Wenn Russland für deutsche Behörden auf einmal zum Rechtsstaat wird
Skandalöse Ablehnungspraxis deutscher Behörden: Verweigerte Hilfe für russische Deserteure aus der Ukraine und Kriegsgegner. Hier ein besonders brisanter Fall.
Der Bedarf an neuen Soldaten für den Krieg in der Ostukraine ist aufgrund erheblicher Verluste auf beiden Seiten beträchtlich. In Russland halten sich Gerüchte über bevorstehende Mobilisierungswellen so hartnäckig.
Präsident Wladimir Putin sieht sich im Abstand von wenigen Wochen immer wieder genötigt, zu betonen, dass eine neue Teilmobilmachung aktuell nicht geplant sei. Jedoch droht die russische Armee ihren momentanen Vorteil an der Front zu verlieren, wenn der Nachschub an neuen Soldaten zu gering ist.
Die Financial Times hatte bereits im Mai unter Berufung auf Quellen aus dem russischen Verteidigungsministerium berichtet, dass Russland Ende 2024 oder Anfang 2025 nicht um neue Zwangsmobilisierungen herumkommen werde. Schon jetzt hätten einige Regionen Russlands Mühe, die festgelegten Quoten an neuen Frontsoldaten zu erfüllen.
Dass weitere Mobilmachungswellen von offizieller Seite dennoch immer wieder dementiert werden, hat vor allem innenpolitische Gründe: Denn jede Mobilisierungsankündigung gefährdet die mehrheitliche Zustimmung der eigenen Bevölkerung zum Krieg.
Unmut in Russland über Mobilisierung
Schon die erste Mobilisierungswelle im Herbst 2022 hatte erheblichen Unmut in der Bevölkerung erzeugt. Hoffnung machte denjenigen Russen, die nicht für die Eroberung der Ukraine kämpfen wollten, damals die deutsche Politik.
"Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland willkommen", versprach Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) damals vollmundig, Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) stießen ins gleiche Horn.
Der Fall Nikita R.: Über Polen zurück nach Russland an die Front?
Etwa zu dieser Zeit hörte der gerade in Polen arbeitende 27-jährige Russe Nikita R. sowohl von einem am russischen Wohnort eingetroffenen Einberufungsbescheid als auch von den Angeboten aus Deutschland. Er wollte nicht für die Eroberung der Ukraine kämpfen, reiste zu seiner in Berlin lebenden Mutter und stellte einen Asylantrag.
Dieser wurde 2023 abgelehnt und Nikita R. zur Ausreise nach Polen aufgefordert, obwohl das dortige Asylverfahren nach deutscher Rechtsprechung "systemische Schwachstellen" aufweist, wie das Verwaltungsgericht Hannover befand. Das bedeutet: Dem jungen Russen droht ohne ausreichende Prüfung seines Begehrens dort eine Folgeabschiebung nach Russland.
"Nikita R. muss demnach davon ausgehen, dass er bereits bei der Rückkehr nach Russland verhaftet und dann an die Front geschickt würde", schlussfolgert die Berliner Zeitung, die über den Fall berichtete. Diesen Monat gab es dann auch den ersten aktiven Abschiebungsversuch.
Russland wird für Behörden notfalls zum Rechtsstaat
Das juristische Tauziehen ist damit nicht ausgestanden und das Asylverfahren des Russen noch vor Gericht anhängig. Interessanterweise schildern die deutschen Behörden die russischen Verhältnisse für Männer, die nicht im Krieg kämpfen wollen, laut der Berliner Zeitung in einem erstaunlich positiven Licht. Offenbar lassen sie sich dabei von dem Ziel leiten, diese Schutzsuchenden loszuwerden.
Ihnen könne offenbar nach den Bescheiden des zuständigen Bundesamtes gar nichts Schlimmes passieren. Russland scheint in den deutschen Amtsbescheiden "ein lupenreiner Rechtsstaat zu sein", so die Berliner Zeitung.
