Wir sind die Marsmenschen

Seite 6: Rassismus in Notting Hill

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1948 kamen die ersten 492 Jamaikaner nach Großbritannien, um dort zu arbeiten. Zehn Jahre später lebten knapp 200.000 "Gastarbeiter" im Land. Viele davon hatten eine dunkle Hautfarbe. Diese Einwanderer wurden dringend als Arbeitskräfte gebraucht, vergrößerten aber auch die Wohnungsnot. Es kam zu Spannungen und zu rassistisch motivierten Gewalttaten. Im Sommer 1958 gab es Straßenkämpfe in mehreren Städten, die Polizei sah sich Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt, und Schwarze mussten damit rechnen, von weißen Rechtsradikalen verprügelt zu werden, wenn sie von der Arbeit kamen. Kneale beunruhigte das sehr, als er an Quatermass and the Pit arbeitete:

"Ich entwickelte diese Idee. Woher haben wir das? Sind wir alle, von Natur aus, geborene Rassisten? Und ich nahm an, dass es doch nicht von uns kam. Angenommen, es war nicht schon immer in uns drin, sondern es war etwas, das wir von einer außerirdischen Lebensform geerbt hatten? Das könnte vor Millionen von Jahren passiert sein; die Marsmenschen kamen auf diese Erde, und weil ihre eigene Zivilisation im Sterben begriffen war, wollten sie die Erde zu ihrem nächsten Wohnort machen. […] Also nahmen sie die Affen von vor fünf Millionen Jahren und impften ihnen ihre Marsmenschen-Instinkte ein. […] Ich glaube, dass dabei ein paar ganz aufregende Ideen herauskamen."

Im Februar 1958 hatten sich Friedensgruppen zur "Kampagne für nukleare Abrüstung" zusammengeschlossen, die am Karfreitag eine Großdemonstration auf dem Trafalgar Square veranstaltet hatte. Und Kneale las irgendwo von Insektenvölkern, die regelmäßige Säuberungsaktionen durchführen, um die Art von Mutationen zu "reinigen". Solche Elemente, die eigentlich nicht zusammenpassen, verband er zu einer äußerst spannenden, ebenso faszinierenden wie funktionierenden, nie ins Absurde oder in unfreiwillige Komik umkippenden Geschichte (das konnte er wie kein Zweiter). Außerdem machte er sich noch daran, die gute alte Geistergeschichte einer Generalüberholung zu unterziehen, indem er eine wissenschaftliche Erklärung für scheinbar übernatürliche Phänomene vorschlug und darüber spekulierte, ob unsere Vorstellung von Teufeln, Geistern und Dämonen auf - in unserem kollektiven Gedächtnis gespeicherte - Erinnerungen an reale Vorkommnisse zurückgehen könnten. Und auch, wenn die gehörnten Marsbewohner aussehen wie eine Kreuzung aus Hummer und Heuschrecke (mit drei Beinen): mit Filmen, in denen die Sowjetunion mit dem Mars (der "rote Planet") und die Kommunisten mit roten Ameisen oder anderen Insekten gleichgesetzt werden, hat Quatermass and the Pit nur am Rande zu tun.

Star Wars ohne Bush und Reagan

Die Raketenforschungsgruppe, einst als zivile Einrichtung gegründet, ist inzwischen in das Kriegsministerium eingegliedert. Als neuen Stellvertreter muss Quatermass Colonel Breen akzeptieren. Dieser Herr hat die Schriften Wernher von Brauns aufmerksam studiert. Seit die Russen ihre Sputniks in den Weltraum geschossen hatten, sprach man auf beiden Seiten ganz offen von einem Kampf um die Vorherrschaft im All. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Mond. Von Braun meinte, es käme einem "nationalen Selbstmord" gleich, wenn die USA nicht alle Hebel in Bewegung setzten, um diesen "Wettlauf zum Mond" zu gewinnen. Colonel Breen ist entschlossen, aus der friedlichen Zwecken dienenden Mondbasis, die Quatermass bauen will, eine Polizeistation zu machen, von der aus die Erde kontrolliert und bei Bedarf mit Atomraketen beschossen wird.

