Wie wird sich die Pandemie weiterentwickeln?

Seite 2: Wie sind die Ressourcen des deutschen Gesundheitssystems?

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Über den schnellen Bürokratieabbau und die Schaffung neuer Behandlungskapazitäten hat das noch gut aufgestellte deutsche Gesundheitssystem seine Handlungsfähigkeit und seine Ressourcen unter Beweis gestellt. Diese Ressourcen sollten für das weitere Management der Coronapandemie genutzt werden, auch um übrige Gesellschaftsbereiche zu entlasten. Bei allen Kapazitäten muss einkalkuliert werden, dass die gegenwärtigen Reaktionen der Politik weltweit eine Wirtschaftskrise provoziert haben und ein Einbruch der Wirtschaftsleistung von rund 10% realistisch erscheint. Ob es im Anschluss zu einer raschen Erholung kommen wird, ist ungewiss. Natürlich werden in der Folge auch dem Gesundheitssystem große Ressourcen wegbrechen, was die Versorgung wiederum verschlechtern wird. Die noch gute Ausstattung an Betten und Intensivkapazitäten sollte gerade in Anbetracht der Erfahrungen aus einigen europäischen Nachbarländern als wertvolle Ressource angesehen werden.

Nimmt man ein R0 von 2,5 an und setzt voraus, dass nur eine Herdenimmunität die Ausbreitung der Erkrankung stoppen könnte, so wäre nach der Formel23: Herdenimmunität = 1 - 1/R0 eine Durchseuchung von 60% der Bevölkerung erforderlich. Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass diese ursprünglich auf Impfungen angewendete Formel nicht auf die natürlich erworbene Immunität übertragbar ist. Jede Gesellschaft ist heterogen in dem Sinne, dass manche Individuen durch ihr soziales Verhalten sehr empfänglich für Infektionen sind und diese auch häufiger weiterverbreiten, andere hingegen nicht. Je größer diese Diskrepanz ist, desto geringer ist die zur Herdenimmunität notwendige Durchseuchung. Wie Modellrechnungen zeigen, ist im Falle von SARS-CoV-2 ein Wert von 43% statt 60% realistisch.24 Demnach müssten sich 35,7 Millionen Menschen in Deutschland infizieren damit Herdenimmunität erreicht wird. Bei einer IFR von 0,28%* und einer Intensivpflichtigenrate von 0,46% würden ca. 100.000 Menschen versterben und 164.000 intensivpflichtig werden. Liegt jeder dieser Patienten im Durchschnitt 14 Tage (die international publizierten Zahlen variieren stark zwischen 4 und 14 Tagen, in der Regel dürfte die Zahl aber unterschätzt werden, da nach Abschluss der Studien nicht alle Patienten einen Endpunkt erreicht haben) auf der Intensivstation, wären ca. 2.300.000 "Bettentage" erforderlich. Teilt man diese Zahl durch die circa 17.500 potentiell freien Intensivbetten, resultiert die Zeitspanne, über die sich die Pandemie in Deutschland gleichmäßig erstrecken müsste, um keine Überlastungen der Intensivstationen zu verursachen. Sie beträgt im Beispiel 131 Tage.

Eine Ansteckung von 43% der Bevölkerung innerhalb dieser Zeit erscheint allerdings wenig realistisch. Selbst in Wuhan, wo das Virus relativ lange unerkannt zirkulieren konnte, wurde eine Seroprävalenz von lediglich 10% festgestellt.25 Lokale Hotspots wie New York City oder die Lombardei mit höheren Durchseuchungsraten scheinen eher die Ausnahme zu sein und sind als Modell für ein ganzes Land ungeeignet. Zudem dürfte das Verhalten der Bevölkerung unabhängig von etwaigen Regierungsverordnungen längerfristig verändert bleiben, so dass eine derart schnelle Virusausbreitung wie im Frühjahr weniger wahrscheinlich geworden ist.

Die Zahl von 100.000 Todesfällen mag dramatisch klingen, muss aber auch in Relation gesehen werden zu den alljährlich rund 950.000 Todesfällen26 - darunter allein 120.000 durch Rauchen27 und 80.000 durch Luftverschmutzung28.

*Diesem Wert liegt die Annahme zugrunde, dass die 20% der Infizierten, bei denen zu keinem Zeitpunkt humorale Antikörper nachweisbar sind29, dennoch gegen eine Infektion geschützt sind und nicht erneut als Virusüberträger in Betracht kommen. Sollten diese Personen sich dennoch erneut infizieren können, könnte die zur Herdenimmunität erforderliche Durchseuchung auf 44,6 Millionen Menschen ((1/0,8 x 35,7), entsprechend 54% der Bevölkerung) wachsen. In diesem Szenario wären 125.000 Todesfälle und 205.000 Intensivpflichtige möglich, was zu 2.870.000 "Bettentagen" führen würde. Dann müsste sich die Pandemie über 164 Tage gleichmäßig verteilen, um keine Überlastungen hervorzurufen.