Was Krieg und Flucht mit der Wahrheit macht

Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

binnen weniger Tage ist die Lage in Nahost eskaliert – und ein Ende ist nicht abzusehen. Dabei gilt: Bricht ein Krieg aus, ist für uns Journalisten besondere Vorsicht geboten. Das geflügelte Wort der Wahrheit als erstes Opfer des Krieges hat selten solche eine Bedeutung wie dieser Tage. Es ist selten so zu beherzigen wie in der Nahost-Berichterstattung.

Kaum gingen die ersten Raketen auf Israel und den Gazastreifen nieder, explodierte in Europa die Debatte darüber, was man sagen darf und was nicht. Und wie - und wie nicht. Zu einem Schlagabtausch kam es nicht nur zwischen der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg und dem deutschen Grünen-Politiker Volker Beck. Nachdem Thunberg auf Twitter die Israel-Kritik der Aktivistin Naomi Klein geteilt hatte, kritisierte Beck dies in mehreren Kommentaren harsch.

Arkás: Lebenslänglich (5) (8 Bilder)

Die Politologin Helga Baumgarten sah sich wenig später nicht minder heftigen Angriffen der Bild und des Blogs Achse des Guten ausgesetzt, nachdem sie im ZDF-Mittagsmagazin auf die Konfliktursachen verwiesen hatte. Baumgarten, die an der Universität Birzeit im Westjordanland lehrt und in Ost-Jerusalem lebt, hatte auf die israelische linksliberale Tageszeitung Ha'aretz verweisen. Das Blatt hatte nichts anderes getan, als die israelische Besatzungspolitik in Palästina zu erwähnen. Ein Mitarbeiter der Bild-Redaktion bezeichnete das als "Argumentation von Terroristen".

Andere geopolitische Hotspots traten angesichts einer solchen medialen Eskalation in den Hintergrund. Telepolis berichtete dennoch über die Sicht Russlands auf den westlichen Abzug aus Afghanistan. Die Folge sei, so unser Autor Roland Bathon, "nach Moskauer Ansicht eine Destabilisierung Mittelasiens". Während man in Berlin versuche, die eigene Niederlage nach zwei Jahrzehnten Krieg zu verbrämen, werde das Scheitern in Moskau deutlich benannt. "Trotz der aktuellen Gegnerschaft zum Westen hat man in Moskau an sich kein Interesse, Dinge zugunsten der Taliban darzustellen, einer in Russland verbotenen Terrororganisation", so Bathon.

Die USA und die Hardliner in Osteuropa

Dass solche gemäßigten Töne und Verweise auf gemeinsame Interessen kaum mehr wahrgenommen werden, liegt auch an Hardlinern in der EU. Parallel zu einem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel hatten vor einer Woche die Staats- und Regierungschefs der neun osteuropäischen Staaten ein strikteres Vorgehen der USA und der Nato gegen Russland gefordert. Damit übten die Mitglieder der 2014 gegründeten "Initiative Bukarest 9" unmittelbar Druck auf die Union aus, auch ihren Kurs gegenüber der Regierung von Präsident Wladimir Putin weiter zu verschärfen. Und die hatte wenig entgegenzusetzen.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrel verweist lediglich darauf, dass die Staats- und Regierungschefs der EU auf dem Gipfel in Brüssel am 25. Mai die Beziehungen zu Russland diskutieren werden. Die dann getroffenen Beschlüsse gelte es abzuwarten.

Zugespitze Debatten gab es auch in Deutschland – wie könnte es anders sein? – in der Corona-Politik. Heute kommen wir daher noch einmal auf die Frage der Impfungen zurück. Nach einer Intervention des Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, zeichnet sich ab, dass die gängigen Corona-Impfungen maximal bis zum kommenden Jahr Impfschutz bieten. So unklar die wissenschaftliche Datenbasis ist, so unbestimmt ist die staatliche Regulierung.

Das bezieht sich unmittelbar auch auf die geplanten Immunitätsausweise und die Grundrechte, die den nun vollständig Geimpften oder von einer Covid-19-Erkrankung Genesenen zugestanden werden. Nach den neuesten Einschätzungen nun scheint die Lage noch komplizierter zu werden. Denn während einige Menschen ihre erste Dosis erhalten werden, könnte bei den Erstgeimpften der Schutz schon wieder verfallen. Die geltende Impfverordnung oder andere einschlägige Regelungen gehen auf diese Herausforderungen derzeit nicht ein.

Die Pandemie wird sich trotz der aktuellen Öffnungen weiter hinziehen. Und damit einhergehend werden die Debatten andauern. Dass dabei eine Offenheit bewahrt werden muss, darauf werden wir bei Telepolis immer wieder beharren. Ebenso wie in der Berichterstattung über Nahost, über die Beziehung zu Russland und über andere kontroverse Themen.

Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber

Eine Antwort an das Forum: Überschuss an jungen Männern durch Asylpolitik?

In Deutschland gibt es einen Überschuss an jungen Männern durch die exzessive Asylpolitik.::User MN77

Grundsätzlich ist die Bevölkerung in Deutschland weiblicher. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten Ende 2019 rund 83 Millionen Menschen in Deutschland, davon waren ca. 42 Millionen weiblich und rund 41 Millionen männlich. An diesem leichten Ungleichgewicht hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren nichts geändert.

Forenuser "MN77" postuliert nun, es sei durch eine "exzessive Asylpolitik" zu einem "Überschuss an jungen Männern" gekommen. Für diesen Kurzcheck nehme ich an, dass "MN77" damit eine forcierte Zuwanderung bzw. Aufnahme von Asylsuchenden meint - ungeachtet des Aufenthaltsstatus. Auf die Definition der Gruppe "junge Männer" gehe ich später ein.

Tatsächlich ist ein Wandel des Verhältnisses von Männern und Frauen in den jüngeren Generationen zuungunsten der jeweils weiblichen Bevölkerungsgruppe nicht nachzuweisen.

Bis 53 Jahre mehr Männer

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bildete die Generation X zum Stichtag 31.12.2019 mit einer Anzahl von 8,23 Millionen Frauen und 8,34 Millionen Männern innerhalb der weiblichen sowie der männlichen Bevölkerung in Deutschland die größte Altersgruppe. Auffällig ist darüber hinaus, dass bis zu einem Alter von einschließlich 53 Jahren die männliche Bevölkerung stets größer ist als die weibliche. Ab der Generation der Baby Boomer dreht sich diese Verteilung.

Mit "Generation X" werden die 39- bis 53-Jährigen bezeichnet, die Bezeichnung "Baby Boomer" bezieht sich auf die heute 54- bis 63-Jährigen.

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es unter Berufung auf die Datenbank Genesis Online:

Von den 83,0 Millionen Einwohnern im Jahr 2018 waren 50,7 Prozent weiblich und 49,3 Prozent männlich. Am geringsten war der Frauenanteil in den Altersgruppen der 20- bis 29-Jährigen und der 10- bis 19-Jährigen (47,9 bzw. 48,3 Prozent). Der Anteil der Frauen nimmt in den älteren Altersgruppen zu: In der Gruppe der 50- bis 59-Jährigen waren die Anteile der Frauen und Männer 2018 nahezu gleich groß. In der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen lag der Frauenanteil mit 51,6 leicht über dem der Männer. Bei den 70- bis 79-Jährigen lag der Anteil schon bei 54,4 Prozent und bei den 80- bis 84-Jährigen bei 58,6 Prozent. In der Gruppe der Personen, die 85 Jahre oder älter waren, hatten die Frauen schließlich einen Anteil von 67,6 Prozent - auf diese Altersgruppe entfielen 2018 allerdings nur 2,7 Prozent der Gesamtbevölkerung.

1970 war es (in Westdeutschland) auch nicht anders

Aufschlussreich ist der Vergleich der Zahlen aus dem Jahr 1970, hier aus Westdeutschland. Damals lag dort der Anteil der männlichen Bevölkerung in den Altersgruppen von zehn bis 39 Jahren zwischen 15 und 16,3 Prozent, während sich der weibliche Bevölkerungsanteil in diesen Gruppen zwischen 12,9 und 13,5 Prozent bewegte.

Hinzu kommt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in den vergangenen Jahren auch Kinder als "Männer" gezählt hat. Nach Angaben der Berliner Tageszeitung steht in der Broschüre Aktuelle Zahlen zu Asyl, die das Bamf monatlich herausgibt: "(Fast) zwei Drittel aller Erstanträge werden von Männern gestellt". Diese Formulierung finde sich seit 2015 in dem Heft, auch in einer Ausgabe vom Juli 2017.

Die taz schrieb dazu 2017:

Viele Medien übernahmen ihn - und bedienten damit das Angstbild einer "Invasion junger Männer", das von rechten Hetzseiten befördert wird.

Laut Duden ist ein Mann eine "erwachsene Person männlichen Geschlechts". Auch das Aufenthaltsgesetz behandelt alle Menschen bis zu ihrem 16. Geburtstag als Kinder und Jugendliche - so wird etwa erst bei "minderjährigen und ledigen Kindern, die bereits das 16. Lebensjahr vollendet haben", der Familiennachzug eingeschränkt. In dieser Formulierung werden also sogar 16-Jährige vom Gesetz noch als "Kinder" bezeichnet.

Fazit:

Ein "Kippmoment" durch eine temporäre oder dauerhafte Zuwanderung ist nicht nachzuweisen. Zudem überbewertet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Zahl männlicher Flüchtlinge, indem es Kinder und Jugendliche in die Statistik einfließen lässt.