Während Breen von der finalen Vergeltungswaffe träumt (in Kubricks Dr. Strangelove wird sie "Doomsday Machine" heißen, "Weltuntergangsmaschine"), die im Falle eines Nuklearangriffs der Russen automatisch den Gegenschlag startet (die Vernichtung der Erde wird dabei in Kauf genommen), werden bei Bauarbeiten seltsame Skelette und - so scheint es - eine deutsche Bombe gefunden. In diesem mysteriösen Flugkörper entdeckt man die Leichen von Wesen, die aussehen wie riesige Insekten. Nach und nach kommen Quatermass und der Paläontologe Dr. Roney der Wahrheit auf die Spur. Vor fünf Millionen Jahren fanden auf dem Mars Säuberungsaktionen und Rassenkriege statt, bei denen die Mehrheit nicht nur die Minderheiten ausrottete, sondern auch den eigenen Planeten zerstörte. Weil die Marsbewohner auf der Erde nicht lebensfähig waren, holten sie von dort die Affen, die sie genetisch veränderten und dann, nach Einpflanzung ihrer eigenen Instinkte und Wesensmerkmale, von ihrem sterbenden Planeten zurück auf die Erde brachten - als die Erben der Marsmenschen (und als unsere Vorfahren).

Nur Colonel Breen hat eine andere Theorie: Das Raumschiff ist eine Fortentwicklung der V 2; eine streng geheime V-Waffe, von den Nazis mit gefälschten Marsmenschen besetzt und 1944 nach London geschossen, um dort eine Panik auszulösen. Die deutsche Bundesregierung hat versprochen, nach Beweisen dafür zu suchen, lässt aber nichts von sich hören. Das ist kein Wunder. In deutschen Archiven hätte man nur Belege für die dunkle Vergangenheit des zur Heldenverehrung freigegebenen Wernher von Braun gefunden. Wer an diese erinnerte, wurde während des Kalten Kriegs übrigens zum Kommunisten erklärt oder musste sich sagen lassen, er sei den Propagandalügen der Stasi und des KGB aufgesessen (ganz so, wie der Colonel Quatermass vorwirft, er sei auf Hitler und Goebbels hereingefallen).

Breen und seine Kollegen werden erst nachdenklich, als schon der Mob durch Londons Straßen zieht und Jagd auf Andersdenkende macht. Menschen mit schwarzer Hautfarbe sieht man dabei nicht. Die britische Gesellschaft hatte sich darauf geeinigt, das heikle Rassismus-Thema totzuschweigen. Cartier baute in die erste Episode eine Radiomeldung über "Rassenunruhen in Birmingham" ein. Das führte zu heftigen Protesten von Vertretern der Westindischen Gemeinde, die sich diffamiert fühlten. Die Zeitungen berichteten ausführlich, erwähnten die weißen Rechtsradikalen aber nur ungern. Auch bei der offiziellen Stellungnahme der BBC kann man nur von einem absichtlichen "Missverständnis" sprechen. Es habe sich, hieß es, um "eine erfundene Nachricht in einem fiktiven Fernsehspiel gehandelt, das in einer unbestimmten Zukunft angesiedelt ist." Eine Beleidigung der Stadt Birmingham sei nicht beabsichtigt gewesen (als ob das jemand behauptet hätte). Man musste sich also schon, wie Nigel Kneale, eine Geschichte mit Marsmenschen ausdenken, um das, was vor ein paar Monaten passiert war, im britischen Fernsehen überhaupt thematisieren zu dürfen.

