Wie wird sich die Pandemie weiterentwickeln?

Seite 6: Welche Schlüsse sind aus den Erkenntnissen zu ziehen?

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Die Daten zur geringeren statt bisher angenommenen Gefährlichkeit des Virus und das Wissen um die Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems sollten genutzt werden, um neue Szenarien zu erstellen, die die tatsächlichen Risiken realistischer darstellen. Daneben ist der tatsächliche Einfluss der Eindämmungsmaßnahmen auf das Infektionsgeschehen gründlich zu prüfen und dem durch sie verursachten gesellschaftlichen Schaden gegenüberzustellen. In der Summe kann der Bevölkerung so eine wissens- und nicht angstbasierte Meinungsbildung ermöglicht werden.

Da eine Eradikation des Virus ausgeschlossen erscheint, bleiben die Strategien Infektionskontrolle ("Infection control") und Abflachung der Infektionskurve ("Flatten the curve") als mögliche Alternativen.

In Deutschland - wie in den meisten anderen europäischen Ländern - wird aktuell die Strategie "Infection control" verfolgt mit dem Ziel die Reproduktionszahl <1 zu halten. Der Hintergrund der dieser Strategie scheint zu sein, das Infektionsgeschehen solange einzudämmen bis ein effektiver und sicherer Impfstoff zur Verfügung steht. Da dies aber mehrere Jahre dauern kann und die Verhängung von Kontaktbeschränkungen wie in diesem Frühjahr im on-off-Prinzip über einen solchen Zeitraum immensen Schaden anrichten dürfte, muss die Sinnhaftigkeit dieser Strategie generell angezweifelt werden.

Die im Rahmen dieser Strategie verhängten Eindämmungsmaßnahmen waren lange Zeit wenig zielgenau und schränkten die Bürgerrechte zum Teil erheblich ein. Das Beispiel von Pflegeheimbewohnern, die am Ende ihres Lebens keinen Besuch ihrer Angehörigen empfangen durften, veranschaulicht dies. Um den epidemiologischen Nutzen der Eindämmungsmaßnahmen mit anderen, ebenso wichtigen Aspekten in Beziehung zu setzen, wurde ein sogenannter "Balanced Infection Control Score" vorgeschlagen.53 Dieser berücksichtigt zur Einschätzung der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen neben einer infektionsepidemiologischen Dimension - die auch medizinische (Verdrängungs-)Effekte für die Betreuung anderer Erkrankungen umfasst - auch ökonomische, grundrechtsbezogene und die Ausbildung betreffende Dimensionen164. Das Ergebnis einer solchen Analyse könnte z.B. sein, dass die uneingeschränkte Wiedereröffnung von Kindergärten und Schulen trotz des moderat erhöhten Risikos von Virusausbrüchen angemessen wäre, da die Schäden einer ausgesetzten Ausbildung und die Belastungen für die Familien in keinem Verhältnis dazu stehen. Ebenso könnte man annehmen, dass die Verletzung der Menschenwürde durch unfreiwillige Isolation eines nicht infizierten Pflegeheimbewohners in keinem Verhältnis zur damit potentiell erreichten Viruseindämmung steht.

Da die Kollateralschäden der derzeit verfolgten Strategie immens sind und vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit früheren Pandemien ein verstärktes Infektionsgeschehen im Winter zu erwarten ist, dürfte "Infection control" nicht auf Dauer erfolgreich bleiben.

Die alternative und initial auch von Deutschland verfolgte Strategie stellt "Flatten the curve" dar. Sie verfolgt das Ziel, über dosierte Eindämmungsmaßnahmen eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, gleichzeitig aber ein gewisses Infektionsgeschehen zuzulassen. Die Erfahrungen während der Spanischen Grippe 1918/19 zeigten, dass Eindämmungsmaßnahmen die Mortalität in der Spitze um 50% und insgesamt um 20% senken konnten. Diese Erfahrungen sind nur bedingt auf die heutige Situation mit weltweiter Vernetzung, moderner Gesundheitsversorgung und sich stark unterscheidendem Virus übertragbar. Sie können aber andeuten, dass die Spitzenbelastung des Gesundheitssystems deutlich reduziert werden kann, während die Gesamtmortalität auf lange Sicht nur moderat gesenkt werden kann.

Als Beispiel für "Flatten the curve" wird vielfach Schweden genannt. Schweden weist allerdings bedeutende Unterschiede zu Deutschland auf: Das Land ist abgesehen von der Hauptstadtregion sehr dünn besiedelt, was die schnelle Virusausbreitung behindern dürfte. Andererseits hat Deutschland etwa fünfmal so viele Intensivbetten und könnte eine größere Anzahl kritisch Kranker daher besser verkraften. Neben der relativ hohen Anzahl an Coronatoten in Schweden darf nicht übersehen werden, dass die Gesamtmortalität von 416/ 100.000 Einwohner zwischen Januar und Mai54 kaum höher war als in den letzten Jahren und das Niveau der 90er Jahre noch nicht erreicht hat (zwischen 1990 und 2019 zwischen rund 480 und 380).55 Zudem liegt die Zahl auf einem ähnlichen Niveau wie in den skandinavischen Nachbarländern (Finnland 42356, Dänemark 40257, Norwegen mit seiner jüngeren Bevölkerung 32558). Es wäre daher unangemessen die schwedische Strategie pauschal als gescheitert darzustellen, zumal das Ziel eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern bislang erfolgreich war. Tatsächlich wurde trotz der nur moderaten Eindämmungsmaßnahmen analog zu anderen europäischen Ländern - vermutlich unterstützt durch klimatische Bedingungen - ebenso ein Rückgang des Infektionsgeschehens erreicht.59

Während in den Industrieländern die Abwägung zwischen den Gefahren durch das Virus und jenen durch die Eindämmungsmaßnahmen kontrovers bleiben wird, zeigen sich in den weniger entwickelten Ländern bereits jetzt die verheerenden Auswirkungen der Überreaktion auf die Pandemie. Kontaktbeschränkungen bis hin zur Ausgangssperre im Kontext fehlender sozialer Sicherungssysteme, beengter Wohnsituation und Beschäftigung im informellen Sektor haben tödliche Folgen für die Betroffenen. Bis Ende dieses Jahres wird die Zahl der weltweit Hungernden nach Schätzungen um 82% auf 270 Millionen steigen, täglich werden bis zu 12.000 zusätzliche Todesfälle allein durch Hunger erwartet.60 Darüber hinaus werden über Jahre erreichte Entwicklungsfortschritte innerhalb weniger Monate verloren gehen. Diese Folgen dürften in keinem Verhältnis zu einer Viruserkrankung mit einer Letalitätsrate im Spektrum von 0,1 bis 1,0% stehen. Zudem zeigt die Seroprävalenz von 57% in den Slums von Mumbai61, dass die Ausgangssperre hier wirkungslos gewesen sein muss.