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Gegen die Behördenentscheidung hat die Rechtsanwältin des Russen, Christiane Meusel, Klage erhoben. Sie weist in ihrer Begründung, die Telepolis vorliegt, darauf hin, dass in einem öffentlichkeitswirksamen Fall einer Asylsuchenden aus Russland, der nach dort abgeschoben werden würde, mit harten Repressionen der russischen Behörden zu rechnen sei.
Russischen Offiziellen ist aktuell tatsächlich sehr daran gelegen, junge Einberufene von einer Flucht in den Westen abzuhalten. Abschreckende Beispiele wie hohe Haftstrafen sind für sie momentan in vielerlei Hinsicht ein häufiges Mittel der Wahl und so ist die Einschätzung der Anwältin wesentlich näher an der russischen Realität als die des Bundesamtes.
Keine Hilfe aus der Politik
Die Kritik, die Nikita R. im Rahmen des Asylverfahrens an den russischen Behörden geäußert hat, ist nach dortigem Recht strafbar als "Diskreditierung der russischen Armee".
Angesichts der demonstrierten Offenheit der deutschen Politik gegenüber Russen, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, versuchte Rechtsanwältin Meusel parallel zu ihrem juristischen Kampf auch die Kontaktaufnahme mit der Politik. Vom Ergebnis gab sie sich gegenüber Telepolis schwer enttäuscht. Niemand von den angesprochenen Bundestagsabgeordneten von SPD und Linken, darunter die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, wollte Nikita R. helfen.
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Dabei sind nicht nur die hohen Worte von Humanität unter deutschen Politikern vom Kriegsausbruch in Vergessenheit geraten. Es fehlt auch der strategische Blick auf den Ukrainekrieg, den sogar die sonst migrationskritische Tageszeitung Welt aktuell entdeckt hat.
Sie erkennt in einem aktuellen Artikel an, dass eine größere Offenheit gegenüber Russen, die ihr Land verlassen wollen, dem Westen im aktuellen Ringen mehr helfen würde als alle Sanktionen. Denn der Brain-Drain, den Russland aufgrund des Krieges des Kreml erleiden muss, führte bereits zu einem erheblichen Fachkräftemangel. Dieser ist ein größeres Problem für die russische Wirtschaft als das umgehungsfähige Sanktionsregime.
Mehrheit der Asylanträge wehrfähiger Russen wird abgelehnt
Nikita R. ist kein Einzelfall. Vom Kriegsausbruch bis Ende 2023 haben 9.000 militärdienstpflichtige Russen in einem EU-Staat Asyl beantragt. Bei den deutschen Fällen wurden bei Entscheidungen im Jahr 2022 noch 40 % der Antragsteller politisches Asyl bewilligt, 2023 fiel die Quote auf 25 %. Nach Meinung der Hilfsorganisation für internationale Arbeit zu Kriegsdienstverweigerung und Desertation Connect e.V. zeigt die Praxis der deutschen Behörden, dass die Ankündigungen der Politik für eine Anerkennung russischer Kriegsgegner nicht viel wert seien.
Hierbei ist die Abschiebung ankommender Russen in andere EU-Staaten nach der Dublin-III-Verordnung die häufigste Methode für die deutschen Behörden, Asylantragsteller, die im Ukrainekrieg nicht kämpfen wollen, wieder loszuwerden. Nach dieser entscheidet der erste Einreisestaat in die EU über den Asylantrag jedes Flüchtlings. In den ersten acht Monaten 2023 wurden von 904 behandelten russischen Asylanträgen von Männern im wehrfähigen Alter 836 dadurch beendet, dass die Flüchtlinge wieder in EU-Grenzstaaten zurückgeschickt wurden.
Gäbe es dort ordnungsgemäße Asylverfahren, wäre das nicht zu beanstanden. Doch sogar deutsche Behörden tun bereits entgegen der Lippenbekenntnisse ihrer Politik eher alles, asylsuchende von Einberufung bedrohte Russen abzulehnen. Man muss davon ausgehen, dass das in Staaten, die schon 2022 die Aufnahme russischer Deserteure offen verweigerten, erst recht so ist. Polen ist einer davon.