Wie Balkanpolitik und Ukraine-Krise Bulgarien ins Chaos stürzten
Streit um Nordmazedonien lässt Bulgariens kurzen Frühling der Reformation enden. Konflikte um Waffenlieferungen an Kiew. Ursache für Regierungssturz aber war eine andere.
"Es war mir eine Ehre, eine Regierung zu führen, die von Herrn Borissov, Herrn Peevski, Slavi Trifonov und Frau Mitrofanova gestürzt wurde", sagte Bulgariens Ministerpräsident Kiril Petkov am Mittwochabend vor der 47. Bulgarischen Volksversammlung, die seiner Koalitionsregierung soeben das Misstrauen ausgesprochen hatte. Das war ein Novum in der Geschichte des bulgarischen Parlamentarismus.
Petkovs Kabinett ist nach sieben turbulenten Monaten gescheitert. Ihm zufolge tragen "die Mafia" (Borissov, Peevski, Trifonov) und "Russland" (Mitrofanova) die Verantwortung für Bulgariens abrupten Übergang vom kurzen Frühling der Reformation in einen heißen Sommer der Konfrontation.
Tatsächlich hat der junge, in Harvard ausgebildete Betriebswirtschaftler Kiril Petkov aber die Erwartungen, die er als Wirtschaftsminister einer Übergangsregierung im vergangenen Jahr bei vielen Bulgaren und Bulgarinnen erweckt hat, in seiner von Ungeschicklichkeiten, Fehlern und Affären geprägten Amtszeit zum großen Teil enttäuscht.
Im Dezember 2021 hatte Petkovs neugegründete Partei "Prodelzhavame Promianata" ("Wir setzen den Wandel fort", PP) mit der postkommunistischen "Bulgarischen Sozialistischen Partei" (BSP), den traditionell Konservativen von "Demokratitschna Bulgaria" (DB) und der Partei des Shomasters Slavi Trifonov "Ima takev narod" ("So ein Volk gibt es", ITN) eine Regierung gebildet.
Bereits damals war klar, dass die ideologisch disparate Links-rechts-Koalition zunächst und vor allem gegen Langzeitministerpräsident Boiko Borissov geschmiedetes Anti-Bündnis war, ohne ein darüberhinausgehendes in sich konsistentes Regierungsprogramm.
Petkovs erklärte Mission war die Überwindung des mafiös-oligarchischen Status quo, für den außer Borissov auch der von der US-Regierung mit Magnitski-Sanktionen belegte Ex-Medien-Mogul Deljan Peevski steht.
Konflikt mit russischer Botschafterin
Er ist als Abgeordneter der Partei der bulgarischen Türken, der "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS), bekannt dafür, nur zu ausgewählten Anlässen an Parlamentssitzungen teilzunehmen. Am Mittwochabend gab er sich nach langer Abstinenz mal wieder die Ehre, um dem Anti-Korruptionskabinett Petkov per Knopfdruck sein Misstrauen auszusprechen.
Die einzige Ausländerin im Bunde von Petkovs ironischer Danksagung ist Russlands Botschafterin in Sofia, Eleonora Mitrofanova. Sie hat die bulgarische Regierung seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine immer wieder mit provokanten Äußerungen gereizt
Vom euroatlantisch orientierten Flügel der Regierung kam deshalb zuweilen die Forderung auf, Mitrofanova als Persona non grata des Landes zu verweisen. Dass es dazu nicht kam, lag wohl an der sozialistischen Vize-Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin Kornelia Ninova.
Die von Ninova angeführte BSP galt von Anfang an als eigentlich unsicherer Partner in der Koalition. Als sich ihr nach dem Beginn des Krieges die Frage nach militärischer oder ausschließlich humanitärer Unterstützung der Ukraine stellte, sprachen sich liberale oder konservative Kräfte in der Regierung für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Ninovas Sozialisten drohten für diesen Fall mit ihrem Auszug aus der Koalition.
So sagte Premier Petkov bei seinem Besuch in Kiew dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lediglich die Reparatur ukrainischen Militärgeräts durch bulgarische Rüstungsfabriken zu.
Welche Waffenlieferungen gab es aus Bulgarien an die Ukraine?
Zur selben Zeit meldete allerdings die New York Times, Bulgarien exportiere über US-amerikanische Mittelsfirmen in großem Maßstab Waffen, die über Tschechien und Polen in die Ukraine gelangten. Die für die Genehmigung zuständige Wirtschaftsministerin Ninova dementierte dies.
Auch als Anfang Juni 2022 der bereits von seinem Posten enthobenen Chef des staatlich bulgarischen Rüstungskonzerns Kintex, Alexander Michailov, behauptete, Bulgarien habe über Rumänien Waffen und Munition im Wert von 200 Millionen Bulgarischer Lew, rund 100 Millionen Euro, in die Ukraine geliefert, bestritt dies das bulgarische Verteidigungsministerium.
Der Spagat zwischen Für und Wider militärischer Unterstützung der Ukraine hat Kiril Petkovs aus Russland-Kritikern und Russland-Freunden zusammengesetzte Koalitionsregierung nicht scheitern lassen. Dazu trug die vermeintlich unverfänglichere Frage nach dem Verhältnis zum südwestlichen Nachbarn, der Republik Nordmazedonien (RNM), bei. Nicht Kornelia Ninova, sondern ITN-Chef Slavi Trifonov hat sich schließlich als Koalitionskiller erwiesen.
Regierungschef Petkov habe hinter dem Rücken der von ITN gestellten Außenministerin Teodora Gentschovska eine in der Regierung nicht abgestimmte Mazedonien-Politik verfolgt und der französischen EU-Ratspräsidentschaft versprochen, Bulgariens Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien bis Ende Juni 2022 aufzugeben.
Streit um Nordmazedonien eskalierte
So begründete Trifonov am 8. Juni 2022 in einer vom eigenen TV-Sender 7/8 übertragenen Erklärung die Abberufung der vier ITN-Minister aus der Regierung.
Viele Bulgaren sprechen den Nordmazedoniern die Souveränität ab und negieren die Existenz einer mazedonischen Sprache. Unter Verweis auf das mittelalterliche, vom Schwarzen Meer zur Ägäis und zur Adria reichende bulgarische Zarenreich halten sie Mazedonien für eine bulgarische Provinz und die mazedonische Sprache für einen südbulgarischen Dialekt.
Der heutige Staat Nordmazedonien ist ihrer Ansicht nach ein Residuum des Projekts einer Balkanföderation, ausgeheckt 1947 vom bulgarischen Kommunistenführer Georgi Dimitrov und Jugoslawiens Staats- und Parteichef Josip Broz Tito.
Zwar erkannte Bulgarien Anfang der 1990er-Jahre als erstes Land Mazedoniens Unabhängigkeit von Jugoslawien an, doch seitdem finden die Streitigkeiten zwischen Bulgaren und Mazedoniern über geschichtliche Fragen kein Ende.
Auch der Abschluss eines Vertrags über freundschaftliche Beziehungen und gute Nachbarschaft im Jahr 2017 befriedete den Dauerkonflikt zwischen beiden Ländern nicht.
Insbesondere damit, dass Nordmazedonien sich nicht an seine Bestimmungen halte, begründeten die Bulgaren bisher ihr Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien.
Doch auf Druck Frankreichs hat sich das bulgarische Parlament am 24. Juni mehrheitlich für die Aufhebung des Vetos ausgesprochen. Der formale Grund für das Ende von Petkovs Viererkoalition hat sich damit nur zwei Wochen später in Nichts aufgelöst.