Warum eine Debatte über den Etablierungskurs von Linken und Grünen notwendig ist

Seite 2: Zum Etablierungskurs von Linken und Grünen

Dass sich Parteien in einem stetigen Umbruch befinden, ist nichts Neues. Doch der Wandel der Grünen und die Spannungen in der Linken der vergangenen Jahre sind beispiellos in der parlamentarischen Nachkriegsdemokratie dieses Landes.

In beiden Fällen ist die Richtung identisch – hin zu einer zunehmenden Staatsnähe, weg von der Oppositionsrolle. Getrieben werden beide Parteien von dem unbedingten Willen, zu regieren. Denn Regieren schafft Posten. Regieren ist lukrativ. Opposition ist arm und unsexy. Oder eben Mist, um Franz Müntefering zu rezitieren.

Der Etablierungskurs schadet nicht nur der parlamentarischen Opposition, die allerorts fehlt. Sie sorgt zugleich für massive interne Konflikte. In der Linken werden diese Differenzen gewöhnlich mit einer steigenden Lust an der Selbstzerstörung über die bürgerliche Presse ausgetragen. Das ist ebenso unehrlich wie die inhaltliche Auseinandersetzung.

Als die ehemalige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht im Bundestagsplenum einen "Wirtschaftskrieg" gegen Russland kritisierte, forderten mehrere Vertreter des Realo-Flügels mit moralisierendem Impetus (mal wieder) ihren Rauswurf.

Als Wagenknecht-Gegenspieler Bodo Ramelow nun Waffenlieferungen an die Ukraine guthieß und damit mit den Beschlüssen der Partei brach … geschah nichts. Beifall gab es dafür vom Faschistenversteher Andrej Melnyk.

Dieses Ungleichgewicht in der Kritik und Debattenkultur zeigt, in welchem Maße sich die Linkspartei und ihre Fraktion zur staatstragenden Kraft entwickelt haben – und auch deswegen wohl in absehbarer Zeit erneut spalten wird.

Die Grünen beweisen da mehr Disziplin, die Konflikte sind aber die Gleichen, wie die ehemalige Grünen-Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer im Telepolis-Interview betonte: "Führende Grüne bezeichnen sich und die Partei als staatstragend. Aber wo tragen Sie diesen Staat hin?"

Bei Linken und Grünen ist vor allem die Außenpolitik umkämpft. "Die Grünen haben ihren historischen Platz preisgegeben", sagte Vollmer dazu im Interview mit Telepolis. Der Positionswandel der Grünen wird sich nach ihrer Ansicht vor allem in der Außenpolitik deutlich, die mit Außenministerin Annalena Baerbock von einer Parteifreundin maßgeblich gestaltet wird.

"Die alte Friedensbewegung in der BRD und der DDR hat die Aufrüstung in Ost und West in gleicher Weise angegriffen und damit einen höchst umstrittenen Standort gewählt", so Vollmer. Dies habe "erstaunliche Erfolge" gebracht: "Heute neigen die Grünen dazu, sich voreilig auf die Seite der vermuteten Sieger der Geschichte zu stellen"

Die Selbstdefinition der Grünen sieht sie durch die aktuelle Politik der Partei untergraben. "Es gibt keine inhaltliche Debatte über die jetzt brennende Frage: Wie kommen wir denn zum Frieden hin? Das Wort Verantwortung wird inflationär gebraucht als Ausdruck pathetischer Selbstvergewisserung. Führende Grüne bezeichnen sich und die Partei als staatstragend. Aber wo tragen Sie diesen Staat hin?"

Niemand habe bislang die Frage zufriedenstellend beantwortet, wie in Europa wieder eine stabile Friedensordnung etabliert werden könne. "Das letzte Konzept, an das ich mich erinnere, stammt von Michail Gorbatschow."

Angesichts des Ukraine-Krieges kritisierte sie die westlichen Sanktionspolitik grundsätzlich als kontraproduktiv: "Wir sollten uns schon ernsthaft und grundsätzlich die Frage stellen, ob die Politik der Sanktionen auch nur den geringsten Erfolg auf der gegnerischen Seite hatte."

Dies gelte nicht nur in Bezug auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin, sondern auch mit Blick auf die Sanktionen gegen Iran, Kuba und andere Staaten.

