hingegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das sich die Separatisten in Donezk und Luhansk berufen.16 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zählt zu den Grundprinzipien des Völkerrechts. Es ist in Art. 1 Ziffer 2 sowie Art. 55 VN-Charta verankert und hat seinen Ausgangspunkt in der Dekolonisierungsphase.17 Mit der Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker in die beiden VN-Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966 wurde es zudem als kollektives Menschenrecht verbindlich kodifiziert und in der Friendly Relations Declaration von 1970 erneut bekräftigt. In der Völkerrechtswissenschaft wird zwischen einem inneren und einem äußeren Selbstbestimmungsrecht unterschieden.18 Während die innere Dimension den Schutz kultureller und politischer Autonomierechte eines Volkes umfasst, betrifft das äußere Selbstbestimmungsrecht das Recht auf Abspaltung aus dem Staatenverband, welches jedoch außerhalb der Dekolonisierungsprozesse sehr umstritten ist (siehe 3.3).19

Fraglich ist jedoch, ob die russischstämmige Bevölkerung in Donezk und Luhansk überhaupt ein eigenes Volk und damit Träger des Selbstbestimmungsrechts ist. Bislang existiert keine allgemein anerkannte, abstrakte Definition des Begriffs "Volk".20 Einigkeit besteht lediglich darüber, dass Träger des Selbstbestimmungsrechts nur Völker und keine Staaten sind.21 Der Begriff eines Volkes wird daher anhand verschiedener subjektiver und objektiver Kriterien näher konkretisiert.22 Zunächst wird überwiegend verlangt, dass sich eine Personengruppe selbst als Volk mit eigener Identität versteht und über einen gemeinsamen Willen zur Selbstbestimmung verfügt.23

Hinzu kommen objektive Kriterien wie Sprache, Kultur, Religion, Territorium, gemeinsame Abstammung und Geschichte.24 Vom "Volk" abzugrenzen sind Minderheiten, die sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen können.25 Vor diesem Hintergrund scheint es völkerrechtlich sehr zweifelhaft, ob man von einem eigenen Volk der Separatisten sprechen kann. Schließlich verfügt die russischstämmige Bevölkerung in der Ost-Ukraine über keine eigene Sprache und steht vielmehr dem russischen Volk nahe. Dafür spricht auch, dass Russland seit April 2019 vermehrt russische Pässe an die ukrainische Bevölkerung im Donbas verteilt hat.26 Daher dürfte die russischstämmige Bevölkerung im Donbas wohl eher eine nationale Minderheit darstellen.27

Widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang auch, dass Russland anlässlich der Verhandlungen über das Kosovo-Gutachten des IGH eine Abspaltung des Kosovo von Serbien unter anderem mit dem Hinweis darauf ablehnte, die Kosovo-Albaner seien kein eigenes Volk, wohingegen der russische Präsident die russischstämmige und russischsprachige Bevölkerung im Donbas ohne nähere Begründung als Volk und damit Träger des Selbstbestimmungsrechts akzeptiert hat.28 Letztlich kann es jedoch dahingestellt bleiben, ob die beiden "Volksrepubliken" im Donbas über ein eigenes Volk verfügen und sich daher auf das Selbstbestimmungsrecht berufen können, da aus dem Selbstbestimmungsrecht nur unter ganz engen Voraussetzungen ein Recht auf Sezession folgt, die vorliegend nicht erfüllt sind (3.3).

3.3. Sezessionsrecht

Das Völkerrecht ist grundsätzlich sezessionsfeindlich, da ein Recht zur Abspaltung im Spannungsverhältnis zu dem Recht eines Staates steht, seine territoriale Integrität und Souveränität zu wahren.29 Im Zweifelsfall wird der Stabilität zwischenstaatlicher Beziehungen Vorrang gewährt.30 Ein generelles Sezessionsrecht kennt das Völkerrecht daher nicht.31 Dies wird in der Friendly-Relations-Declaration aus dem Jahr 1970 deutlich32:

Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten, die sich gemäß dem oben beschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt, ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.

Außerhalb von Dekolonisierungsprozessen oder bei Einigkeit zwischen Territorialstaat und Sezessionsgebiet wird ein Recht auf Sezession daher allenfalls in Ausnahmefällen anerkannt, in denen ein Verbleib im Staatsverband schlicht nicht zumutbar ist, z. B. aufgrund genozidaler Handlungen, ethnischer Vertreibungen oder Menschenrechtsverletzungen schwersten Ausmaßes ("remedial secession").33 Der Internationale Gerichtshof hatte in seinem Kosovo-Gutachten von 2010 nicht darüber entschieden, ob eine solche Situation im Kosovo vorlag und lediglich festgestellt, dass Differenzen darüber bestehen, ob das Völkerrecht ein Recht auf "remedial secession" vorsieht.34

Russland äußerte sich damals vor dem Gerichtshof dahingehend, dass unter bestimmten Bedingungen auch eine Berechtigung zur Sezession aus der Friendly-Relations-Declaration abgeleitet werden könne.35 Dies sei jedoch auf extreme Umstände beschränkt,36

etwa auf den Fall eines offenen bewaffneten Angriffs durch den Mutterstaat, der die Existenz des betroffenen Volkes bedrohe. Jedenfalls müsse dieses Volk fortdauernd schwersten und existenzgefährdenden Formen der Unterdrückung ausgesetzt sein. Sofern solche Umstände nicht gegeben seien, müssten alle Bemühungen unternommen werden, um die Spannungen zwischen Mutterstaat und betroffener ethnischer Gemeinschaft innerhalb des bestehenden staatlichen Rahmens beizulegen.

Mit Blick auf den Kosovo sieht Russland diese Voraussetzungen als nicht gegeben an, weil die Kosovo-Albaner nicht fortwährend schwersten Formen der Unterdrückung ausgesetzt gewesen seien (trotz der Kriegsverbrechen, die der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien bestätigt hat).37 Indessen behauptete der russische Präsident wiederholt, der Umgang der Ukraine mit der russischen Bevölkerung im Donbas laufe auf einen Genozid hinaus, obwohl Berichte unabhängiger Beobachter im Donbas (VN, OSZE, UNCHR) keinerlei Anhaltspunkte für diese Behauptung sehen.38

Auch wenn es im Zuge des Konflikts in der Ost-Ukraine zu Diskriminierungen und möglicherweise auch Menschenrechtsverletzungen sowie zu Verstößen beider Seiten gegen das Minsker Abkommen gekommen sein sollte, sind keine Anhaltspunkte für genozidale Handlungen ersichtlich, so dass ein Recht auf Sezession der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ausscheidet.39