Vom Chaos, der Virtuellen Realität und der Endophysik

Seite 3: Die Welt von innen und von außen

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Wäre dies denn wirklich eine andere Perspektive als beispielsweise die der klassischen Physik, die von der Möglichkeit eines externen Beobachters ausging, der nicht auf das Geschehen, das er beobachtet einwirkt?

RÖSSLER: In der klassischen Physik meinte man, es wäre so, daß jeder Beobachter von vornherein draußen ist. Das ist nicht wahr. Wenn man annimmt, daß die klassische Physik auf unsere Welt zutrifft und daß auch wir Teil der klassischen Physik wären, dann könnte man nicht so privilegiert sein wie der Superbeobachter, sondern man wäre in der Welt. Dann würde sich genau solch ein eigentümliches Interface bilden, durch das das wirklich Objektive verzerrt wäre. Daher würde für den klassischen Beobachter in einer klassischen Welt nur eine Interface-Objektivität übrigbleiben. Wenn Sie sich die Schnittstelle wie einen kleinen Bildschirm vorstellen, in den alles hineinprojiziert ist, dann hat der Beobachter in diesem Fenster eine Objektivität zur Verfügung. Das ist seine beobachter-objektive Realität, die aber nicht mit der identisch ist, die ein Superbeobachter zur Verfügung hätte. Man hat naiv gedacht: klassisch heißt verständlich, verständlich heißt privilegiert, also gibt es keinen Unterschied zwischen dem In-der-Welt-Sein und dem Außerhalb-der-Welt-Sein. Das ist falsch.

Gehen wir einmal davon aus, daß jeder Mensch sich in der Welt befindet und ein bestimmtes Interface hat. Er sitzt gewissermaßen auf einem Interface, das er nicht überschreiten kann. Wie kann er dann zur Konstruktion einer Welt kommen, die höherstufig ist? Wenn man davon ausgeht, daß dieses jeweilige Interface nicht überschreitbar ist, dann wäre dieser potentielle Blick von außen auf sich doch gar nicht denkmöglich.

RÖSSLER: Richtig. Aber das ist doch das Nette daran: daß man einsehen kann, daß es sich nicht überschreiten läßt, und daß es existiert, so daß man es durch diese Einsicht doch auf einer Metaebene überschreitet, indem man sich einfach als Fisch in einem Aquarium sieht. Das kann man. Man kann zwar nicht das Wasser verlassen. Chuangtse hat, glaube ich, gesagt, daß für die Fische das Wasser eine unbekannte Größe ist, weil sie es immer um sich haben. So ist es mit uns auch. Trotzdem kann man es sich als Fisch vorstellen, daß man herauskönnte - so wie man in der menschlichen Gesellschaft diese Exteriorität gegenüber einem anderen Individuum hat: man kann sich in ihn hineinversetzen oder auch nicht. Das ist der Anfang oder sogar die Essenz der Moral. Diese Möglichkeit der externen Position ist nicht nur ein soziologisches Phänomen, sondern man kann es auch auf die Welt übertragen. Vielleicht gibt man dabei der Welt einen Rang, den sie gar nicht verdient, nämlich fast den Rang einer Person. Man tritt in einen Dialog mit der Welt als ganzer.

Wenn man einmal davon ausgeht, daß die Naturwissenschaften, ganz naiv gesagt, davon ausgingen, Objektivität festzustellen und dies experimentell zu überprüfen, dann müßten Sie ja sagen, daß das, was dort festgestellt werden kann, nur eine bestimmte, von der jeweiligen Schnittstelle abhängige Erscheinung von Welt ist. Wie kann man nun aber Experimente machen, die das als überschreitbar angenommenen Interface belegen, also daß es möglicherweise noch eine andere Welt, vielleicht auch mit anderen Gesetzen gibt? Läßt sich das naturwissenschaftlich oder empirisch beweisen?

RÖSSLER: Das ist genau die Idee, warum man so fremdartige Vorstellungen überhaupt entwickelt. Man hofft, daß man den kleinen Unterschied tatsächlich durch Experimente festnageln kann. Diese Experimente müßten anders als alle bisherigen sein. Die bisherigen Experimente versuchen ja nur, eine Vorstellung über die Welt, die im Inneren der Welt gemacht wurde, zu verifizieren. Das ist eine relativ einfache Aufgabe, obwohl jeder Experimentator mir hier sofort mit Recht widersprechen muß. Es gibt nichts Schwierigeres, als ein gutes Experiment zu machen. Trotzdem ist die Philosophie irgendwie einfach.

Die Experimente, von denen wir hier sprechen, wären von einem ganz anderen Typ, denn wir haben ja gegenüber unserer Welt gerade nicht die exteriore Position, die wir annehmen. Wie können mit diesem Problem so umgehen, daß wir uns im Computer eine Kunstwelt bauen, für die wir diesen privilegierten Zugang von außen besitzen. Dann können wir sehen, wie die Leute in dieser Kunstwelt ihre Welt sehen und worin dies sich von unserer Sicht unterscheidet. Das geht, weil das eine moderne Computerspielerei ist, die im Prinzip machbar ist, wobei es ja gar nicht darauf ankommt, ob man es wirklich schon machen kann. Es geht viel besser, wenn man es noch nicht wirklich machen kann, weil man dann noch nicht weiß, welche Schwierigkeiten man auf dem Weg dorthin noch überwinden muß. Angenommen, man versetzt sich in so eine Identitätseinheit, wie das in Faßbinders Film "Welt am Draht" heißt, der auf Daniel F.Galouyes Buch "Simulacron 3" von 1964 basiert.