"Solche Maßnahmen haben immer dazu geführt, dass die betroffene Bevölkerung verelendet ist und unter einen ganz großen ökonomischen Druck gerät, während in den Machtetagen die Hardliner das Oberwasser bekamen", führte Vollmer aus. Wenn dagegen die Sanktionen auch nur wenig gelockert wurden, hätten die Reformer in diesen Ländern mehr Spielraum erhalten.

Zugleich sei der Grundton westlicher Debatten gegenüber den neu aufkommenden Problemen in der Welt "vom Gefühl unanfechtbarer Überlegenheit" getragen, an der es nicht den geringsten Zweifel geben dürfe. "Aber genau dieser Zweifel ist notwendig.

Vor allem muss man hellhörig werden gegenüber den Stimmen, die bei uns sehr leise geworden sind", mahnte die ehemalige Vizepräsidentin des Bundestags im Telepolis-Interview.

Konkret bedeute dies in Bezug auf die zunehmenden Konflikte des Westens, "dass wir uns etwa fragen müssen, warum Länder wie Indien oder Indonesien diese große Polarisierung zwischen China und dem Westen nicht mitzumachen bereit sind".

Verantwortlich für die Verengung der politischen Debatte über globale Probleme und die Rolle westlicher Staaten seien auch politische Stiftungen und Thinktanks, so Vollmers These. Besondere Kritik übte sie in diesem Zusammenhang an der Organisation Zentrum Liberale Moderne ihrer ehemaligen Grünen-Parteifreunde Ralf Fücks und Marieluise Beck.

"Diese sogenannte NGO ist ein besonders eklatantes Beispiel eines hybriden politischen Thinktanks. Zwei ehemalige Spitzenpolitiker nutzen sämtliche Netzwerke der Institutionen, in denen sie lange tätig waren, und gründen dann mit Staatsgeld einen antirussischen Thinktank, den sie "Non Government Organisation" nennen und der durch keine echte Praxis im Land ausgewiesen ist", so Vollmer, die von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Bundestags war.

Das langsame Verschwinden der Opposition und immer engere Diskurskorridore – diese Themen scheinen viele Menschen zu bewegen. Die Reaktionen waren daher erheblich.

So bedankte sich Telepolis-Leser Daniel Schmidt aus München für das Vollmer-Interview.

Mein inneres Weltbild ist zutiefst erschüttert. Als 1973er-Jahrgang war ich zu DDR-Zeiten gleichzeitig privilegiert und Dissident, schaute jeden Abend nach der Aktuellen Kamera die Tagesschau, ging zu Abi-Zeiten auf die Montagsdemos, kämpfte für Freiheit, Frieden, Europa und für die Natur, für Klimaschutz, für die Migranten und für globale Gerechtigkeit.

Als Arzt mit einer russischen Frau (…) wählte ich aus Überzeugung die Grünen, zog sogar eine Mitgliedschaft in Erwägung. (…) Doch die Grünen handeln wider ihre eigene Entstehungsgeschichte, wider ihre Wahlversprechen, wider das grüne Gewissen. Wieso steht niemand auf? Stehen Parteibasis und die Wählerschaft wirklich dahinter? Fressen die Leute das Narrativ so leicht?

Auch Peter B. bedankte sich für das Interview und berichtete von einem Besuch bei der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung:

Auf dem Podium neben meiner pazifistischen Pax-Christi-Kollegin Dr. Ursula Paulus die dem Bundestag-Militärausschuss angehörende Parlamentarierin Sara Nanni. Das war für mich aufklärend, wie schlimm es wirklich steht. Ich habe wenig mit (…) Sahra Wagenknecht gemein – nationales Paradigma statt neuem linkem Internationalismus angesichts der Zivilisationsfrage–, aber dass diese grüne Linie weltbrandgefährlich ist, da hat sie rundherum recht. Hochideologische Blindheit. Selbst-Wohlfühl-Militärmoral, kleinbürgerlich möchte ich fast sagen. Es gibt nicht ansatzweise ein rationales Verständnis dafür, dass in einer neuen, noch stärker militarisierten Weltkriegsordnung der Konfrontation die ökologische Frage der Spezies Homo Sapiens nicht einmal nur im Sinne einer versuchten Leidensminimierung für künftige Generationen angegangen werden kann.

Das in zwei Teilen erschienene Interview mit Antje Vollmer wurde von über 150 Print- und Onlinemedien zitiert, darunter die Tageszeitungen Die Welt und Berliner Zeitung.

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