Wird die Sicherheit des Westens jetzt am Dnjepr verteidigt?
Seite 5: Kann sich Europa (nicht) verteidigen?
Forderungen nach verstärkter Aufrüstung werden oft mit der Behauptung begründet, wonach Europa ohne Unterstützung der USA keine Chance habe, sich konventionell gegen Russland zu verteidigen. Tatsächlich geben die europäischen Nato-Partner jedes Jahr drei- bis viermal so viel für Verteidigung aus wie Russland und sie verfügen – entgegen verbreiteter Annahmen – zusammen über ein sehr umfangreiches Arsenal moderner konventioneller Waffen.
Die Nuklearbewaffnung Frankreichs und Großbritanniens kommt hinzu. Das eigentliche Problem ist aber nicht ein Mangel an Geld oder Waffen. Schon auf praktischer Ebene sind die Europäer nämlich nicht in der Lage, ihre militärischen Fähigkeiten unter ein einheitliches Kommando zu stellen.
Die seit Jahrzehnten geführte Diskussion zur Einrichtung eines EU-Führungskommandos ist wegen unerwünschter "Duplizierung" mit der Nato im Sande verlaufen. Das dahinterstehende Grundproblem besteht darin, dass die Europäer immer wieder die Erfahrung machen, sich in kritischen Situationen politisch nicht einigen zu können, sodass es an der Zuversicht fehlt, ggf. militärisch handeln zu können.
Ein Paradebeispiel war die dramatische Evakuierung am Flughafen Kabul 2021, als von einem Einsatz schon vor langer Zeit beschlossener schneller EU-Eingreifkräfte nichts zu sehen war.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum für viele die Präsenz der USA essenziell bleibt, da diese viel eher in der Lage sind, gemeinsames militärisches Handeln durchzusetzen. Ein Mehr an Waffen ändert an diesen strukturellen Gegebenheiten nichts, ebenso wenig das zur Förderung größerer Aufrüstungsbereitschaft hervorgeholte Schreckgespenst einer Abwendung der USA von Europa.
Der Ruf nach mehr Waffen ist in Wirklichkeit eine Ersatzhandlung, auf die man sich einigen kann, da sie "nur" Geld kostet und von Militärs und Rüstungsindustrie gefördert wird. Ein Bereich, in dem die wünschenswerte Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit jedoch vorangetrieben werden könnte, ist die Konsolidierung einer europäisch organisierten Rüstungsindustrie.
Schlussfolgerungen
Erstens: Die Nato ist Russland militärisch klar überlegen. Daraus ergeben sich Fragen: Wie zweckrational ist ihre forcierte Aufrüstung? Wie groß muss oder soll ihre Überlegenheit sein, um ihren Mitgliedern das Gefühl hinreichender Sicherheit zu geben?
"Was macht man mit Überlegenheit?", hielt Kissinger Kritikern einst entgegen, die überzeugt waren, die Sicherheit der USA nur durch überlegene Nuklearbewaffnung gewährleisten zu können.
Und schließlich: Welche Wirkung hat das Streben nach Überlegenheit auf Dritte, insbesondere Russland und China? Will die Nato Antreiber von Aufrüstung sein?
Zweitens: Angesichts einer vor allem durch den Krieg in der Ukraine verursachten schweren Wirtschaftskrise (drastisch gestiegene Energiekosten, Wegbrechen des russischen und Beeinträchtigung des chinesischen Markts) und der starken Überbeanspruchung der öffentlichen Haushalte (militärische und zivile Ukrainehilfe, zuwanderungsbedingte Verpflichtungen, Tilgung großer Sonderschulden wie hinsichtlich Corona und Klimafonds), die zusammen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährden, ist eine zielorientierte Priorisierung unumgänglich.
Hieraus folgt: Aufwendungen zur Absicherung vor äußeren Gefahren müssen mit jenen zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und politischen Stabilität (Grundlagenforschung, Bildung, Infrastruktur, Wohnungsbau, Digitalisierung, Zuwandererintegration, Sozialpolitik) in ein rationales Verhältnis gebracht werden. Dies erfordert Augenmaß und kein Denken in überspannten Worst-Case-Szenarien.
Drittens: Ob es nach Abschmelzen der 100 Milliarden Euro-Sondermittel und nach Behebung der organisatorischen Mängel der Bundeswehr geboten sein wird, den deutschen Verteidigungshaushalt dauerhaft auf Zwei-Prozent-BIP-Niveau zu halten, der diesen nach IISS-Einschätzung zum drittgrößten der Welt machen würde21, wird sich erst im Licht der weiteren Entwicklungen beurteilen lassen.
Hierfür wird der Fortgang bzw. Ausgang des Krieges in der Ukraine der wichtigste Faktor sein. Wenn Deutschland immer wieder zu "Übernahme von mehr Verantwortung" aufgefordert wird, sollte sich dies auf die baldige Erreichung einer Verhandlungslösung richten, da die Bundesrepublik an einer solchen ein überragendes Interesse haben muss.
Entsprechende Signale sollten daher aufmerksam registriert und auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Wenn ein historisch überaus versierter Beobachter wie der mit Arbeiten zur Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs hervorgetretene Christopher Clark zu Verhandlungen aufruft, in denen Russland – "ähnlich der klugen Politik der Behandlung Frankreichs beim Wiener Kongress" – wieder in das Mächtesystem eingebunden wird, sollte dies zu denken geben.22
Der Artikel erscheint in Kooperation mit WeltTrends und wurde in der Magazinausgabe vom Januar 2024 veröffentlicht.
Hellmut Hoffmann, Botschafter a.D., geb. 1951, war von 1982 bis 2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland tätig, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Hoffmann war zudem von 2009 bis 2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.
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