Eine Sternstunde des Fernsehens

Um den Sechsteiler noch visuell anspruchsvoller und komplexer zu machen als Quatermass II, arbeitete Rudolph Cartier mit noch mehr vorab gedrehten und geschnittenen Teilen (viele Totalen, riesige Bühnenbilder, Massenszenen) als beim letzten Mal. Alles andere wurde wieder, beginnend am 22. Dezember 1958, live aufgeführt und ausgestrahlt. Mit Jack Kine und Bernard Wilkie beschäftigte der Sender seit 1954 zwei Experten für Spezialeffekte, die beide voll in Anspruch genommen wurden. Statt sich mit Wind und knarzenden Türen zufrieden zu geben, bestellte Cartier beim neu gegründeten "Radiophonic Workshop" der BBC ein aufwendiges Sounddesign. Cartier war einer der ersten, die in einem Fernsehfilm mit elektronischer Musik experimentierten.

Quatermass and the Pit wurde ein großer Wurf. Cartier und Kneale setzten Maßstäbe, nach denen sich vergleichbare Produktionen auf Jahre hinaus beurteilen lassen mussten. Das Fernsehen galt bis dahin als etwas, das man in der Intimität seines Wohnzimmers, mit emotionaler Distanz und als Einzelperson konsumierte. Jetzt schien alles anders. "Die Inszenierung", schrieb ein Kritiker, "fegt nicht nur allen Abstand und alle Distanz weg, sie löscht auch das Gefühl aus, ein isolierter Zuschauer zu sein; man reagiert auf sie wie in einem erweiterten Resonanzraum, als Teil einer Gemeinschaft und eines großen Publikums."

Am 22. September 1955, um 20.12 Uhr, hatte das Privatfernsehen zum ersten Mal in Großbritannien eine Sendung durch Werbung unterbrochen (für eine Zahnpasta). Seither war die Quote enorm wichtig geworden. Also gab es Messungen, die man glauben konnte oder nicht. Die erste Episode sollen 20% der potentiellen Zuschauer gesehen haben (sieben Millionen); das Konkurrenzprogramm des Privatfernsehens ITV, eine Quizshow, erreichte 32%. Nach der letzten Folge wurde gemeldet, dass die Zuschauerzahl auf elf Millionen (32%) gestiegen sei. Demnach hätte zum ersten Mal seit Bestehen des Privatfernsehens eine BBC-Sendung die höchste Quote erzielt. Das war eine Sensation. Das Branchenblatt Variety, immer auf der Seite des freien Unternehmertums, konterte mit allerlei Zahlenmaterial, das belegen sollte, dass es eher drei als elf Millionen Zuschauer gewesen waren und viel weniger als bei Keep It In The Family (ITV). Darüber wurde noch lange gestritten. Niemand bezweifelte jedoch, dass Quatermass and the Pit der BBC ihren bis dahin größten Publikumserfolg beschert hatte.

Den Schluss der beiden früheren Serials hatten viele Zuschauer nicht verstanden. Quatermass and the Pit hatte eine Botschaft, die Kneale und Cartier für zu wichtig hielten, um das noch einmal geschehen zu lassen. Also setzten sie gegen alle Widerstände durch, dass der Professor am Ende eine kleine Rede halten durfte. Aus dem, was leicht ein dröger Leitartikel hätte werden können, machte André Morell, der nunmehr dritte TV-Quatermass (die beiden anderen waren gestorben), unterstützt durch Cartiers Inszenierung, ein erstaunlich wirkungsvolles Plädoyer für mehr Toleranz, Demut und Selbsterkenntnis. Statt das Böse in uns nach außen zu projizieren und die Verantwortung für unser Tun irgendwelchen Schurken und Monstern zuzuschieben, so Kneales Quatermass, müssen wir uns darüber klar werden, wer wir sind und lernen, unsere destruktive Seite besser zu kontrollieren. Wenn uns das nicht gelingt, wird unser Planet bald tot sein, und wir müssen uns einen neuen suchen. Wir selbst sind die Marsmenschen.